Kapitel

Lucy

ALEXITHYMIA

die Unfähigkeit, seine Gefühle in Worte zu fassen

Wir bewegten uns nicht von der Stelle.

Seit gefühlten zwei Jahren und eineinhalb Liedern, während im Hintergrund die Ansage knisterte. »Liebe Fahrgäste, unsere Weiterfahrt verzögert sich um einige Minuten. Grund dafür ist ein vorausfahrender Zug, der unser Gleis blockiert.«

Unbeholfen rutschte ich auf dem Sitz umher, linste nach vorn und erkannte Gregors Locken. Tillie befand sich irgendwo hinter mir und schien eine Unendlichkeit entfernt, weil wir wieder keine Sitzplätze nebeneinander ergattert hatten. Reflexartig entsperrte ich das Handy und suchte nach der Playlist mit deutschem Indie, weil Lana Del Rey gerade spielte. Sie besang stets unendlich traurige Wahrheiten. Und das war gefährlich. Anschließend öffnete ich den WhatsApp-Chat mit Gregor. Meine Finger verharrten über der Tastatur, wobei ich nicht gegen den Ohrwurm in meinem Kopf ankam.

Ich will, dass du bleibst, weil ich verfickt noch mal nichts mit dir vergessen möchte.

Gott, wieso musste er das auch gesagt haben? Hätte er ein Online-Dating-Profil, würde es so aussehen:

Gregor, 22, 1,80. Ich habe eine Schwäche für Wörter und Sätze, die Protagonisten in diesen Liebesromanen mit den pastellfarbenen Covern sagen. Und jepp, ich weiß, was spicy Bücher sind  Smiley

Er wäre ein Hit geworden, hätte ein Superlike nach dem anderen abgesahnt und sich vor Chatanfragen kaum retten können. Aber ich hätte mein ältestes Moodboard darauf verwettet, dass er sich von Tinder fernhielt.

Da setzte sich der ICE wieder in Bewegung. Kahle Äste flogen an mir vorbei, während ein Zugmitarbeiter Pappbecher durch den Gang balancierte. Mit Was uns high macht in den Ohren tippte ich eine Nachricht an Gregor. Obwohl es nur ein einziges Wort war, hätte ich die Silben überanalysieren können. Doch ich ließ es. Manchmal musstest du es nicht besser machen, sondern einfach gut sein lassen. Ohne nochmaliges Nachdenken schickte ich die Nachricht an Gregor ab.

alexithymia

Mit einem Kloß im Hals schloss ich mein Handy ans Ladekabel an. In den nächsten Minuten erhielt ich keine Antwort. Ganz egal, wie oft ich mich reckte und Gregors Hinterkopf beäugte. Dabei hielten wir vor endlos vielen tiefblauen Schildern. Sie sagten Dortmund, Bochum und Essen. Ich erhaschte Ausblicke auf heruntergekommene Bahnhöfe. Es gibt nichts, was so trostlos ist wie der Ruhrpott , sagte man und ich verstand. Wieso Gregor mir nicht antwortete, blieb jedoch ein Rätsel. Als ob er sein Handy nicht vibrieren gespürt hätte. Als ob man sein Handy nicht dauernd auf einer Bahnfahrt checkte. Bei diesen Gedanken fühlte ich mich allerdings wie eine kontrollierende Freundin mit toxischem Verhaltensmuster, also versuchte ich, mich für die restliche Fahrzeit auf das Porträt von Emma Visser zu konzentrieren.

Als der ICE schließlich in Köln hielt, trafen Tillie und ich uns auf dem Bahnsteig. Meine Augen suchten ganz ohne mein Zutun nach einem dunklen Lockenkopf.

»Boah, ich muss so dringend pinkeln.« Sie schüttelte den Kopf. »Wieso war ich nicht im Zug?«

»Weil man sich immer erst daran erinnert, wenn eine Toilette nicht mehr verfügbar ist.«

»Es ist wie ein Gesetz, oder?« Unten angekommen nickte sie nach links. »Oh Gott, ich glaube, ich muss wirklich jetzt gehen. Scheiß Pfefferminztee für zwei Euro siebzig.«

Statt den Ausgang anzusteuern, mogelten wir uns also an den Fremden in Richtung Toiletten vorbei. Sie trugen rote Nasen und Winterjacken in gedeckten Farben. Ein Mädchen mit Bommelmütze reichte ihrer Freundin eine Handcreme in der Duftrichtung Gebrannte Mandeln, bevor wir nach links bogen.

