Kapitel

Lucy

NEIN

das Wort, das ich nie richtig gelernt habe

»Ich wusste, dass du noch auftauchst!«

Tillie schloss mich in die Arme, sobald sie mich im Tumult erkannt hatte. Der Abend im Studio 69 war bereits voll im Gange. Unzählige Hände umklammerten Astras und Fritz Kolas, während der Beat mir in den Ohren dröhnte. Gleich würde unsere Kommilitonin Amira auflegen, deshalb waren Tillie und ich hier. Manda hatte auch kommen wollen, doch musste arbeiten, dabei liebte sie die Studentenkneipe vor allem an den Comedy-Abenden, die monatlich veranstaltet wurden. In unsere Gruppe hatte sie daher ein Selfie von sich in Baruniform geschickt, die Lippen ein rot glänzender Schmollmund.

Ich hatte mich noch nicht einmal aus der Jacke geschält, da befand ich mich bereits mittendrin.

»Natürlich!«, rief ich. »Hab dir doch geschrieben.«

»Ja, aber du wolltest schon vor einer Stunde hier sein?«

»Hab ein bisschen länger für die Sonntagsfrage gebraucht. Wollen wir uns was zu trinken holen?«

Keine drei Minuten später standen wir an der Theke. Der Typ dahinter kannte uns, grüßte, lächelte und laberte uns zu. Wovon er genau sprach? Keine Ahnung. Ich wusste bloß, dass wir die Köpfe in den Nacken legten und scharfen Schnaps kippten. Anschließend wischte ich mir über den Mund. Meine Beine kribbelten. Menschen tanzten und wirbelten zu Provinz umher. Es war derselbe Moment, in dem ich seinen Blick auf mir spürte.

Links am Ecktisch saß er da, umgeben von Leander und Co., in einem seiner scheißschlichten Pullover mit seiner Scheißpräsenz. Er war nicht extrovertiert, kein Bro mit Handschlag und ansteckendem Lachen. Er war still und intensiv, beides auf Königsklassenlevel. Und anziehend. Oh Himmel, wieso war er nur derart anziehend?

»Samsa da drüben hat dich irgendwie gesucht«, murmelte Tillie, weil sie mein Starren natürlich bemerkt hatte.

Meine Wangen brannten instinktiv lichterloh.

»Gregor«, fügte sie hinzu. »Er wollte irgendetwas von dir. Hat mir Brenner vorhin an der Bar gesagt.«

»Egal«, sagte ich, um mich selbst davon zu überzeugen.

In den nächsten Minuten wurde Vincent Waizeneggers Stimme von Betterov abgelöst, bevor Bekannte zu einem Remix von Easy umhersprangen. Ein Lied, das nur so vor dem Wort Sorry strotzte. Dabei wollte ich nicht an Rewe-Romeo denken, sah es aber irgendwie als Zeichen, ihm endlich zurückzuschreiben. Mir egal, dass es mitten in der Nacht war. Wenigstens blieb ich ihm so keine Antwort schuldig. Ganz anders als er mir.

Hey, tut mir leid für die späte Rückmeldung, aber ich wollte dir in Ruhe schreiben. Für mich ist die Sache leider abgeschlossen. Ich hoffe, du verstehst das

Meine Nachricht war geflunkert. Die späte Rückmeldung tat mir nicht leid und ich schrieb ihm auch nicht in Ruhe.

Trotzdem war Tillie damit zufrieden. »Mehr, als er verdient«, erklärte sie.

Und dann war da natürlich noch Gregor. Angeblich wollte er etwas von mir, saß allerdings bloß neben Brenner passiv am Rand.

Mittlerweile legte Amira auf. Tillie, ich und ein paar unserer Kommilitoninnen bewegten uns gemeinsam auf der Tanzfläche. Es war Techno wie in Berlin, hypnotisch und zeitlos. Beats pumpten durch die Luft, während Gläser klirrten. In meinem Mund schmeckte es bittersüß nach Gregors Namen, wann immer ich seinen Blick auf mir spürte.

Gre-gor, Gre-gor, Gre-gor, was willst du nur von mir? Zum zweiten Mal?

Plötzlich zupfte mir jemand am Shirt und ich drehte mich um, aber es war nicht irgendjemand. Tillie starrte mich schluckend an, das Handy in der Hand. Weißgelb leuchtete es zwischen ihren Fingern auf. Ich erkannte die Uhrzeit. 01:21  Uhr.

»Ich muss gehen!«, schrie sie mir ins Ohr.

»Was ist passiert?«

Sie schüttelte den Kopf. »Meine Schwester braucht mich.«

»Cleo?«

»Delia«, verbesserte sie.

Tillie hatte genauso viel getrunken wie ich, doch als sie den Namen ihrer jüngeren Schwester aussprach, klang sie mit einem Mal stocknüchtern. »Das Sandwichgeschwisterteil wird gebraucht«, murmelte sie.

