Kapitel

Lucy

ALL TOO WELL (10  MINUTE VERSION)

in meiner Sprache: Ein Meisterwerk in Gregors Sprache: Schadensbegrenzung

»Lucy?«

Ich erstarrte. Nicht da , hätte ich beinahe geantwortet. Hat sich in ihren Gedanken verirrt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal oder hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton. Doch niemand sprach noch eigene Anrufbeantworternotizen ein.

»Gregor«, erwiderte ich gepresst. In meiner Vorstellung sickerte die unterschwellige Ablehnung in meiner Stimme hindurch. Aber wahrscheinlich war das wie mit meiner Körpersprache, die in meinen Augen auch immer eindeutig war. Signale, die man verbiegen konnte, wie es einem gerade passte.

Sie neckt dich nur, weil sie dich mag. Harte Schale, weicher Kern. Wenn sie Nein sagt, meint sie Ja. Das ist das Einmaleins der Frauen.

Etliche Frauenmagazine predigten auch das. Geben Sie nicht zu schnell nach, spielen Sie mit ihm, machen Sie sich rar, lassen Sie ihn kämpfen, seien Sie auf gar keinen Fall einfach zu haben. Schade, dass sogenannte Datingexperten diesen Aberglauben verbreiteten und unser Konsens dabei abhandenkam.

»Lass mich rein.«

»Was?«, krächzte ich. »Ich verschließe mich in einem Toilettenraum und du verlangst, dass ich dich reinlassen soll?«

»Könntest du mich bitte reinlassen?«, schrie er gegen die Musik an.

»Ich pinkle.«

»Wirklich?«

»Hast du mir gerade ernsthaft abgesprochen, dass ich pisse?« Ich schnaubte. »Wow, das ist ja ein ganz neues Level an Ich-glaube-nichts-was-Frauen-sagen-weil-sie-Frauen-sind.«

»Was hat das bitte damit zu tun? Du wurdest vor wenigen Minuten von einem Typen belabert, mit dem du offensichtlich nicht reden wolltest, und flüchtest dann, wobei du – ebenfalls offensichtlich – versucht hast, nicht zu weinen.«

Meine Zähne pressten sich so fest zusammen, dass sie knirschten. Gott, ich war zu betrunken hierfür. Und zu wütend. Und zu traurig. Und viel zu Anti-Gregor.

»Du hast dich eingeschlossen, um allein zu sein«, schob er hinterher. »Ich glaube allerdings nicht, dass du das in diesem Moment sein solltest.«

Instinktiv schüttelte ich den Kopf, so sauer machte er mich, selbst wenn ich ihm nicht in sein verfluchtes, wunderschönes und nicht standardmäßiges Gesicht sah. »Und ich glaube, dass du dich verziehen solltest. Ich will deine Hilfe nicht. Wir leben in der Gegenwart, Gregor. Selbst die Liebesromane, in denen Frauen von Männern gerettet werden, interessieren niemanden mehr. Also, wie wär’s, wenn du das nächste Mal deine Klappe hältst, wenn ich mich mit jemandem unterhalte und nicht möchtegernheldmäßig dazwischengrätschst, hm?«

»Ich weiß, dass … Autsch, verdammte Scheiße!« Er unterbrach sich fluchend, kurz nachdem es hinter der Tür lauter wurde. Vielleicht war eine Gruppe an ihm vorbeigelaufen und er war angerempelt worden. »Kannst du mich bitte reinlassen?«, kam es kurz darauf von ihm.

Ich hätte Nein sagen sollen. Oder noch besser: Ich hätte schweigen und ihn in der Luft hängen lassen sollen. Das wäre Karma gewesen. Aber ich stellte ihn mir vor: Gregor, keinen Schritt von mir entfernt, mit seiner beschissenen Männerhand über der Damentoilettentürklinke.

»Bitte, Lucy. Nur kurz? Ich mache mir wirklich Sorgen.«

Ich wurde schwach, drehte das Schloss und pinnte eine innerliche Notiz an mein Gehirn-Board. Sie besagte, dass das Türöffnen dem Alkohol zu schulden war. Das machten Shots doch mit einem, oder? Kleidung fiel zu Boden. Gedanken stolperten ungefiltert aus Mündern. Man öffnete Exfreunden die Tür.