»Ich warte hier, ja?«, sagte ich.

Tillie reckte einen Daumen nach oben, bevor sie die L’Osteria passierte und in ihrer schimmernden Jacke hinter der Ecke verschwand. Ich sah mich um und blieb kurz an dem Rewe to go hängen. Vor den Kassen drängelten sich Leute dicht an dicht, während meine Lippen sich aufeinanderpressten.

sry lucy

Keine Ahnung, wie lange mich dieses Echo noch verfolgen würde. Ich wollte gerade nach meinem Handy fischen, um mich abzulenken, als dieses Räuspern ertönte. Schluckend hob ich das Gesicht.

Und mein Herz fiel.

Gregor stand vor mir.

Eine Hand in der Hosentasche vergraben, als würde sein Hals ihn nicht verraten. Leuchtend rot stachen mir dort nämlich Flecke entgegen. Mein Blick schlängelte sich weiter nach oben. Landete auf seinem Gesicht, auf seinen Augen, die dunkler und glasiger zugleich wirkten. Beinahe wild. Mein Atem stockte, sein Kehlkopf ploppte und er machte einen Schritt auf mich zu. Achtlos ließ er seine Tasche zu Boden fallen, als wäre alles andere egal.

Was. Passiert. Hier?

Wie in seinem Zimmer schrillten Alarmglocken in mir auf. Und wie in seinem Zimmer waren sie so verflucht leicht zu ignorieren. Als hätte sich ein Filter auf meine Pupillen gelegt, verschwamm die Welt. Nur Gregor blieb gestochen scharf, als ich einen Schritt zurückstolperte und mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

Heiser räusperte ich mich. »Gregor?«

Er hatte Kreatives Schreiben studiert und war bei einer Agentur unter Vertrag. Schon jetzt arbeitete er an richtigen Manuskripten. Er ging durch die Welt wie ein Autor, leicht versteckt und mit wachsamen Augen. Er war ein Zuhörer. Ein Zuschauer. Gerade hingegen benutzte er keines seiner mächtigen Worte. Seine Lippen schienen wie versiegelt, während seine Hände sich an mein Gesicht schmiegten. Sie bebten vor Nervosität an meiner Haut und seine Aufregung schwappte auf mich über, bis sie zu meiner wurde.

»Was tun wir?«, flüsterte ich.

»Alexithymia.« Seine Stimme hatte noch nie so rau geklungen. »Die Unfähigkeit, seine Gefühle auszudrücken, hm?«

Jedes einzelne meiner Härchen stellte sich auf.

»Es tut mir leid, wenn es dir so geht. Aber ich will, dass du weißt, dass es bei mir nicht so ist. Ich könnte jetzt auch fremde Wörter nennen, weil es auf unsere verdrehte Weise irgendwie passen würde. Doch ich möchte mich nicht hinter Silben verstecken, die du ergoogeln müsstest. Ich … Fuck, Lucy. Ich will mich nicht verstecken, ich will nichts vergessen. Ich will …«

»Was willst du?«

Wir waren wahnsinnig. Mussten wir sein, weil wir im verfluchten Kölner Bahnhof standen und Gregor sich an mich klammerte, als würde er ertrinken. Letzteres war ein abgelutschter Vergleich, aber ich konnte nicht mehr klar denken.

Sein Mund öffnete sich wieder, bereit etwas zu sagen. Ich sah die Wörter auf seiner Zunge, wie viele und wichtig sie waren. Doch kurz vorm Aussprechen hielt er erneut inne.

Ich weiß es nicht.

Ich war mir so sicher, dass er sich für diesen Satz entscheiden würde. Allerdings lag ich falsch.

»Ich will das hier.«

Meine Lider flatterten, als er mir noch näher rückte. So dicht, dass ich seinen warmen Atem an meinen Lippen spürte.

