Gregor
PANIKHERZ
eine Mutation unseres lebenswichtigsten Organs, nicht zu empfehlen
Jetzt
»Was zum Teufel schreibst du da?«
Mein Herz pochte heftig, als ich den Laptop reflexartig zuklappte. Ich spürte den Pulsschlag bis in die Fingerspitzen, doch Brenner schien nichts zu bemerken. In einer geschmeidigen Bewegung ließ er sich mit einem Energydrink mir gegenüber nieder. Dabei zuckte sein Blick abwechselnd zwischen meinem Laptop und meinem Gesicht hin und her.
Fuck, fuck, fuck.
Wie lange hatte er hinter mir gestanden? Wie viel hatte er lesen können? Was hatte ich überhaupt geschrieben?
Meine Oberschenkel zitterten. Meine Hände bebten. Ich wollte mit meinen Schuhsohlen auf den Boden klopfen, aber das hätte meine Nervosität nur unterstrichen.
Reiß dich zusammen. Erzähl irgendwas von einer Kurzgeschichte oder einer Schreibaufgabe. Ist doch egal. Aber bekomm endlich deinen Mund auf, damit du nicht wie ein bescheuerter Volltrottel vor dich hin stammelst, wie wär’s?
Ich hasste diese Stimme in meinem Kopf. Sie war nie müde, hatte immer eine Meinung und ständig etwas zu sagen. Es gab nur eine Sache, die sie lieber kommentierte als meine Texte – mich selbst.
»Beck?«
Meine Hände begannen zu schwitzen. Ich richtete mich auf und öffnete den Mund.
»Ich …«
Und dann brach ich ab, weil Brenner in schallendes Gelächter ausbrach.
»Oh Mann, du hättest mal deinen Gesichtsausdruck sehen sollen. Als hätte ich dich bei einer Straftat erwischt, für die es lebenslang gibt.«
Kichernd lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, während ich meine Atmung zu beruhigen versuchte. Allerdings funktionierte das nur so semi, weil ich aus dem Augenwinkel erkannte, wie sich ein paar andere Gäste nach uns umdrehten. Fantastisch. Das Coffee Gang hatte ich ausgewählt, da es keine zwei Minuten vom Campus entfernt war. Ich hatte mir nichts dabei gedacht. Ich war einfach eingetreten, weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen war und ich mich wie ein Versager fühlte, wenn mein Wortzähler nach achtzehn Uhr immer noch null anzeigte.
Notiz an mich selbst: Cafés auf Google suchen, die weit vom Campus entfernt sind und keine artsy Hipster-Vibes ausstrahlen.
»Sorry«, erwiderte ich heiser. »Ich war einfach voll drin.«
»Hat man gesehen.«
Als Brenner mit den Brauen wackelte, starrten alle nur noch ihn an. Sein Bartschatten wirkte dicht, für seine Schultern ging er garantiert pumpen. Er hatte genau die richtige Größe, sein Gesicht war normschön auf diese männlich-kantige Weise, die immer funktionierte. Beim Feiern wurde er sicherlich von betrunkenen Mädchen angesprochen. Und wenn er eine Schwester hatte, standen ihre Freundinnen auf ihn, weil Leander Brenner nun mal die Art von gut aussehend war.
Mich störte, dass ich mich so an diesen Gedanken aufhing, aber ich hatte nie herausgefunden, wie man damit aufhörte.
»Ich will dich auch gar nicht weiter stören. Dachte, ich sag eben Hi, bevor ich mich wieder in die Bib hocke.« Er schob den Stuhl zurück und wollte gehen.
Fuck.
Brenner war nett zu mir gewesen, hatte mich unter seine Fittiche genommen. Ich musste wenigstens versuchen, freundlich zu sein.
»W…was musst du machen?«, fragte ich also.
»Zu viel.« Seufzend fuhr er sich über das Gesicht. »Aber wahrscheinlich lese ich erst mal die Texte für mein Porträt.«
»Schreibst du eins für das Jubiläum?«
»Ja, genau. Das ist ’ne coole Abwechslung von meinen Drehbüchern und …« Leander brach ab, weil er sich an seinen eigenen Worten verschluckte. Blinzelnd sah er nach links.
Ich folgte seinem Blick, bevor jeder meiner Muskeln gefror. Ausnahmslos.
Lucy.
Lucy in Boots und Jeans und einem übergroßen Pullover. Lucy, nachdem sie mir gestern Abend auf WhatsApp geschrieben und ich immer noch keinen Schimmer hatte, wie sie zu meiner Nummer gekommen war. Ich beobachtete, wie der Barista ihr den naturfarbenen Bambusbecher reichte und sie ihn daraufhin anlächelte.
