Gregor
VERMISSEN
nicht fucking tanzbar
Keine Ahnung, wie ich die nächsten Minuten überlebte.
Kurz vor sieben verabschiedeten wir uns von Erwin und verließen sein Büro. Schweigend liefen wir zur Lobby, während Lucy meinen Blick noch immer mied. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wusste nicht, was passiert war. War ich zu aufdringlich gewesen? Wer hatte sie angerufen? Hatte sie etwas Schlimmes erfahren?
Ich hätte den Grund so gern gekannt, dass ich sie beinahe gefragt hätte. Doch die Worte zerfielen mir wieder einmal auf der Zunge, als Lucys Blick meinen doch plötzlich kreuzte. Abrupt blieb sie stehen. Dann räusperte sie sich. Leise, aber bestimmt. Da ahnte ich, dass es hässlich werden würde.
»Gregor?«, fragte sie. »Können wir kurz reden?«
Fahrig fasste ich mir in den Nacken. »Klar?«
Aufgesetzt lächelnd zog sie mich zur Seite und positionierte uns fernab der neu ankommenden Gäste mit den obligatorischen Steppjacken in Marineblau. Leiser Jazz plätscherte aus den Lautsprechern, doch ich nahm ihn nur im Hintergrund wahr. Im Grunde blendete ich alles andere aus, als Lucy schließlich sagte, was sie sagte.
»Ich weiß, es kommt vielleicht ein bisschen komisch, aber: Es würde dir doch nichts ausmachen, wenn wir das gestern vergessen, oder? Nicht alles natürlich, nur … du weißt schon. Für mich wäre es wichtig, dass wir die Dinge langsam angehen und auf keinen Fall etwas überstürzen.«
In meiner Brust drückte es, Atmen fiel schwer. Meine Finger zitterten, sodass ich sie hastig in der Tasche vergrub. Lucy schluckte, ich konnte es ganz deutlich sehen. Auch meine Kehle verengte sich, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Weil ich zu viel zu sagen hatte.
Ich kann und will und werde das nicht vergessen. Ich dachte, zwischen uns wäre alles gut. Wieso hast du plötzlich Zweifel? Was habe ich falsch gemacht? War es die blöde Knöchelberührung?
Allerdings wusste ich im Grunde, dass es nicht daran lag. Dass es an Damals lag. Und klar, ich hätte protestieren, kämpfen und sie nun vom Gegenteil überzeugen können, doch ich sah es in ihrem Blick, den sie nun endlich auf mich gerichtet hatte. Lucy hatte eine Entscheidung getroffen. Es langsam angehen lassen. Nichts überstürzen. Nicht zu viel riskieren. Was für ein Arschloch wäre ich, wenn ich ihre Gefühle nicht respektierte? Wäre ich damit nicht genauso schlimm wie die Männer, die ein schlichtes Nein aus Prinzip überhörten und sich daraufhin bloß noch mehr ins Zeug legten?
Also kämpfte ich gegen den Drang an, mit dem Kopf zu schütteln und die Sätze, die darin randalierten, laut auszusprechen. Stattdessen nickte ich bloß stumm. »Klar«, erwiderte ich und pfriemelte dabei mit der freien Hand nervös am Saum meines Shirts. »Kein Problem.« Anschließend setzte ich ein Lächeln auf, das so breit war, dass es wehtat.
Haareraufend schweifte mein Blick auf die Uhrzeitanzeige. 23:04. Schmerzhaft prallte mein Hinterkopf gegen die Tür, weil ich allein auf dem Fußboden saß und trotzdem nur Lucys Stimme hörte.
Ich weiß, es kommt vielleicht ein bisschen komisch, aber: Es würde dir doch nichts ausmachen, wenn wir das gestern vergessen, oder?
Fuck. Ich saß bereits seit fünfeinhalb Stunden hier und schrieb. Ich hatte mich mit dem Notebook auf den Fußboden niedergelassen, während meine Kommilitonen sich in irgendeinem Strandcafé volllaufen ließen. Sie machten Erinnerungen wie die, von denen Erwin erzählt hatte. Wie Lucy und ich sie im Studio 69 geteilt hatten. Auf dem Kloboden hockend, mit Taylor Swift vor uns und einem wilden Bass im Hintergrund. Mein Herz zog bei dem Gedanken daran.