»Ich will dich. Mit allem, was ich bin. Damals. Und jetzt. Jetzt noch heftiger, obwohl ich mir vor zwei Jahren sicher war, das wäre gar nicht möglich. Wenn ich genauer darüber nachdenke, täusche ich mich viel zu oft. Aber hierbei nicht.«

Im Hintergrund stapften Fremde unter blechernen Durchsagen umher. Von links wehte der Geruch von Oregano herbei. Das alles war so verdammt absurd. Und dennoch konnte ich es nicht abbrechen. Weil ich das Gleiche fühlte wie Gregor. Ich wollte weitergehen, ohne mich einen Zentimeter zu bewegen. Bloß auf Zehenspitzen stellte ich mich und umschlang zittrig Gregors Nacken. Er bebte unter meiner Berührung.

»Das war schon ein bisschen zu kitschig, findest du nicht?«

Leicht runzelte er die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Na ja«, sagte ich belustigt, um meine Nervosität zu überspielen. »Deine kleine Rede hatte etwas von diesen Abschlussmonologen in Liebesfilmen. Die, in denen die Helden ihre Gefühle offenbaren, das Mädchen küssen und dann irgendein beliebter Popsong einsetzt, bevor die Kamera rauszoomt, weil sie ihr Happy End bekommen.«

»Lucy, Lucy, Lucy.« Gregor schüttelte den Kopf. »Du hast da ein paar entscheidende Details vergessen. Erstens sind wir kein Liebesfilm. Ich bin garantiert kein Held. Und wir würden auf keinen Fall irgendeinen beliebten Popsong bekommen.«

»Ach, nein?«

»Nein, niemals. Uns würden sie ein unbekanntes Deutsches-Indie-Lied geben, um unsere besondere Andersheit zu unterlegen.«

»Wie Der letzte Song. «

»Genau.«

Und damit rückte er mir diesen entscheidenden Millimeter näher. Wenn wir einatmeten, atmeten wir uns. Wenn wir ausatmeten, berührten sich unsere Jacken.

Aber es reichte nicht.

Nichts reichte, wenn dein Herz raste, deine Hände jedoch leer und deine Augen geöffnet waren. Wenn du beobachten wolltest, wie dein Gegenüber den allerallerallerletzten Schritt machte. Es fühlte sich erneut an, wie sich auf dem Zehnerturm fürchterlich zu fürchten. Vor dem Aufprall, dem Abtauchen, dem möglichen Untergehen. Als Gregor unvermittelt innehielt, schlug es links in meiner Brust Wellen.

»Warte«, warf er ein. »Eins habe ich vergessen: Das hier ist gar nicht das Ende.«

Ich hob die Brauen. »Willst du etwa klischeehaft behaupten, es ist ein Anfang?«

»Nah, komm schon. Trau mir mehr zu.«

»Was ist es dann?«

»Einfach nur ein bisschen sein, Lu.« Er schloss die Augen, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, dabei festigte er den Griff. Ich spürte die Rauheit seiner Finger und die Kanten seiner Nägel. Meine Lider flatterten. Und genau dann, als er sich vorbeugte und ich dachte, Gregor würde mich nun küssen, endlich, nach einem gefühlt anderen, langen, langen Leben ohne ihn, zögerte er. Schlagartig schlug er die Lider auf.

»Willst du es auch?«, fragte er.

»Ja.«

Er meinte den Kuss, ich sprach von ihm.

Dann presste er seine Lippen auf meine.

Und.

Mein.

Herz.

Blieb.

Stehen.

Es stoppte, als würde der Moment so nicht vorbeigehen. Als könnten wir ewig sein, was wir natürlich nicht waren, weil wir in Körpern lebten, die aus Sternenstaub bestanden, dazu gemacht, am Ende sowieso zu zerfallen.

Doch dieser Moment war unendlich.

Mir egal, dass es – rein logisch betrachtet – keinen Sinn ergab. Aber das hatten Gregor und ich doch noch nie getan. Wir waren eine falsche Gleichung mit einem fragwürdigen Ergebnis, aber wen interessierte das schon? Wir waren beide Schreiber. Fakten, Zahlen und Rationalität konnten uns mal.