»Ich komme mit.«

»Nah.« Lässig winkte sie ab. »Das ist lieb, aber wirklich nicht nötig. Cleo hat geschrieben, dass Delia in meinem Bett liegt und heult. Ich tippe auf Streit mit ihrer aktuellen Freundin und Mama. Die Kombi bringt sie meistens dazu, von zu Hause auszureißen und sich in unsere WG einzuquartieren. Vorzugsweise in meinem Bett, weil es nicht nach dem penetranten Parfum eines Freundes riecht. Sie braucht nur ein Tillie-löst-alle-deine-Probleme-Gespräch. Ich sage ihr, dass ich sie gewarnt habe, dann schneit Cleo herein, um ihr zu erklären, dass Kommunikation wichtig ist, womit sie recht hat, ich nicke und Delia schläft ein. Wenn ich genauer darüber nachdenke, möchte ich keine zwanzig Euro für ein Uber bezahlen. Aber da muss ich wohl durch, weil #geschwisterliebe.«

Tillie schnaubte ironisch, bevor sie die Uber-App öffnete. Ich wollte protestieren, sie nicht allein und schon gar nicht allein gehen lassen. Aber während ich sie nach draußen begleitete, schmetterte sie jedes meiner Hilfsangebote übereifrig ab.

»Schreib sofort, wenn du da bist«, wies ich sie an, als sie in den metallgrünen Polo stieg. »Oder wenn ich dir doch noch irgendwie helfen kann.«

»Natürlich«, erwiderte sie ernst. »Du aber auch, sobald du zu Hause bist. Und sag Amira, es tut mir leid, dass ich nicht bis zum zweiten Teil ihres Sets bleiben konnte.«

»Versprochen.«

Tillie lächelte mich an, doch etwas setzte sich unbestreitbar traurig in mir fest, als ihr Uber heulend hinter der Ecke verschwand. Traurig, schwarz und teerig. Ich spürte die Schwere schrecklich stark in meiner Brust. Als würde sie eine Faust ballen, mein Herz und mich gleich mit dazu erdrücken, während die Menge hinter mir randalierte.

Ich bin so traurig , dachte ich und wusste nicht, was mich dazu brachte, mich selbst noch heftiger zu bemitleiden. Ich war ein zwanzigjähriges deutsches Mädchen, durchschnittlich attraktiv, privilegiert bis zum Gehtnichtmehr. Und grundlos traurig. Weiblich , weiß und weinerlich hatte einmal eine Userin unter einem meiner Videos kommentiert.

Reiß dich zusammen, Wagner. Geh wieder rein, tanz ein bisschen zum Beat, dann hau ab. Was ist so schwer daran? Es gibt keinen Grund für deine plötzliche Traurigkeit. Du hast nur zu viel gekippt, Waldgeist macht dich einfach melodramatisch. Du bist nicht …

»Du wirkst so traurig.«

Als diese Stimme in meine Ohren kroch, zuckte ich zusammen. Im ersten Moment war ich mir sicher, sie wäre Einbildung. Doch da bemerkte ich den Typ, der ein Radler mit der Hand umfasste und in das Laternenlicht torkelte. Das aschblonde Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, die Nike Airs wirkten verschmutzt. Seine Beine steckten in Skinny Jeans, während um seine aufgepumpten Schultern der Stoff eines Markenlogosweaters spannte. Er war ein paar Zentimeter größer als ich. Vielleicht eins fünfundsechzig.

»Traurig?«, wiederholte ich.

»Ein bisschen.« Mit einem verschmitzten Grinsen scannte er mich ab. »Und süß. Definitiv süß.« Sein Grinsen wurde noch breiter und ich realisierte, wie betrunken er war. Dabei war ich es auch, doch ich war melodramatisch und er aufdringlich. Noch näher rückte er an mich und berührte mit seinem Ärmel so offensichtlich meinen, dass es kein Zufall sein konnte.

»Wie heißt du?«, fragte er und ich lächelte gezwungen.

Im Grunde wurde ich nur selten angesprochen. Ich war immer diejenige, die unbeholfen auf ihrem Handy herumtippte, wenn ihre Freundin an einer Bushaltestelle von einem Idioten zugetextet wurde. Doch heute war es anders. Und ich wollte das nicht. Was war erstrebenswert daran, von einem Typ zugequatscht zu werden, der redete, obwohl du nichts erwidertest? Der Typ sprach weiter, ohne dass ich antwortete. Er nannte mir seinen eigenen Namen, wollte wissen, was ich so trieb, nur um mir erzählen zu können, welche krasse Privatuni ihm seine Eltern finanzierten. Alexander wollte meine Antworten nicht, sondern meine Aufmerksamkeit. Das war ein Unterschied.

Liebe Lucy, wieso gehst du nicht einfach?

Doch mein Gehirn und ich ignorierten die Stimme, weil wir Glaubenssätze verinnerlicht hatten, die Mütter von ihren Müttern übernahmen, über Generationen hinweg.

Liebe Lucy, wieso bringen wir Frauen bei zu lächeln, wenn sie sich unwohl fühlen? Liegt es vielleicht daran, dass wir Frauen beibringen, ihr Unwohlsein sollte niemand anderen beeinträchtigen? Aber bringen wir Frauen nicht auch bei zu lächeln, wenn sie einen Mann attraktiv finden?