»Ich kann das«, flüsterte ich mir selbst zu, um mich abzulenken, und erinnerte mich an das, was Erwin über Emma Visser gesagt hatte. Wie sehr sie es gewollt hatte. Dass sie es geschafft hätte, weil sie so gebrannt hatte. Hoffnungsvoll begann ich zu tippen. Ein a, ein l, bis ich heftig zusammenzuckte. Hinter mir klopfte es. Ich rappelte mich auf und starrte der Tür mit dem Laptop in der Hand entgegen.
»Beck, Alter, was ist mit dir? Los, mach auf. Als ob du schläfst, Mann.«
Ich zögerte. Brenner würde annehmen, dass ich schlief, wenn ihn keine Reaktion meinerseits erreichte, oder? Ich musste nur ein paar Sekunden warten. Höchstens eine Minute, dann würde er garantiert verschwinden und ich könnte weitermachen.
»Bro, du weißt, dass ich dein Licht sehen und deine Musik hören kann? Hör auf, ein Scheißschreiberstreber zu sein, und mach endlich auf.«
Wäre ich er gewesen, wäre ich wütend. Schließlich hatte er ja durchschaut, dass ich ihn verarschte. Brenner allerdings schob bloß ein kehliges Lachen hinterher, als fände er meinen Trick siebzehn lustig.
Verfluchte Scheiße. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm die Tür zu öffnen und innerhalb eines Wimpernschlags festzustellen, dass er betrunken war.
»Nicht im Ernst, oder? Sag mir nicht, du hast aufs Ausgehen verzichtet, um …« Von oben bis unten musterte er mich. »… barfuß an deinem Manuskript zu arbeiten?« Er hob die Hand. »Nein, weißt du, was? Spar die Antwort. Zieh dir lieber Socken an, damit wir loskönnen.« Er ließ sie auf meine Schulter sinken. »Hä, was schaust du so? Denkst du ernsthaft, ich lass dich hier wie bekloppt weiterarbeiten, obwohl unten die Mitternachtsparty steigt?«
»Mitternachtsparty?«, wiederholte ich zerknirscht.
»Ja, keine Ahnung, Erwin gibt an der Bar irgendwie einen aus. Der Typ ist echt seltsam, aber whatever, schon irgendwie cool alles. Also?«
»Sorry, ich kann nicht. Die Szene ist gerade voll wichtig.«
»Es ist Samstagnacht. Du bist zweiundzwanzig. Schick dir von mir aus dein Doc per Mail, damit du keine Panik schiebst, es verlieren zu können, und dann auf geht’s.«
»Tut mir echt leid«, sagte ich erneut. »Ich muss wirklich schreiben.« Und Lucy aus dem Weg gehen, weil sie doch alles vergessen und ich mich an jedes Detail erinnern wollte.
Brenner seufzte. »Gregor.«
Ich verzog das Gesicht. »Seit wann sind wir auf Vornamenlevel?«
»Seit jetzt, weil ich die Dramatik brauche. Bitte stell dir noch einen Trommelwirbel dazu vor.« Sogar eine Pause legte er ein. »Bereit?«
»Wofür?«
»Na dafür, dass ich dir erkläre, dass ich deine Masche durchschaue. Du kannst aufhören, auf Ich bin ein gebrochener und manischer Schriftsteller zu tun. Du bist krass. I get it. Aber es ist Samstagabend. Du kannst Pause machen. Zwei Stunden Spaß werden dein Manuskript nicht versauen.«
In meinen Ohren begann es zu piepen, weil sich alles, was er behauptete, plötzlich nach früher anhörte. Damals, in Berlin, als sie sagten: Gregor, du bist so krass. Du hast ein Wortziel und eine Agentur, du scheißt auf die Schreibaufgaben und schreibst deine Manuskripte. Ich wünschte, ich wäre so ehrgeizig wie du.
Keine Ahnung, wie oft ich solche Sätze letztes Jahr von meinen Kommilitonen gehört hatte, die nie meine Freunde waren. Ich war immer ein Student gewesen, doch hatte nie wie einer gelebt. Ich war zur Hochschule gegangen, ins Gym und dann an den Schreibtisch. Sie hatten Shots gekippt, ich hatte Arbeitstitel getippt. Unwillkürlich wurde es in meiner Kehle eng.