Gregors Lippen fühlten sich fest an, fest, fremd und gleichzeitig vertraut. Gregor vereinte alles. Wie immer waren wir ein und . Und es war großartig. Denn wir neigten unsere Köpfe, ohne dass wir uns berührten. Gregor hatte mich vor weniger als achtundvierzig Stunden über meinem Slipstoff geleckt, bis ich auf einem Arbeitstisch gekommen war. Es war betörend und schmutzig und heiß gewesen. Jetzt küsste er mich so sanft, als wäre es das Nonplusultra. Leicht zupfte er an meiner unteren Lippe, sog sie in seinen Mund, brachte mich zum Seufzen. Er küsste mich nicht mit Zunge. Alles war unschuldig. Viel zu unspektakulär für einen von diesen erotischen Romanen, die auf TikTok gezeigt wurden. Allerdings spielte es keine Rolle. Gregor presste seinen Mund auf meinen, seine Nasenspitze dicht an meiner. Und mein Körper wurde flüssig. Alles in mir rauschte, ich ertrank in mir selbst und wollte nie wieder auftauchen.

Aber das ging natürlich nicht, denn wir brauchten Luft. Atemlos machte Gregor sich von mir los. Seine Brust hob sich angespannt. »Lucy«, flüsterte er und die Gefühle in seinen Augen liefen über. Zum zweiten Mal in zwei Tagen. Für mich.

Mein Herz drohte zu zerschellen.

Gregor sagte nichts weiter, nur meinen Namen. Doch es reichte, weil diesmal alles reichte. Weil sein Griff in meinem Nacken noch fester wurde, bevor seine Lippen erneut auf meine prallten. Diesmal küsste er mich anders. Zärtlich, doch heftig, während er mit seiner Zunge in meinen Mund drang. Meine Finger kribbelten, ich wollte mich in seine Schultern krallen. Ich wollte Spuren hinterlassen. Ich wollte ihn an meinem Mund stöhnen hören, nur damit er mich noch zärtlicher küsste. Denn das blieb es: zärtlich. Es war sanft, wie seine Zunge mit meiner spielte. Wie er immer wieder an meiner Lippe zupfte. Wie liebevoll seine Nägel über meinen Nacken streichelten. Wir küssten uns auf diese endlose Weise, nur dem Küssen wegen, nicht, um weiterzugehen.

Weil es immer noch reichte.

Küssen, küssen, küssen.

Jetzt war ich es, die ihren Griff festigte, während Gregors Hand weiterhin in meinem Nacken ruhte. Ich wollte ihn näher an mich heranziehen, doch …

»Ähm?« Tillie. Das war Tillie.

Gedämpft hörte ich ihr Flüstern in der hintersten Ecke meines Kopfes. Dabei presste Gregor mich fester gegen seine Brust. Mit seinen Fingern fuhr er meine Wirbel nach. Unsichtbare Brandspuren hinterließ er damit.

»Leute?«

Ruckartig löste ich mich von Gregor. Ich wollte Tillie ansehen, blieb jedoch an Gregor hängen.

Träge wie in Trance öffnete er die Augen. Sie waren weiches Grünbraun. Als sein Blick auf meinen traf, blitzte es in seinen Pupillen auf.

»So was von echt, Lu.«

Seine raue Stimme jagte Schauder über Schauder durch meinen Körper. Gregor schien davon nichts zu bemerken. Er sammelte die Tasche vom Boden auf, warf sie sich über die Schulter und sich selbst in die Menge. Blinzelnd beobachtete ich, wie seine hochgewachsene Gestalt im Bahnhofstrubel verschwand. Jedes meiner Härchen stand senkrecht nach oben, ich war gespannt bis in die Zehenspitzen.

»Was. Zur. Hölle. War. Das?« Tillies Stimme drang dumpf an meine Ohren.

Ich schüttelte den Kopf, horchte in mich hinein, suchte nach Worten und fand nur Gefühle.

»Ich weiß es nicht.«

Alexithymia.