Doch Gregor trat unverzüglich ein, sodass ich mich zwangsläufig auf ihn konzentrieren musste. Ballernde Beats wehten in die Einzeltoilette, während er die Tür schloss. Schlagartig lud der Raum sich mit ihm auf. Ich spürte ihn, ich spürte mich und ich spürte leider viel zu viel zwischen uns. Als er sich dann noch räusperte, kroch mir der Laut in Schallwellen unter die Haut.

»Hat er irgendetwas gemacht?«

»Gott, nein«, erklärte ich sofort. »Er war nervig und betrunken, aber harmlos. Ich war einfach unfähig, ihm zu sagen, dass ich kein Interesse an einem Gespräch habe.«

»Man hat dir sogar aus zehn Metern Entfernung angemerkt, dass du keine Lust auf die Unterhaltung hattest.« Skeptisch verzog Gregor die Brauen. »Und hat er nicht sogar nach deiner Hand gegriffen?«

»Er war halt drunk.« Sobald die Worte meinen Mund verlassen hatten, bereute ich sie. Denn die Liebe-Lucy- Stimme meldete sich sofort: Liebe Lucy, wieso erfindest du Entschuldigungen für wildfremde Typen?

»Oder ich bin halt einfach zu nett«, fügte ich leise hinzu.

Gregors Schweigen interpretierte ich als Zustimmung, während ich einen zögerlichen Blick in den Wandspiegel gegenüber von mir wagte. Meine Augen waren so glasig und riesig, dass mein Gesicht nur aus ihnen zu bestehen schien. Vorausgesetzt, da wäre nicht die schwarze Wimperntuschenspur gewesen. Wie ein blasses Tattoo schlängelte sie sich meine Wange hinab.

Gregor öffnete den Mund und ich ahnte, was er sagen wollte. Doch ich schüttelte den Kopf, denn ich wollte nicht darüber reden und schon gar nicht mit ihm.

»Es tut mir leid«, sagte er leise.

Ich verschränkte die Arme und schluckte das zynische Ach, ja? hinunter, sodass er von allein weitersprach.

»Ich wollte dich garantiert nicht retten. Sorry, dass ich nicht dabei zusehen konnte, wie dir offensichtlich etwas unangenehm war. Falls es dir damit besser geht: Ich habe das nicht gemacht, weil du weiblich bist, sondern weil …« Ich bemerkte, wie seine Halsschlagader sichtbar zu pulsieren begann. »Ich hätte es auch für Brenner getan, okay?«

»Für Leander?«, fragte ich verwirrt.

»Ich mag ihn. Wir sind Freunde. Oder so. Wenn ich ihm ansehen würde, dass etwas nicht okay ist, würde ich auch was sagen. Und das nicht, weil ich ihn hilflos finde.«

»Das ist zwar schön und gut, aber du vergisst da etwas.«

»Und das wäre?«

»Wir beide sind keine Freunde, Gregor.«

»Ich weiß.« Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Waren wir nie.«

Ich setzte ein zuckersüßes Lächeln auf. »Schwelgen wir jetzt in Erinnerungen, weil wir beide melodramatisch und betrunken sind?«

»Nah, keine Sorge. Ich bin vollkommen nüchtern.«

Keine Ahnung, zum wievielten Mal ich an diesem Abend die Lippen aufeinanderpresste. Doch ich wusste, dass ich weder ihn noch mich sah, als ich wieder in den Spiegel blickte. Ich sah uns. Die Angespanntheit in seinen Schultern und den verräterisch nassen Film über meinen Pupillen.

»Das ist so falsch«, sagte ich deshalb laut.

»Was?«

Ironisch deutete ich auf ihn und dann auf mich. »Was soll das? Wir gehören nicht zusammen in eine Bartoilette, um uns unsere Probleme auszukotzen. Das mache ich nur mit meinen Freundinnen.«

»Wir kotzen uns also unsere Probleme aus? Schön zu wissen.« Er besaß sogar die Dekadenz, seine Mundwinkel zucken zu lassen. »Wow.« Ertappt hob er die Hände. »Kein Grund, mich mit deinem Killerblick niederzustechen. Ich lass dir auch gern den Vortritt. Fang an, wo du willst.«

»Einen Scheiß werde ich.« Langsam atmete ich durch, um mich zu beruhigen. »Wieso bist du überhaupt hier?«

Statt mir eine Antwort zu geben, kam Gregor auf mich zu. Ein, zwei, drei kleine Schritte, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Es roch nach WC-Duftstein und beißendem Billigparfum, doch ich atmete nur noch ihn. Dabei berührte Gregor mich nicht einmal, streifte mit seiner Brust nicht meine, wenn er ausatmete. Trotzdem kroch er mir so eindringlich unter die Haut. Gregor war wie Regen. Wie eine Wolke, traurig und temporär. Ich konnte nichts dafür, dass er mir das Hirn vernebelte.