»Und bevor du noch mal widersprichst.« Brenner gähnte. So, als würden seine nachfolgenden Worte nichts mit meinem Herzen anstellen. »Lucy ist natürlich auch da. Tu gar nicht erst so, als hättet ihr keinen Vibe.«
Ich hätte es bestreiten, lässig abwinken oder protestieren können. Stattdessen holte ich bloß tief Luft und bemerkte mit einem Mal, wie erschöpft ich war. Nicht müde, sondern ausgelaugt bis in die Knochen.
Es würde dir doch nichts ausmachen, wenn wir das gestern vergessen, oder?
»War es so offensichtlich?«, fragte ich heiser, während Lucys Worte in meinem Kopf nachhallten und mein Brustkorb sich zuschnürte.
»Scheiße, nein.« Als Brenner diesmal lachte, war es leiser. »Ich habe das nur gesagt, weil ich möööglicherweise auuus Verseeehen ein Gespräch von Tillie und Lucy mitgehört habe, in dem es um dich ging.«
Krampfhaft blinzelte ich vor mich hin. »Was haben sie gesagt?«
»Weiß nicht so genau. Irgendwie fiel dein Name und Lucys Wangen wurden rot. Und eigentlich werden ihre Wangen ja fast nie rot, also …«
Ich zögerte. Hatte keinen Schimmer, was ich erwidern sollte. »Hm«, machte ich schließlich, feige und ratlos, während ich spürte, wie mein eigenes Gesicht sich erhitzte.
»Sie ist auch unten. Komm schon, pack deinen Laptop weg und auf geeeht’s!«
Genau genommen wollte ich Brenner fragen, wieso er hier war und sich überhaupt um mich kümmerte. Doch die Erwähnung von Lucys Namen reichte, damit ich alles über Bord warf.
Selbst wenn ich untergehen würde.
Eine Hand auf meiner Schulter. Eine Flasche vor meinem Gesicht. Dröhnender Beat in meinen Ohren.
»Hier, hier, hier, hier, hier!«, rief Erwin und schob grelle Shotgläser über die Theke.
Keinen Plan, wieso er den Barkeeper spielte. Ich wusste bloß, dass es mein viertes Bier war und ich Bier hasste. Ich trank trotzdem. Einen Schluck nach dem anderen, so wie ich Sätze tippte. Dann, wenn ich keine Ahnung von nichts hatte und schlicht weiterkommen musste.
»Tanzen?«, schrie Brenner mir ins Ohr.
Ich fasste mir in den Nacken. »Ich tanze nicht.«
»Ach, papperlapapp.«
Papperlapapp? Verwirrt verzog ich das Gesicht, doch er bewegte sich bereits auf der Stelle. Wie wir hier gelandet waren, stellte für mich immer noch ein Rätsel dar. Ich wusste, dass ich Brenner nach unten gefolgt war, wo die Musik uns in Basswellen überströmt hatte. Er hatte mir Getränke gereicht, ich hatte sie angenommen. Verflucht noch mal jede Sekunde hatte ich Lucys Präsenz dabei gespürt, weil selbst ihre Präsenz eine Präsenz hatte. Auch wenn sie am anderen Ende des Raumes gestanden hatte.
Um mich von diesem Gefühl abzulenken, hatte ich noch mehr gekippt. Wenn ich toxisch wie radioaktiver Müll gewesen wäre, hätte ich behauptet, dieser ganze Schlamassel wäre ihre Schuld. Aber das stimmte natürlich nicht. Ich war überfordert, am meisten mit mir selbst und meinen Gefühlen. Ich verstand es einfach nicht. Waren Gefühle, die wiederkamen, nicht auch Gefühle, die nie gegangen waren? Wieso zur Hölle erwischten sie mich in diesem Fall trotzdem so eiskalt?
»Beck, mein Freund.« Unvermittelt schüttelte Brenner den Kopf. »Deine Gedanken sind viel zu laut. Ich höre dich bis hierhin denken. Du musst das in den Griff bekommen. Worüber denkst du eigentlich die ganze Zeit nach, Mann?«
Meine Schläfen pochten. Einfach nein. Wir konnten garantiert nicht dieses Level von betrunkenen tiefgründigen Gesprächen erreicht haben.
»Hä?« Ich lachte nervös. »Was redest du? Wieso hast du dich eigentlich so abgeschossen?«
»Es ist Wochenende und ich bin ein Student. Natürlich schieße ich mich da ab. Und jetzt komm!« Entschlossen umfasste Brenner mein Handgelenk und zog mich auf die improvisierte Tanzfläche. Schwitzige Haut berührte dort meine, während sich zehntausend verschiedene Parfumsorten zu einer vermischten.