Scheiße.
Es war nur ein Lächeln. Aber bei Lucy war ein Lächeln nie nur ein Lächeln, sondern eine helle Miniexplosion in ihrem Gesicht. Dann leuchtete nämlich alles an ihr auf.
Ich hasste es, dass ich das dachte. Immerhin war ich garantiert nicht diese Kategorie romantisch.
»Kennst du sie auch?« Wie durch Watte drang Brenners Stimme an mein Ohr.
Meine Antwort war ein knappes Nicken, weil ich meiner eigenen Stimme gerade nicht traute.
Wieso läuft verflucht noch mal nichts nach Plan?
»Krass, woher? Hattest du auch mal was mit ihr? Sie, ähm, sie wollte gestern auch deine Nummer. Ich hoffe, es war okay, dass ich sie weitergegeben hab.«
»BITTE?«
Jetzt war ich derjenige, der zu laut sprach und die Aufmerksamkeit des Cafés für sich beanspruchte. Dass Lucy mich daraufhin ansah, spürte ich sofort. Wir waren mehr als zehn Schritte voneinander entfernt, doch ihr Blick kroch mir unter die Haut.
Erst jetzt erkannte ich, dass sie nicht allein war. Neben ihr stand eine Blondine, die ich schon auf dem Campus bemerkt hatte, weil sie alle bemerkten. Sie trug ihr Haar kinnlang, Leggins mit ausgestellten Beinen und immer einen passiv-aggressiven Ausdruck auf dem Gesicht. So wie jetzt. Nicht nur Lucys Blick, auch der ihrer Freundin klebte auf mir. Da wurde es mir klar. Brenner musste von ihr geredet haben. Sie war diejenige, die für Lucy an meine Nummer gekommen war. Schließlich musterte Brenner sie genauso wie ich Lucy. Ein bisschen ratlos, ein bisschen zu intensiv.
Augenblicklich legte mein Puls einen Sprint hin. Das war schon immer so gewesen, von Anfang an.
Vielleicht, weil sie hübsch war.
Vielleicht, weil sie mir einfach so hinterhergesprungen war.
Vielleicht, weil ihre grauen Augen sich vom ersten Moment an in mich hineingebohrt hatten.
Doch dafür wusste ich ganz sicher, dass ihre Musterung sich nun wie eine doppelte Menge geballter Abscheu anfühlte. Erst als sie mit ihrer Freundin den Ausgang ansteuerte, konnte ich wieder atmen.
»Äh, versteh das nicht falsch.« Brenner räusperte sich. »Aber was hast du angestellt, dass Lucy und Tillie dich so ansehen, als wollten sie dich bei Squid Game anmelden?«
Ach, nichts Wildes. Hab bloß ein Herz gebrochen und bin mir selbst dabei irgendwie abhandengekommen, das Übliche.
»Keine Ahnung. Ich kenne Lucy flüchtig.«
Eine weitere Lüge, die mir so leicht über die Lippen ging, dass es besorgniserregend war. Aber wer hätte sich schon Sorgen um mich gemacht? Ich war nur eins von tausend jämmerlichen Arschlöchern.
Niemand interessierte sich für mich.
»Ah, verstehe.« Er kippte den Kopf. »Kennst du eigentlich auch ihren Insta? @thegirlnextdoor?«
»Nein«, sagte ich zu leise. »Noch nie von gehört.«
»Echt nicht? Tillie, Amanda und Lucy sind doch richtig bekannt dafür. Ich dachte, wenn du Lucy kennst, kennst du auch den Kanal?« Als Brenner diesmal die Stirn runzelte, brach er nicht in schallendes Gelächter aus.
In meiner Vorstellung war es der Moment, in dem er realisierte, dass mit mir etwas nicht stimmte.
Die Eins über dem Mail-Icon stach mir verhöhnend entgegen.
Wassertropfen fielen von meinen Haarsträhnen auf das Display, während meine Finger krampften. Sohlen von Badelatschen knallten auf den Boden und der Geruch von Chlor hing mir in der Nase. Wenn ich mich konzentriert hätte, hätte ich das Kindergeschrei vom Planschbecken hören können. Doch das war mir nicht möglich. Mein Fokus lag lediglich auf dem roten Symbol, während mir übel wurde. Mein Daumen schwebte weiterhin über der App, mir wurde noch schlechter und … nein. Ich konnte das jetzt einfach nicht. Mit pochenden Schläfen steckte ich das Handy zurück in die Sporttasche.
Der Tag war also noch nicht fertig mit mir. Brenner, Lucy, die Mail. Wieso kam es mir so vor, als wäre ich schon drei Jahre lang wach? Es waren nicht einmal vierzehn Stunden, verdammt.