»Ich mag dich, Lucy.«

Vier Worte, die mich heftig nach Luft schnappen ließen, doch die Luft war keine Luft, sondern Gregor und das war wie Gift. Ich atmete und gleichzeitig atmete ich nicht. War ich schon gestorben? War das meine Hölle, ein schäbiges Streittoilettengespräch mit dem ersten Jungen, den ich wirklich geliebt hatte?

»Genau deshalb werde ich einen Scheiß tun und dabei zusehen, wie du dich aufgelöst hier verschließt und …«

»Nimm das zurück«, unterbrach ich.

»W…was?«

»Du magst mich nicht. Das ist die bescheuertste Lüge aller bescheuertsten Lügen, die ich jemals gehört habe. Und glaub mir, davon habe ich schon eine Menge gehört. Du kannst mich nicht mögen. Man mag niemanden, den man geküsst und gevögelt und angeblich geliebt hat und dann einfach … ja, was hast du eigentlich gemacht? Hast du mich fallen lassen? Hast du mich geghostet wie ein langweiliges Tinder-Date? War ich für dich so nichtssagend? Wolltest du mir beweisen, dass Will mein Herz gar nicht gebrochen hat, bloß um es selbst zu zerbomben? Das hast du nämlich. Du hast mein Herz nicht gebrochen, denn wir werden dort am stärksten, wo etwas bricht. Das ist Bio, Oberstufe, zweites Halbjahr. Ich war nicht stark, als nichts von dir kam. Ich war einfach nichts. Peng. Wie in die Luft gegangen. Du … ich … wir …« Ich hatte mich in meinen eigenen Worten verlaufen, hatte zu schnell geredet und war gestolpert. Wieder zog es hinter meinen Lidern, doch diesmal war es kalt wie Trockeneis. Wenn man Trockeneis berührte, blieb man elendig daran kleben. Aber ich wollte nicht mehr an Gregor hängen. Ich wollte mich von ihm lösen.

»Soll ich dir was erzählen?«, fragte ich und fuhr fort, ohne seine Antwort abzuwarten. Die Shots hatten mich in Fahrt gebracht. Ich war nicht mehr zu stoppen. Vielleicht war es unfair, dass meine angestaute Wut, die in erster Linie mir selbst galt, nun Gregor traf. Vielleicht war es aber auch tatsächlich Karma. »Taylor Swifts Neuaufnahme von Red ist schon seit einer gefühlten Ewigkeit rausgekommen. Alle feiern die Zehnminutenversion von All Too Well . Und ich? Tja, ich weiß nicht mal, wovon die Leute reden, weil ich es mir einfach nicht anhören kann. Das Lied würde mich nämlich an die Seite von dir erinnern, die ich geliebt habe. Und eine Erinnerung daran kann ich momentan nicht ertragen. Bescheuert, oder? Aber so ist das mit dir. Nichts ergibt einen Sinn. Ich kann die ganze Zeit rumraten und Dinge in unsere Situation hineininterpretieren, die wahrscheinlich gar nicht stimmen und …«

»Denkst du wirklich, ich hätte dich nicht gemocht?« Er unterbrach mich ebenfalls, doch es war nicht harsch. Seine Stimme zitterte und seine Augen tränten. Links in meiner Brust ließ er erneut Dinge explodieren, die er eigentlich gar nicht mehr berühren dürfte.

»Ich weiß es nicht«, flüsterte ich. Ich war so mit meinen alkoholisierten Gedanken beschäftigt, dass mir beinahe entging, wie stark seine Nasenflügel sich während meiner Antwort aufgebläht hatten. Doch fast war fast. Ich verpasste es nicht. Gregors Kiefer zuckte, seine Lider schlitzten sich. Er war wütend und ein Sturm, der direkt auf mich zukam.

