Kapitel

Lucy

WAS WÄRE, WENN?

etwas, was du lieber nicht riskieren solltest

Tillie lag rücklings auf dem Bett.

Die Lider hatte sie geschlossen, doch sie schlief nicht. Lautlos bewegten ihre Lippen sich zu Harry Styles, der leise aus ihrem Handy sang.

»Okay«, murmelte ich.

Beim Klang meiner Stimme zuckte sie zusammen, ohne dass sie die Lider aufschlug. Bloß das Handy umklammerte sie fester, genauso wie damals die Karten für Lorde im Palladium, die wir für den doppelten Preis auf eBay gekauft hatten.

»Was ist passiert, dass wir das Meine-Gedanken-sind-so-laut-dass-meine-Musik-so-leise-sein-muss-Level erreicht haben?«

»Hab Scheiße gebaut«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen.

»Definiere Scheiße.«

Sie zögerte. »Brenner und ich haben uns geküsst.«

»Du hast Leander schon zehntausend Mal geküsst.«

»Davor wusste ich es aber nicht.«

»Was meinst du?«

Sichtbar holte Tillie Luft, bevor sie die Lider öffnete. Ich schluckte. Ihre Augen waren glasig und ihre Wimpern verklebt.

»Scheiße, Tillie«, flüsterte ich. Hastig trat ich auf sie zu, während sie auf dem Bett automatisch zur Seite rückte. Ich legte mich zu ihr, sodass sich unsere Schultern dicht an dicht in ihrem Neunzig-Zentimeter-Bett aneinanderpressten. Langsam ließ ich meine Hand zu ihrer wandern, bevor ich unsere Finger miteinander verschränkte.

»Lass uns nicht darüber reden«, schlug sie vor. »Erzähl mir lieber, wo du warst. Das ist bestimmt schöner.«

»Schöner?«

»Jepp, schöner. Immerhin macht Gregor Samsa dich mit seinen Korkenzieherlocken glücklich.«

»Was hat das mit seinen Korkenzieherlocken zu tun?«

»Keine Ahnung, was hat es nicht damit zu tun?«

»Du bist so bescheuert.« Ich konnte nicht anders, ich musste lachen.

Kurz fiel Tillie mit ein, doch es war exakt der Moment, in dem die Musik verklang. Sie nahm das Handy von ihrem Bauch.

»Wieso ruft Manda an?«, fragte ich.

»Hab in die Gruppe geschrieben«, erwiderte Tillie und schob den grünen Hörer zur Seite.

Das Gesicht unserer Freundin erschien auf dem Display. Zerzauste Strähnen umrahmten ihr Gesicht und ihr Lippenstift wirkte fleckig. Offensichtlich war sie von einer Barschicht gekommen, denn sie trug noch das Shirt mit dem Logo. Manda schaufelte sich einen Löffel Kokosnussjoghurt in den Mund, wobei ich die Uhrzeitanzeige an der Mikrowelle erkannte. 03:52  Uhr. Daneben hing das Gewürzregal von IKEA leicht schief an der Wand. Wir hatten es damals gemeinsam gedübelt und uns mit dem Zwanzigeurobohrer zu unseren Füßen unbesiegbar gefühlt.

In dem kleinen Rechteck konnte ich erkennen, dass Tillies und meine Augen zu glasig wirkten. Wir hatten Doppelkinne. Mein Piercing glänzte. Tillie hatte einen Ohrring verloren.

»Okaaay«, sagte Manda lang gezogen. »Da ihr anscheinend eure Stimmen verloren habt, fange ich mal so an: Wieso schreibst du, Tillie, um drei Uhr morgens Ich hab es so was von verkackt in die Gruppe?« Noch dichter rückte sie an den Bildschirm. »Und, Lucy: Warum siehst du irgendwie so glücklich und traurig zugleich aus?«

Weil Gregor und ich immer ein und sind. Wir sind nicht bloß eine Sache. Wir sind damals und wir sind heute. Das werden wir nicht mehr los.

Die Worte lagen mir auf der Zunge, doch ich konnte sie nicht aussprechen.

»Leute.« Manda seufzte theatralisch. »Ihr seid meine zwei besten Freundinnen. Kann doch nicht sein, dass wildfremde Menschen mir in den letzten acht Stunden ihre Geheimnisse erzählen und ihr mir nicht mal sagen könnt, wieso wir um vier Uhr morgens eine Krisensitzung starten.«

»Voll krass, oder?« Tillie räusperte sich. »Dass dieses Klischee halt echt stimmt?«

Manda schnaubte. »Du solltest mal lieber als Barkeeperin arbeiten. Du hättest so viel Inspiration.«

»Vielleicht schreibe ich ja irgendwann eine Netflix-Serie über eine Barkeeperin, die alle Probleme von anderen Leuten kennt. Dann wärst du meine Inspiration.« Tillie wackelte mit den Brauen, doch ich verzog das Gesicht.

»Oh Gott. Sag das nicht, sonst muss ich an diesen seltsamen Typen denken, der Manda auf Instagram angeschrieben hat.«

»@paulthedrummer.« Sie schnipste mit den Fingern. »Der meinte, ich wäre die Art von Mädchen, über die sein Leadsänger Lieder schreiben würde. Nur weil ich Blumenkleider zu Docs trage und damit so edgy aussehe. Wie gefühlt jede Zweite in unserem Alter, aber okay.«

Wie auf Kommando prusteten wir alle drei los und für einen kurzen Moment war die ganze Schwere vergessen. Doch als unser Gelächter verklang, veränderte sich die Energie.