Zehn Minuten später stürmte ich raus in Richtung Haltestelle. Sieben Minuten noch, dann würde meine Bahn einfahren. Es war kalt draußen. Fest rieb ich mir die Handflächen an der Jeans. Wieso hatte ich es überhaupt für eine gute Idee gehalten, meine Sachen zu packen und ins fucking Aqualand zu fahren? Das war Zeitverschwendung, die ich mir nicht erlauben konnte, selbst wenn ich Edwin Rosens Verschwende deine Zeit immer auf volle Lautstärke drehte. Ich konnte keine drei Stunden damit verplempern, Bahnen zu ziehen und zu hoffen, mein Herzschlag würde sich beruhigen.
Dein Manuskript. Erinnere dich an dein Manuskript, Mann.
Wahrscheinlich bestand das Problem darin, dass mein Kopf alles überdramatisierte. Er vergaß, dass ich kein professioneller Autor war. Ich war bloß ein Masterstudent für Kreatives Schreiben, der von Berlin nach Köln gewechselt war. Und ja, leider war ich komplett mit meinem Leben überfordert und deshalb eine Runde schwimmen gewesen. Und ja, leider verhöhnte mich die rote Eins an meinem Mailpostfach weiterhin. Und ja , leider ging das Mädchen mit den grauen Augen an dieselbe Hochschule wie ich.
Das Mädchen mit den grauen Augen.
Es war unendlich lange her, dass ich sie zuletzt so bezeichnet hatte. Aber ich konnte meinen Kopf die Abzweigung in Richtung Vergangenheit nicht weiter nehmen lassen. Nach Ablenkung suchend kramte ich einen schweineteuren Proteinriegel aus der Hosentasche, weil das die einzigen waren, die ganz okay schmeckten. Ich riss die Verpackung auf, bevor ich das Handy mit der anderen Hand doch wieder hervorkramte und tippte. Es war das, was ich seit Stunden hatte vermeiden wollen. Der Grund, weshalb ich sogar drei Stunden in einem Hallenbad mit nervtötendem Kindergeschrei verbracht hatte.
Kennst du auch ihren Insta?
Ich gab @thegirlnextdoor auf Google ein.
Der besagte Instagram-Account wurde mir als Zweites vorgeschlagen, darüber fand ich die Website zu einem Blog. Ich übersprang die neuesten Einträge, bis ich den Reiter About Us erreichte, wo mir ein Foto entgegenprangte. Es zeigte Lucy, die Freundin, mit der sie heute im Café gewesen war, und eine Fremde. Wie hatte Brenner sie genannt? Tillie und Amanda? Gemeinsam posierten sie in einem Raum mit weißen Wänden. Tillie trug eine weite lederartige Hose und vergrub die Hände lässig in den Taschen. Amanda hob ihren rechten Mundwinkel in einem Overall oder wie man das auch immer betitelte. In der Mitte entdeckte ich Lucy. Ihre Lippen waren dunkel geschminkt, das Kleid nachtblau und mit einem V-Ausschnitt versehen. Ich musterte ihre Docs, dann ihr Gesicht. Das Kinn hatte sie leicht hochgezogen, wobei ihr Ausdruck entschlossen wirkte. Sie besaßen unterschiedliche Frisuren und sahen sich auch sonst überhaupt nicht ähnlich, doch dieses gewisse Etwas hatten sie gemeinsam. Es war, als hätte man sie in einen Topf mit modernen Filtern getunkt und sie mit einer edgy Prise Zielstrebigkeit vollendet.
Mein Blick wanderte weiter nach unten, ehe ich auf die Beschreibung stieß.
Stell dir vor, du lernst ihn kennen. Und es ist wie im Film. Er sieht gut aus, ist zuvorkommend, die genau richtige Mischung aus mysteriös und verletzlich. Er gibt dir seine Shirts von Asos zum Schlafen und will dich auf jede seiner Leinwände bringen. Er ist wie Leo in Titanic und zeichnet dich mit anzüglichem Blick. Eigentlich wolltest du ihn gar nicht mögen, doch plötzlich nennst du ihn Idiot und grinst danach, weil du ihn derart magst. Er wird Bestandteil deines Lebens mit seinen Herz-Emojis, die jetzt ständig in Kombination mit seinem Namen auf deinem Handy aufblinken. Jeder kitschige Chartsong erinnert dich an ihn und du kannst eure Treffen kaum erwarten. Sie sind nämlich immer aufregend, magisch und ein bisschen künstlerisch-dramatisch, genau so, wie du es magst. Im absolut richtigen Moment sagt er dir, wie sehr er dich liebt. Und du bist glücklich. Schließlich hast du den Beweis dafür gefunden, dass nicht jedes männliche Wesen ein herzloses Arschloch ist. Aber dann stell dir vor, er sagt dir, dass er dich einfach nicht länger fühlt. Plötzlich, aus dem Nichts und völlig zusammenhangslos. Laut ihm bist du nämlich nicht mehr als das nette Mädchen von nebenan. Tragisch, oder? Uns, Tillie, Manda und Lucy, ist genau dasselbe passiert. Mit derselben Ausrede. Und mit demselben Typen. Als wir das herausgefunden haben, ist aus unserer gemeinsamen Wut die Idee zu unserem Blog entstanden.