»Verdammte Scheiße, Lucy«, stieß er hervor und sein Atem traf mein Gesicht. »Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich gemocht habe. Ich habe dich noch nie nicht gemocht. Ich habe dich mehr als mich selbst gemocht. Das war das größte Problem von allen.« Hätte er eine Show abziehen wollen, hätte er jetzt gehen müssen. Schließlich wäre es der perfekte Abschluss gewesen. Doch er verstummte und zitterte und schluckte – und blieb. So lange, dass ich mir tatsächlich eine Erwiderung überlegen musste.

»Ich …«

»Ey, hallo!« Ein Klopfen. »Was macht ihr da? Rumlecken, oder was? Ist das nicht zu unhygienisch? Boah, kommt doch einfach. Ich muss echt pinkeln.«

Gleichzeitig zuckten wir zusammen, doch keiner von uns machte Anstalten, sich zu bewegen.

»Nebenan ist auch noch eine!«, rief Gregor und seine Stimme klang rau, kratzig und belegt, als gäbe es dafür einen Grund.

Die fremde Stimme – ich konnte nicht einmal sagen, ob sie eher männlich oder weiblich wirkte – erwiderte etwas. Doch ich hörte nicht zu. Gregor war mir so nah. Zu nah. So dicht, in diesem grässlich gelben Licht, das rein gar nichts beschönigte.

Alles an ihm schien so geöffnet. Nackt. Ehrlich. Als könnte ich ihn alles fragen und er würde mir alles beantworten.

»Siehst du«, murmelte ich und wusste nicht einmal, was ich eigentlich sah. »Davon habe ich gesprochen. Nichts ergibt Sinn. Ich meine, was willst du mir mit Das war das größte Problem von allen überhaupt sagen?«

Gequält verzog er das Gesicht. »Ist das nicht offensichtlich?«

»Nein«, erwiderte ich trocken. »Ist es anscheinend nicht.«

»Wie hätte ich bitte mit dir zusammen sein können, wenn ich mich twenty-four seven gefragt habe, was so jemand wie du überhaupt von jemandem wie mir will?«

Verwundert starrte ich ihn an, doch er führte es nicht weiter aus. Seine Hand zuckte. Kurz wirkte es so, als würde er sie anheben wollen, in meinen Nacken legen und seine Finger an meine Wange schmiegen. Allerdings fassten wir uns nicht mehr an. Das war unsere eiserne Regel, ganz egal, ob sein Atem immer wieder meine Haut streifte. Atem war unsichtbar. Eine Grauzone. Vielleicht existierten unsere Berührungen nur noch da, wo uns niemand erwischen konnte.

»Komm schon«, sagte er leise. »Du weißt ganz genau, was sie über uns geredet haben. Was will Lucy mit dem Lauch? Die ist viel zu heiß für ihn. Wusste gar nicht, dass sie auf Freaks steht. Du kannst es nicht abstreiten. Wir wissen beide, dass es so war. Und es hat mich zerrissen. Ich habe dich so sehr geliebt, wie ein zwanzigjähriger Junge ein Mädchen lieben kann. Ich hasse es, dass du das anscheinend nicht weißt, denn es ist die Wahrheit. Ich habe dich geliebt, Lucy. Mit allem, was ich habe. Dann war ich zu Hause und …«

»Und was?«, drängte ich.

»Ich hatte Angst, verflucht noch mal, okay?«

Ich musste lachen, um nicht zu weinen. Es klang schrill und stach in meinen Ohren. Ich hoffte, es stach doppelt so heftig in seinen. »Das ist Bullshit.«

»Es ist die Wahrheit.«

»Bullshit. Du …«

»Ich habe dich gestalkt. Überall. Instagram. Facebook. Alles, was ich finden konnte. Und ich weiß, es klingt lächerlich. Ich weiß das. Aber ich habe dich gesehen mit deinen ganzen Freundinnen, die sich zu Schulzeiten nur über mich lustig gemacht hätten. Dann habe ich Will in den Kommentaren unter deinen Bildern entdeckt. Und er war lowkey das komplette Gegenteil von mir. Mein Kopf ist Achterbahn gefahren und es war garantiert nicht die gute Art. Wie hast du zuerst ihn mögen können und dann mich? Das konnte nicht echt sein. Mir war so schlecht, wann immer ich dir schreiben wollte. Ich wusste, du würdest mir nicht antworten. Dass du zu Hause realisieren würdest, was für ein Freak ich bin, und jeden einzelnen Kuss mit mir bereuen würdest. Weil wir nicht mehr in dieser Scheißjugendherberge waren und in unserer Blase umhergeschwommen sind. Ich …«

»Wann habe ich dir jemals das Gefühl gegeben, nicht genug für mich zu sein?« Meine Unterlippe bebte. Ich war so wütend. »Wann , Gregor? Nenn mir auch nur eine einzige Minute. Denn, keine Ahnung, ob es dir aufgefallen ist, ich habe dich tatsächlich niemals nicht gemocht und mich auch so verhalten.«

Statt mir zu antworten, schindete er Zeit. Hart raufte er sich mit der rechten Hand die Locken. Dabei schüttelte er den Kopf, als wäre er nicht sicher, was er antworten sollte.