»Vermissen?« , schrie ich Brenner ins Ohr. »Tanzen wir gerade echt zu Juju und Henning May?«
»Ist doch egal«, erwiderte er, bevor auch er grölend mitsang.
Mit zusammengezogenen Brauen musterte ich sein Gesicht. Es wirkte gequält, passte perfekt zu der leidenschaftlichen Art, in der er die Zeilen des Refrains mitlallte. Er fühlte ihren Inhalt also. Hatte er Liebeskummer? Sollte ich ihn fragen? Mussten wir nun doch diese Art von betrunkenem Gespräch führen?
Gottverdammte Scheiße, ich war nicht gemacht für so was. Weil ich feige war, entschied ich mich fürs Schweigen. Brenner schien es nicht zu stören. Euphorisch zappelte er im Takt der Chartlieder vor sich hin. Betrunken, dumm und glücklich.
Ich wusste nicht, was ich hier tat.
Ein Teil in mir wollte verschwinden, um weiterzuschreiben. Ein größerer Teil wollte verschwinden, weil Lucy mich nicht fühlen wollte, wo ich doch nichts außer sie fühlte. Der größte Teil hingegen hatte schlicht keinen verfluchten Plan, was ich tun sollte.
Tief atmete ich durch. Trinken. Ich musste mehr trinken. Das war zumindest ein Plan, oder? Meine Füße bewegten sich, bis ich stockte, weil mein Herz knackte.
Lucys Blick begegnete meinem. Sie stand neben Tillie und Samu und trank aus einem Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit. Vielleicht irgendeine besondere Sorte Gin, die Erwin ihr aufgequatscht hatte. Mir war bewusst, dass ich betrunken war. In meinem Zustand war es unmöglich, diese Art von Detail auszumachen, doch ich hätte schwören können, dass sie das Glas fester umklammerte. Sie sah mich an und alles wurde leise. Meine Kehle schnürte sich zu. Atmen fiel mit einem Mal so viel schwerer.
Es würde dir doch nichts ausmachen, wenn wir das vergessen, oder?
Ihre Stimme hallte so laut in mir nach, dass ich keine Luft mehr bekam. Jetzt brauchte ich definitiv Luft und keinen verdammten Alkohol mehr. Wenig elegant schlängelte ich mich aus der Menge, den Rücken Lucy zugekehrt. Ich musste hier raus. Pause machen, um meine Gedanken zu ordnen. Sonst würde ich noch etwas Unüberlegtes tun. Auf sie zugehen mit den Worten: Äh, sorry, bei meinem Klar habe ich mich vertan. Natürlich kann ich nicht vergessen, wie ich dich geleckt habe, weil ich das in erster Linie überhaupt nicht will. Zuzutrauen war mir in diesem Moment schließlich alles.
Gerade als ich die Lobby passierte, erklang allerdings mein Name. »Gregor, warte doch mal, Mensch! Ich habe dich schon den ganzen Abend gesucht!«
Kacke. Nicht der auch noch. Stirnrunzelnd wandte ich mich um und hoffte, meine Genervtheit weitestgehend verbergen zu können. Keine Ahnung, ob es mir gelang. Wenn ja, schien Erwin sich nicht daran zu stören.
»Komm«, sagte er und winkte mich zu sich heran. »Ich muss dir unbedingt etwas zeigen. Ich hab noch ein Foto von Emmie gefunden. Das interessiert dich bestimmt.«
Gott, ich hasste, wie ich plötzlich zusammenzuckte. Hektisch schüttelte ich den Kopf. »Du verwechselst mich, Lucy braucht die Infos für das Porträt von Emma Visser.«
Doch er hörte mir nicht mehr zu, steuerte schon sein Büro an und ließ die Tür für mich offen. Widerwillig folgte ich ihm in den Raum, wo er bereits in der Fotokiste kramte.
»Warte, warte, warte, ich hab’s gleich, das musst du sehen, ohne Flachs, das wird dich garantiert weiterbringen …«
»Hör mal, Emma Visser ist wirklich Lucys Story, du …«
»… hier«, unterbrach er mich.
Blinzelnd betrachtete ich das verschwommene Foto, das er in die Höhe hielt. Dunkles Haar, blasse Haut. Zwei, drei Sekunden lang.
Dann wurde mir schlecht. Schlagartig.