»Alsooo«, begann Manda erneut erwartungsvoll.

Und wir wussten, es war Zeit, mit der Sprache herauszurücken.

»Ich glaube, Brenner hat sich in mich verliebt«, flüsterte Tillie und presste ihre Handinnenfläche dabei dichter an meine. »Und ich glaube, ganz, ganz, ganz tief in mir drin wusste ich es. Und trotzdem habe ich ihn geküsst. Das war nicht nett von mir. Das war ein Zehn-von-zehn-Arschloch-Move.«

Vorsichtig wandte ich ihr das Gesicht zu. »Hat er dir gesagt, dass er sich in dich verliebt hat?«

Tillie hob die Schultern.

»Dann kannst du dir nicht sicher sein«, warf Manda ein. »Hör auf, dich fertigzumachen für etwas, das vielleicht gar nicht stimmt.«

»Ich weiß, dass es stimmt! Ich spüre es einfach. Die Art, wie er mich heute geküsst hat, war so anders. So langsam und zärtlich und liebevoll .« Das letzte Worte spuckte sie aus.

»Trotzdem«, versuchte Manda es erneut. »Wir können uns nicht …«

»Ich glaube, Leander mag sie wirklich«, unterbrach ich sie.

»Was?«

»Wieso?«

»Ich war bei Gregor im Zimmer, bis Leander betrunken angeklopft und von dir geredet hat«, erklärte ich seufzend.

»DU WARST BEI GREGOR IM ZIMMER?«

Blechern verzerrt drang Mandas Stimme an meine Ohren.

»Ja«, murmelte ich. »Und nein, es ist nichts passiert. Nicht wirklich. Aber genau deshalb irgendwie doch?«

»Wie meinst du das?«, hakte sie nach. »Hattet ihr was?«

»Eigentlich nicht.«

»Und uneigentlich haben euere Gefühle miteinander gevögelt«, warf Tillie ein.

»Bitte?« Das Wort verließ Mandas und meinen Mund zur gleichen Zeit.

Tillie zuckte mit den Schultern. »Ihr seid euch eben emotional nähergekommen, oder nicht?«

»Schon«, murmelte ich.

»Aber?«, wollte Manda wissen.

»Aber es ist Gregor. Aber er hat mir das Herz gebrochen. Aber ich habe Angst, dass er es noch mal tut. Ich … ich habe Angst, mich falsch zu entscheiden.« Mein besagtes Herz wurde ganz schwer bei diesem Geständnis. Bis ich meine Freundinnen auf dem Handydisplay anblickte und mein Herz mit einem Mal ganz leicht wurde. Meine Ängste und ich würden bei meinen Freundinnen immer in Sicherheit sein.

»Du entscheidest dich doch gar nicht.« Tillie verknotete unsere Finger fester miteinander. »Du fühlst einfach. Dagegen kannst du nichts tun.«

»Außerdem«, begann Manda, »besteht das Gebrochenes-Herz-Risiko immer. Dagegen können wir nichts tun. Aber wenn wir dem fragwürdigen Hemingway glauben wollen, sind wir dort, wo wir brechen, hinterher am stärksten. Du kennst Gregor schon. Gregor hat sich verändert. Und selbst wenn es nicht so läuft, wie du es dir erhoffst, wirst du es überleben, Lucy-Lu. Du wirst weinen und es wird wehtun, aber es gibt uns und unsere Playlists. Kein Schmerz ist für immer. Was würdest du denn einer Leserin deiner Sonntagsfragen raten, mal ganz davon abgesehen, ob du den Ratschlag befolgst oder nicht?«

Ich schluckte. »Dass es riskant ist«, flüsterte ich und dann, ohne noch einmal zu überlegen: »Aber noch riskanter wäre es, nichts zu tun, weil ein Was-wäre-wenn meistens für immer wehtut.«

Keine Ahnung, ob das, was ich da von mir gegeben hatte, wirklich Sinn ergab. Doch meine Freundinnen verstanden mich, während wir sprachen, diskutierten und Lösungen fanden, ohne wirkliche Lösungen zu finden.

»Ich hasse es so«, stöhnte Tillie irgendwann. »Manchmal wünschte ich, mein Leben wäre eine Schreibaufgabe. Selbst wenn ich bei der Handlung nicht weiterwüsste, könnte ich euch so lange nerven, bis wir das Plothole gestopft hätten. Wieso geht das in der Realität nicht?«

»Weil du das echte Leben nicht planen kannst.« Sofort hob Manda die Hände. »Und ja, ich weiß, wie abgedroschen das klingt. Aber es ist einfach so, oder? Allein TikTok. Die Videos, von denen wir uns sicher sind, dass sie viral gehen, interessieren niemanden. Und dann machen wir einfach irgendetwas in drei Sekunden und wollen es in Wahrheit nicht mal hochladen, weil wir es so scheiße finden – und Zack , fünfhunderttausend Aufrufe. Alles ist unberechenbar.«

Und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als in meinem Kopf Moderne Zeiten spielte, weil der Vergleich so passte.