Ich hatte recht. Es stimmte. Das wussten wir beide. Trotzdem haftete mein Blick an den durch seine Haut schimmernden Adern, immer noch lila und dunkel.

Sag was, mach was, überzeug mich vom Gegenteil, weil ich gerade echt betrunken und gefühlsduselig bin und ich immer an dich denke, wenn ich an Gefühle denke.

»Es soll keine Ausrede sein«, murmelte er. »Und es ist kein Grund, du hast recht. Ich schwöre, dass mir das jetzt bewusst ist.« Er blies die Wangen auf. Sie waren gerötet. Mit einem Mal fiel mir auf, dass alles an Gregor farbig war. Die Adern. Seine Wangen. Sogar das Haar war derart schwarz, dass es leicht bläulich wirkte, wenn das Licht ihn so beschien. Alles hatte einen bläulichen Unterton, nur seine Wangen brannten lichterloh.

»Als wir uns in Berlin verabschiedet haben … Erinnerst du dich an den Tag?«

Sofort wollte mein Gehirn mir die Bilder von damals präsentieren, die ich wie etwas Kostbares in mir versteckte. Wie wir extra früh aufgestanden und zum See gestapft waren, wie die Strahlen der Sonne in seinen Pupillen reflektierten und wie jeder unserer Küsse geschmeckt hatte. Blassrot und hellorange, wie ein explodierender Sonnenaufgang auf meinen Lippen.

Ich hatte den Geschmack noch immer auf der Zunge.

»Wie könnte ich das vergessen?«, erwiderte ich.

»Weißt du auch noch, dass dein Handy mit einer Nachricht von Will vibriert hat? Und als ich dich gefragt habe, wer es war, meintest du, dein Bruder? Ich hab seinen Namen auf deinem Display gesehen, bevor du ihn weggeklickt hast.«

Ich blinzelte, zog innerliche Gedankenschubladen auf und drückte sie wieder zu, nur um festzustellen, dass er recht hatte. Der letzte Tag, der See, wir beide, die Tropfen in seinen Haaren, das Herzpochen unter meiner Brust.

»Aber das hatte doch nichts zu bedeuten!«, rief ich. »Ich wusste, dass Will dein wunder Punkt war, und wollte unseren Moment nicht damit zerstören. Will war egal. Spätestens, nachdem wir uns geküsst hatten, war alles andere egal. Tu nicht so, als wüsstest du das nicht.«

»Natürlich weiß ich das jetzt. Ganz ehrlich? Ich kann sogar verstehen, wieso du ihn nicht erwähnt hast. Wahrscheinlich hätte ich es genauso gemacht, weil ich einfach die letzte Stunde mit dir genießen wollte. Aber damals? Ich konnte nur daran denken, wie du zu Hause ankommst und zurück zu Will gehst, weil ich dir sowieso nie so viel bedeutet habe wie du mir. Ich konnte dir nicht schreiben und mir diese Gewissheit abholen. Es war feige. Scheiße, ich hasse mich so sehr, wenn ich daran zurückdenke. Vor zwei Jahren wusste ich jedoch nicht, wie ich besser damit umgehen soll, also …«

»Also bist du gar nicht damit umgegangen«, flüsterte ich, kurz bevor seine Hand erneut zuckte. Seine wunderschöne, große Männerhand, die früher so gar nicht und deshalb so gut in meine gepasst hatte. In meinem Herzen zog es, weil plötzlich auch meine Finger zuckten. Ich wollte Gregor berühren, obwohl ich ihn nienienieniemals wieder hatte berühren wollen. Hastig sah ich ihm deshalb in die Miene, genauer genommen auf seinen Mund, und wartete auf seine Erwiderung. Und das war ein Fehler. Ein fahrlässiger Fehler, denn es zog plötzlich ebenfalls in meinem Unterleib.

