Kapitel

Lucy

 Smiley

wenn ich keine Worte habe

Damals

Ich fühlte alles.

Damals, als wir eine gemeinsame Schwäche für Wörter entwickelten. Während der Kurse hielten wir uns bedeckt. Wir sprachen nicht miteinander. Höchstens lange Blicke tauschten wir aus, die niemand außer uns verstand. Ich hätte nichts dagegen gehabt, seine Hand auf den Gängen zu halten. Ihn in den Korridoren zu küssen. Doch ich traute mich nicht, es anzusprechen, aus Angst, er würde es lächerlich finden. Mich auslachen, weil ich etwas offiziell machen wollte. Das ganz Paarzeugs abziehen und dabei nervig wirken.

Also ließ ich es.

Im Grunde dachte ich sowieso nie lange darüber nach, weil die Seenachmittage, an denen mein Herz schwerelos umhertrieb, jedes Mal so schnell wiederkamen. Außerdem hatten wir vormittags unsere eigene Art von Kommunikation. Nach unserem Kuss hatte Gregor nämlich damit begonnen, mir Fremdwörter auf Schmierblättern zu hinterlassen. Unauffällig steckte er sie mir zu wie Zettelchen in der Mittelstufe. Die Wörter darauf kannte ich meistens nicht, Pinterest fand jedoch immer eine Übersetzung für mich.

Selcouth – wenn alles sich seltsam und gleichzeitig wundervoll anfühlt

Scripturient – der leidenschaftliche Drang zu schreiben

Raison d’Être – der Grund des Seins

Wonderwall – eine Person, von der du absolut fasziniert bist

Abditory – ein Ort, an dem du dich verstecken kannst

Exonerate – sich von dem Gewicht der Lasten lösen

Basorexia – die Sehnsucht, jemanden zu küssen

Und es stimmte: Gregor wollte mich küssen. Die ganze Zeit. Und ich wollte es auch. Bis wir uns unter die Kleidung des anderen schlichen, wenn wir einander an den Lippen hingen.

Wir hingen uns so verflucht oft an den Lippen.

Am Anfang meines Aufenthalts war ich zu Gregor in den See gesprungen und hatte danach selten woanders sein wollen.

Mein Herz war löcherig, aber sein Name passte perfekt in die Leerstellen. Er war wie gemacht für mich. Kitschig, ich weiß, und nicht einmal das wollte ich ändern.

Denn als wir an einem Freitagabend zurück zur Schlafstätte schlenderten, während der Rest der Gruppe sich in irgendeinem Zimmer heimlich berauschte, deutete Gregor auf sein eigenes. »Willst du mit reinkommen?«

Ich nickte, weil ich Willst du mich reinlassen? verstanden hatte. Und das wollte ich so sehr.

Sofort küssten wir uns mit leicht feuchtem Haar auf seinem Bett. Unsere Köpfe hinterließen nasse Spuren auf der Decke und dem Kissen, die in meiner Vorstellung aus unseren Gefühlen bestanden. An diesem Abend ging er weiter, berührte meine Brüste und stöhnte dabei. Als er in meinen Slip fuhr, zeigte ich ihm, wie ich es mochte. Die ganze Zeit sah er mich dabei an, während sein Daumen mich mit kreisenden Bewegungen verrückt machte.

Warm streifte sein Atem mein Ohr. »Ich will so gerne mit dir schlafen, Lu. Aber ich möchte dich natürlich nicht drängen oder so, also bitte vergiss das, wenn …«

»Ich will es auch«, unterbrach ich. Ich will dich.

Und vielleicht streiften wir einander die Kleidung zu schnell ab und ihm das Kondom zu schnell über. Vielleicht überschlugen wir die Dinge, weil unsere Herzen so viele Saltos drehten. Doch als wir das erste Mal miteinander schliefen – ich auf ihm in einem spärlich möblierten Jugendherbergezimmer mit seinem meergrünen Kulturbeutel auf dem Nachttisch – war alles so sanft und schön.

»Ist das so gut für dich?«, fragte ich ständig, weil ich wusste, dass es nicht perfekt war.

Doch er konnte mir vor lauter Keuchen sowieso nicht antworten. Er konnte nur nicken, mit geschlossenen Lidern und Schweißperlen auf der Stirn.

Wenn ich mit dem Mund über seinen Kiefer schabte, schmeckte seine Haut dort salzig. Auf eine verdrehte Weise gefiel es mir. Sehr. Als er kam, vibrierte seine Brust an meiner. Fest biss er sich dabei auf die Lippe, um nicht laut zu sein. Ich hätte es so gern gehört.

Danach blickten wir uns stumm in die Augen, wobei ich immer noch auf ihm saß. Vor Wärme klebten unsere Arme aneinander. Alles pochte. Ich wollte, dass es niemals aufhörte. Dass wir niemals aufhörten. Ich selbst war nicht gekommen, aber es machte nichts, wollte ich doch sowieso bleiben.

»Das war zu schön, Lu. Sorry, dass du nicht … du weißt schon.« Plötzlich löste er sich leicht von mir. »Lass mich dir auch so ein gutes Gefühl geben. Was soll ich machen?«

Kurz stellte ich ihn mir vor, mit seinem lockigen Kopf zwischen meinen Beinen. Es würde sich großartig anfühlen. Das wusste ich. Aber eigentlich wollte ich das nicht. Also verneinte ich und zog ihn wieder dichter zu mir heran, legte seine Arme fest um meinen Rücken. Zärtlich malte er Wellen auf meine nackte Haut.

Es war das beste Gefühl auf der Welt.

Dafür gab es keine Worte.