Kapitel

Gregor

KUMMER

1. Schmerz
2. KUMMER

Jetzt

Mit zitternden Fingern klappte ich den Laptop zu.

Es gab keinen Knall. Im Grunde gab es überhaupt kein Geräusch. Und trotzdem zuckte ich zusammen. Meine Kehle fühlte sich so trocken an, dass ich es auf dem Küchenstuhl nicht mehr aushielt. Raketenruckartig erhob ich mich. Ich schnappte mir den Shaker mit Iso-Clear aus dem Kühlschrank und kippte es in fünf schnellen Zügen. Doch es nützte nichts. Meine Hand umklammerte das leere Plastikgefäß bebend, dabei sollte ich glücklich sein.

Sechsunddreißig Tage und der Fluch war gebrochen. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte ich mehr als zwei Sätze getippt.

Schmeiß eine Party, Beck. Ein waschechter Erfolg. Nein, warte, geht nicht, du hast ja keine Freunde, haha.

Wieso konnte die Stimme nicht ihre Fresse halten? Wenigstens konnte sie mich von der Szene ablenken, die ich gerade geschrieben hatte, ausgegraben aus der Vergangenheit.

Fuck.

Ich dachte nicht nach, als ich nach der Sporttasche griff. Alles passierte automatisch. Wie ich den Reißverschluss zuzog, in die Schuhe schlüpfte und die Tür abschloss. Draußen steckte ich mir die drahtlosen Kopfhörer in die Ohren und drehte KUMMER auf. Es war Rap, eindringlich, aggro und überraschend gut getextet.

Er war der einzige Rapper, den ich mir geben konnte.

Ich spürte, wie mein Handy auf dem Weg zu meinem Ziel vibrierte. Ich wusste, es war Isa, doch als ich den Bildschirm entsperrte, enttäuschte ich mich selbst. Meine Intuition war am Arsch und unsere Zwillingstelepathie wahrscheinlich sowieso nie vorhanden gewesen. Die eingegangene Nachricht stammte nicht von meiner Schwester, sondern war eine Mail von meiner Agentin. Der Betreff lautete Wasserstandabfrage .

Wie kreativ, um zu erfragen, wie lost ich heute mit meinem Text bin, Olga.

Ich öffnete sie nicht, hatte ein Ziel, musste runterkommen und dann weitersehen. Fünf Minuten später erblickte ich endlich das orange leuchtende Schild meines Fitnessstudios. In Rekordgeschwindigkeit scannte ich mich ein, schmiss mein Zeug in einen Spind und bemerkte erst dann, dass ich mir nicht einmal eine Jacke übergezogen hatte. Ich war krank und würde noch kranker werden. Geil. Hastig sprang ich in die Nikes und dann auf das nächste Laufband. Am liebsten wäre ich schwimmen gegangen, doch zum Fitnessstudio ging es schneller und gerade brauchte ich alles sehr, sehr schnell.

Ich joggte zehn Minuten mit zwölf Prozent Steigung, länger tat ich es nie, weil I’m saving the gains . Im Freihantelbereich brachte ich jeden meiner Muskeln zum Brennen. Instinktiv drehte ich die Musik auf und bereute es gleich im nächsten Moment. Denn das Problem an Anti-Gute-Laune-Musik war, dass du dich nicht einfach von ihr berieseln lassen konntest. Gute Texte zogen immer an dir. Wenn du Glück hattest, fanden sie dich sogar im richtigen Moment.

Aber ich hatte kein Glück.

Ich hatte ein Karmakonto, das minus dreitausenddreiundzwanzig betrug.

Meine Beine gaben nach, als diese ganz bestimmte Refrainzeile in mich einsickerte.

Keuchend schweifte mein Blick über den Freihantelbereich. Es roch nach Schweiß, Gummi und Süßungsmitteln. Muskelpakete in dünnen Tanktops gingen stöhnend in Kniebeugen und stemmten dabei Gewichte, die ich nicht einmal in meinem nächsten Leben anfassen würde. Sie aßen zweihundert Gramm Protein am Tag, rührten Magerquark mit Wasser cremig und kauften Shirts prinzipiell eine Nummer zu klein, um ihren Bizeps zu betonen. Sie waren gebräunt, ihre Frisuren perfekt getrimmt. Wenn sie Selfies vor der riesigen Spiegelwand schossen, konnten sie diese bei Love Island einreichen, um sich als Granate zu bewerben. Außerhalb meiner Ohren lief garantiert ein Song mit schnellem Beat. Doch ich begegnete bloß meinem eigenen Blick im Spiegel. Der Typ mit den verschwitzten Locken und hochroten Wangen fragte mich, was ich hier tat.

Das ist nicht deine Welt.

Du gehörst hier nicht her.

Felix Brummer schrie mir ins Ohr. Das Handy in meinen Fingern brannte, als hätte es zu lange in der Sonne gelegen und würde nun überhitzen. Apple schickte mir allerdings keine Warnung, schließlich war das alles nur in meinem Kopf, der gleich mit einhundertprozentiger Wahrscheinlichkeit explodieren würde. Peng , Peng , Peng , lichterloh und matschig, in all den graugrausamen Farben meiner Lucy-Gedanken.

Da hielt ich es nicht mehr aus.

Scheiß drauf.

Ich war der verblendete Idiot, der inmitten eines FIT X seine Notizen öffnete und zu tippen begann. Im Grunde war es alles, was ich gewollt hatte. Wonach ich in den letzten Wochen gesucht hatte. Dieser Drive. Der Drang. Dieses Ich-explodiere-wirklich -wenn-ich-nicht-jetzt-sofort-schreibe-Gefühl. Olga wäre stolz auf mich.

Während ich tippte, verschwammen die Nikes, Hanteln und Fitnessmenschen zu einer Masse. Die Welt wurde unscharf, wässrig und salzig. Letzteres schmeckte ich sogar auf meinen Lippen. Vielleicht war es der Schweiß, vielleicht die ungeweinten Tränen. Es interessierte mich nicht. Ich nahm bloß einen letzten Atemzug und tauchte unter.

Ich tippte und tippte und ging immer weiter unter.