»Du …« Er leckte sich über die Lippen. »Du gefällst mir übrigens.«

Als er mir gleich darauf noch näher rückte, trat ich einen nervösen Schritt zur Seite. Doch er missverstand meinen Versuch von Abstand und glaubte, sich nun noch mehr ins Zeug legen zu müssen.

Liebe Lucy, WIESO ZUM TEUFEL KÖNNEN MÄNNER KEINE KÖRPERSPRACHE LESEN?

»Dein Style ist echt cool.«

Ich trug eine normale Jeans und ein normales Oberteil, dunkel und unauffällig. Ich sagte nichts.

»Und ich liebe es, dass du so klein bist. Wirklich supersüß.« Sein Blick schoss von meinen Augen zu meinem Mund. Ich wollte gehen, rennen und meinen Namen gegen eine neue Persönlichkeit eintauschen, die ein Nein, bitte geh über die Lippen brachte. Aber das war Wunschdenken und Wunschdenken funktionierte nicht. Ganz egal, wie viele Moodboards ich auf Photoshop anfertigte.

Echt war bloß die Hand von diesem fremden Alexander-von-Alkohol-Typen, die ungeschickt nach meiner griff. »Hast du Lust, um die Ecke oder so zu gehen?«

Sofort löste ich mich aus seiner unerwünschten Berührung. Ich hatte keine Angst. Ich glaubte nicht, dass er mich bedrohte. Ich glaubte nur, dass er voll und notgeil war, mochte, dass ich kleiner war als er, und dachte, wir führten ein gutes Gespräch, weil ich ihm zuhörte. Wenn ich Nein sagte, würde er gehen. Ich wusste es.

Liebe Lucy, wieso sagst du dann nicht endlich Nein?

Nein. Vier Buchstaben. Was war so schwierig an ihnen? Wieso brachte ich sie nicht über die Lippen? Und wieso zum Teufel brannte es plötzlich hinter meinen Lidern?

»Hey, Mann.«

Nein.

Alles in mir erstarrte, während mein neues Mantra immer lauter wurde.

Nein, nein, nein, nein, nein, nein.

Als ich Gregor im Türrahmen erkannte, knirschten meine Zähne. Mein Blick wanderte von seiner Jeans zu seinem Hoodie – ohne Markenlogo – bis hin zu seinen wild abstehenden Locken. Wenn ich genauer darüber nachdachte, wirkte Gregor wie jeder andere Typ auch. Nur in meinen Augen war er anders. Nur mein Herz machte ihn besonders.

Diese verfluchten Herzgründe.

»Ich glaube, Lucy findet es nicht so geil, wenn du ihre Hand nimmst.« Gregor trat näher. »Sie versucht die ganze Zeit, von dir …«

»Du heißt Lucy?«, fragte Alexander, doch es war egal, weil meine Hände Fäuste ballten. Wäre ich taff und cool, hätte ich Gregor entgegengebellt, dass ich keinen verfluchten Retter brauchte. Aber eine meiner kontinuierlichen Sorgen blieb die, als hysterisch betitelt zu werden.

»Ich glaube, jemand hat nach mir gerufen«, sagte ich daher bloß, obwohl es nicht stimmte.

»Hä?«, machte Alexander zu Recht.

Ich drehte mich allerdings schon um, stolperte über das fleckige Bordsteinpflaster zurück ins Innere. Beats pumpten durch die Luft, mein Herz rannte. Hastig blickte ich mich um und versuchte, Orientierung zu erlangen, was mir schwerfiel, weil Fremde mir entgegenlächelten und ich Gregors Blick in meinem Rücken spürte und Alexanders hochverwirrtes Hä? in mir nachechote und meine Augen brannten und ich wirklich, wirklich, wirklich nicht verstand, wieso.

Unkontrolliert wirbelten meine Gedanken umher. Plötzlich spürte ich diesen Druck auf der Brust. Atmen fiel mir schlagartig schwerer.

Nein, nein, nein.

Liebe Lucy, wieso kannst du jetzt plötzlich Nein sagen?

Verdammter Mist. Ich brauchte Luft, dabei war ich gerade draußen gewesen. Als jemand meine Schulter streifte, zuckte ich heftig zusammen. Zitternd atmete ich durch, bevor meine Füße sich wie von selbst in Richtung Waschräume bewegten.

Mit bebenden Beinen drückte ich wenig später die Türklinke nach unten, schloss mich in den Toilettenraum ein und ließ den Kopf im Stehen gegen die Fliesen sinken. Ich schloss die Augen, spürte, wie das Brennen hinter meinen Lidern immer dringender und drängender wurde. Und gab nach. Heißkalt segelte eine Träne an meiner Wange hinab. Ich heulte keinen Ozean, keine Flüsse und ganz sicher keinen See. Nur eine einzige Träne erlaubte ich mir. Sie schmeckte nicht salzig, als sie an meinem Mundwinkel hängen blieb. Da war nur der Geschmack nach erbärmlichem Selbstmitleid. Und bitterer Wut. Wut auf Männer. Und Wut auf mich selbst.

Erst dann kam das Klopfen.