Was zum Teufel war nur mit uns?

»Das reicht nicht als Grund«, sagte ich, denn ich traute uns die Stille nicht zu. »Ich kann verstehen, dass du verunsichert warst. Sauer, von mir aus. Gekränkt, verletzt und angepisst. Ich habe Verständnis für alles, Gregor. Bloß nicht dafür, dass du dich einfach nicht gemeldet hast. Du hast mir mit deinem verfickten Schweigen das Herz zerbombt.« Meine Worte saßen, weil sie trafen.

»Ich weiß.« Er entschuldigte sich nicht. Flüsterte keine Floskel, die niemand von uns ertragen hätte. Ich weiß , sagte er schlicht. Dann tat er das Schlimmste – er lächelte. Sein Lächeln war nicht schön, sondern schief und bebend.

Doch es waren seine Augen, die ihn verrieten. Glasig, riesig und nass.

Gregor lächelte, obwohl er weinen wollte, schaute mich an, obwohl er garantiert wegschauen wollte.

Aber er sah immer hin.

Selbst jetzt, als ihm jedes Fünkchen Selbsthass aus den Poren quoll. Gregor hatte mich mit allem, was er hatte, geliebt. Jetzt hasste Gregor sich mit allem, was er hatte, selbst.

»Ich weiß, dass das nicht reicht und es zu spät kommt und ich die Zeit zurückdrehen und alles anders machen würde, wenn ich könnte. Doch das kann ich nicht, ganz egal, wie sehr ich es mir wünsche. Außerdem …« Er hob die Schultern. »Wir haben uns ja auch verändert, oder? Es könnte sowieso nie wieder wie früher sein.«

Seine Worte glichen keinem Eimer voller eiskaltem Wasser. Sie schmerzten auf die simpelste Weise. Kurz, stechend und klar wie vier Liter reinigendes Desinfektionsmittel auf all meinen Herznarben.

Es könnte sowieso nie wieder wie früher sein.

»Ja«, sagte ich. Anscheinend war ich immer noch unfähig dazu, etwas zu verneinen, selbst wenn ich es gewollt hätte.

»Gut«, erwiderte er, obwohl nichts gut war.

Vor allem dann nicht, als er sich abrupt auf den Boden niederließ und in aller Ruhe auf seinem Handy zu scrollen begann.

»Was ist?« Als wäre nichts dabei, klopfte er auf den versifften Platz neben sich. »Setzt du dich nicht?«

Vage schüttelte ich den Kopf. »Wieso sollte ich?«

»Weil ich Schadensbegrenzung betreibe.«

Ich vernahm ein Kreischen, hörte, wie jemand schief mitsang, bevor der Boden vibrierte. Insgeheim blendete ich das alles aus. Schließlich klebte mein Blick auf Gregor und seinem Handy, das er mir entgegenhielt. Ich blinzelte. War das …?

»Hast du gerade ernsthaft das Musikvideo zur zehnminütigen Version von All Too Well geöffnet?«

»Du wolltest es sehen, oder?« Er grinste, doch es blieb schief. Zögerlich klopfte er auf den Platz neben sich. »Also, was ist?«

Meine Beine waren schneller als mein Kopf. Zögerlich hockte ich mich neben Gregor, bevor ich unsere Schuhe auf den beschmutzten Fliesen musterte.

»Das ist so absurd«, murmelte ich.

»So was von. Wenn ich das in ein Manuskript schreiben würde, würde meine Agentin sagen, das ist nicht realistisch. So verhalten sich Menschen nicht.«

Aber wir verhielten uns so.

Gregor wollte das Video starten, mein Räuspern hielt ihn allerdings davon ab. Bestimmt nickte ich zu seinem Wunscharmband, das unter seinem Ärmel hervorblitzte. Unter meinen Fingerspitzen kribbelte es, weil ich ihn anfassen wollte. So sehr, so dringend, so sehrsehrsehr, dass ich nicht einmal verstand, woher dieser Drang kam.

»Lass mich raten«, setzte ich an. »Du hast dir damals für jeden Knoten einen Verlagsvertrag gewünscht?«

Er schüttelte den Kopf. »Frieden«, sagte er, obwohl man seine Wünsche nicht verriet. »Dreimal.« Den längsten Moment dieser Welt sah er mich an.

Erst dann drückte er auf Play .