Zwei Jahre später ist @thegirlnextdoor zu einer digitalen Marke herangewachsen, die für feministische Werte und Self-Empowerment steht. Sei auch du ein Teil unserer Community!
Will.
Künstler, Leo in Titanic , anzüglicher Blick. Sie mussten von Will sprechen.
Er war so … keine Ahnung. Er war einfach nicht von dieser Welt? Es war wie im Film, Gregor.
Ein kalter Schauder lief mir bei dieser Erinnerung über den Rücken, doch ich wollte auch in ihr nicht versinken. Ich würde garantiert nicht weiter darüber nachdenken, wie Noch-grauere-Augen-Lucy mir damals von ihm erzählt hatte. Hastig klickte ich zurück und wollte den Verweis auf ihren Instagram-Account antippen, kam allerdings nicht so weit.
Ein Anruf erschien auf meinem Display.
Beinahe schmerzhaft vibrierte das Gehäuse zwischen meinen Fingern. Mit einem Kloß im Hals musterte ich die nicht eingespeicherte Nummer und den Ort darunter.
München, Deutschland.
»Ja?«, murmelte ich keine zwei Sekunden später natürlich trotzdem.
»Hallo, Olga hier. Ich weiß nicht, ob du meine Mail schon gesehen hast, aber ich dachte, ich rufe dich einfach mal an. Wie geht es dir denn? Hast du dich schon gut in Köln eingelebt?«
»Ähm, klar.« Ich klang lächerlich heiser. »Alles super.«
»Großartig, großartig, das freut mich. Und wie sieht’s aus, hm? Bist du mit dem Manuskript weitergekommen?«
Die Gleise quietschten. Neben mir umarmten sich zwei Fremde in identischen Lederleggins, bevor die linke den Heimweg antrat. Ich hingegen begutachtete die einfahrende Tram – meine Tram –, während ich ganz still stand und mein Herz pochte und pochte und pochte.
Nein, nein, machen Sie sich keine Sorgen, Herr Beck. In dem Langzeit-EKG war alles in Ordnung. Sie haben einfach ein nervöses Herz, das ist alles.
Wie es aussah mit dem Manuskript?
Tja, Olga, in den letzten Wochen habe ich von unseren vereinbarten hundertfünfzig Seiten gerade mal vierunddreißig geschafft.
Meine Agentin liebte meinen Plot – ich hatte keine Ahnung von meinem Plot. Ich brauchte Informationen, aber alles lief schief. Wenn man es genau nahm, hatte ich eigentlich gar nichts. Nur das Bild von Lucy, die mich so ansah, als würde sie mich mit ihrem Killerblick zuerst aufschlitzen und dann ertränken wollen.
»Okaaay«, meinte Olga gedehnt. »Ich interpretiere dein Schweigen mal als eher weniger gut. Mach dir keinen Stress. Ich lasse mir für die Verlage was einfallen. Schreib einfach weiter, das kommt noch. Alle lieben deinen Text. Mich übrigens eingeschlossen. Manchmal lese ich mir den Anfang durch, einfach, weil ich ihn so schön finde. Der erste Satz kriegt mich jedes Mal aufs Neue. Kalt, was? Ich …«
Ich hörte nicht mehr zu. Ich hörte bloß, wie die Tramtüren sich vor meiner Nase öffneten, ohne dass ich einstieg. Ich konnte nicht, fühlte mich wie festgefahren. Meine Agentin laberte und laberte, weil sie dachte, es würde mich motivieren. Garantiert machte sie mir tausend Komplimente, doch jedes einzelne prallte an mir ab. Ich war wie Wasser, alles in mir ging unter.
»Ich liebe es so«, sagte Olga und ich wusste nicht, wovon sie sprach.
Ich erinnerte mich nur an Berlin und Lucy, diesen schäbigen Klassenraum und meine lächerlich schwache Stimme dazwischen.
Kalt, was?