Gregor
VIERTEL VOR IRGENDWAS
guter Ohrwurm
Hätte Musik bei unserem Kuss eingesetzt, wäre es Betterov mit Viertel vor Irgendwas gewesen.
Ich wollte es Lucy sagen. Direkt am nächsten Morgen, an diesem Montag voller gähnender Studenten, die sich mit mir unterhielten, ohne dass ich mich mit ihnen unterhielt. Jeden Raum, den ich betrat, suchte ich nach ihr ab, obwohl ich ganz genau wusste, dass wir kein einziges Seminar zusammen hatten. Aber so war das, wenn man verliebt war, oder? Wir hofften auf das Unwahrscheinliche, auf zufällige Dauerbegegnungen und Happy Ends, wie es uns die Liebesgeschichten beibrachten.
Niemand war immun dagegen. Ich schon gar nicht. Ehrlich gesagt hätte ich alles für ein Ende gegeben, wenn es einen Anfang bedeutet hätte. Ich wollte den Epilog, den Kuss und das Versprechen auf ein heuchlerisches Für immer . Ich wollte den Glitzer. Das volle Herz. Dieses zufriedene Seufzen beim Zuschlagen eines Friedefreudeeierkuchenromans. Wären wir ein Film, würde ich bereits beim Abspann auf Erneut ansehen klicken. Kitschig und gleichzeitig wahr.
Aber Olgas neuste Mail erreichte mich um kurz nach elf. Der Betreff: Wie geht’s weiter? Und das erinnerte mich daran, dass ich dieses Buch immer noch beenden musste.
Weil ich so ein gewissenhafter Masterstudent war, schwänzte ich die Seminare am Nachmittag. Direkt vom Campus aus fuhr ich in die Kölner Arcaden, um dort den Rewe anzusteuern. Er besaß die größte Auswahl an Proteinriegeln, die nicht wie versüßte Staubscheiße schmeckten. Ich schmiss außerdem zwei Salatgurken und ein Monsterpaket an Magerquark in den Einkaufskorb und hinterließ ein Vermögen. Auf der Heimfahrt las ich mir Lucys Sonntagsfrage auf ihrem Blog durch.
Ich hatte Sex auf einem ersten Date. Meine Freundinnen verurteilen mich. War es falsch?
Ich scrollte mich durch ihre getippten Worte und dachte noch heftiger an sie. Ich wollte ihr schreiben, aber ich wollte sie nicht bedrängen. Mein Blick zuckte immer wieder zu meinem Handy, in der Hoffnung, Lucy hätte mir geschrieben. Jede Nachricht, die mich nicht erreichte, tat weh. Es könnte der Slogan meiner Generation sein und unsere Eltern hätten die Köpfe geschüttelt. Mein eigener Kopf stellte sich trotzdem vor, wie ich ihr zusammenhangslos den besagten Song schickte.
Keine Ahnung, wieso ich daran dachte, als ich gegen drei in meiner Küche stand. Leise plätscherte meine KUMMER-Playlist aus der Lautsprecherbox. Ich stand barfuß vor der Arbeitsfläche und schälte Gurken für einen viralen Salat, weil TikTok sogar mein Essensverhalten beeinflusste. Also aß ich die Gurken-Sesam-Chili-Pampe und dazu fünfhundert Gramm Magerquark. Bombe. Aber es ging noch schlimmer. Denn als ich gleich nach dem Essen abspülte, hörte ich mein ungeöffnetes Doc immer lauter nach mir rufen.
Gregor, was machst du? Gregor, wo bist du? Gregor, wann machst du mich fertig, damit du endlich aufhören kannst, dich selbst fertigzumachen? Gregor? Gregor!
Ich hörte keine Stimme. Ich hörte ein verfluchtes Word-Dokument. Gott, das war so krank. Seufzend schnappte ich mir das Notebook und fuhr es an meinem Küchentisch hoch. Dabei huschte mein Blick nach draußen. Es dämmerte bereits, trotzdem hatte ich das Bedürfnis, wieder rauszugehen. Ins Aqualand, einige Bahnen schwimmen. Spazieren gehen, ein paar Schritte sammeln. Ins Fitnessstudio, die Ringe auf meiner Watch vervollständigen.
Ich biss mir auf die Lippe, um abzuwägen. Der Cursor blinkte dabei auf der leeren Seite. Ein Blinken für jedes Wort, das ich in der Zeit nicht tippte. Wieso war es so unglaublich viel einfacher, mein Aktivitätslevel und meine Proteineinnahme zu kontrollieren als eine Geschichte? Leider war da niemand, der mir eine Antwort gab. Ich hatte nur mich. Und dieses Foto von Emma Visser, das ich in diesem Moment aus meiner Laptoptasche kramte. Erwin hatte es mir kurz vor unserer Abfahrt sneaky wie ein Dealer zugesteckt.
»Du solltest es behalten«, hatte er gesagt.
Bullshit. Was ich sollte, war schreiben, aber vielleicht war sie ja wirklich eine Inspiration. Ein Ausnahmetalent. Mit zitternden Fingern legte ich das Foto auf den Tisch. Es war ein Selbstporträt mit viel Schattenspiel und nackter Haut, das sich in einem Punkt von ihren anderen unterschied. Emma Visser lächelte. Breit und schief und wunderschön.
Es erinnerte mich an das Bild, das ich in der zweiten Semesterwoche aus dem Archiv mitgenommen hatte. Jenes, das versteckt in der untersten Schublade meiner Kommode lag, weil ich mich so schuldig dafür fühlte.
Fuck.
Magensäure kroch mir den Hals hinauf, als ich mich tiefer in den Stuhl sinken ließ. Meine Fingerspitzen zitterten nicht, sie bebten.
Ich hatte etwas zu sagen. Das wusste ich.
Ich hatte es nur nicht so zu sagen.
Es war ein Aufgeben, als ich nach dem Handy griff. Aber es war mir egal. Man konnte nichts verlieren, wenn man schon verloren hatte. Auf TikTok hätte mir jetzt irgendeine Lauren mit Edelsteinen auf einem Schweberegal erklärt, dass das Selbstsabotage war. Doch auch das war mir gleichgültig, weil ich immer noch einen Ohrwurm von Betterov hatte. Von der Zeile, in der er das egal in die Unendlichkeit zog.
Es war meine liebste Stelle.