Lucy
KÜSSEN
Findet jemand Synonyme?
Die Tür öffnete ich ihm keine vierzig Minuten später.
Seine Schritte hallten leise im Treppenhaus wider. Zögerlich. Als er vor der Türmatte stoppte, schluckte ich. Er sah aus, wie er immer aussah. Jeans, Hoodie, Jacke. Heute trug er sogar eine Beanie. Die Kälte von draußen brachte er mit in meine Wohnung.
»Hier.« In meinem Flur streckte er mir Magazine entgegen. »Für dich.«
»Ist das etwa ein Gastgeschenk?«
»Es ist das, was du willst.«
»Sehr poetisch.«
»So bin ich anscheinend laut den Teilnehmern der Romanwerkstatt.«
Belustigt rollte ich mit den Augen, während er aus den Schuhen schlüpfte. Anschließend stülpte er sich die Mütze von den Locken, die leicht feucht wirkten und seine Augen noch riesiger erscheinen ließen.
Ich könnte in ihnen untergehen , dachte ich. Schon wieder.
Hastig sah ich zu Boden, doch es war nicht besser. Dort landete mein Blick nämlich auf seiner Hand, die niemals nur eine Hand gewesen war. Seine Hand, mit der er seinen Ständer auf und ab gefahren war, während er ins Telefon gestöhnt hatte. Nicht einmal eine Stunde war es her. Nervös deutete ich in meinen Flur, bevor ich uns in die Küche führte.
»Willst du etwas trinken, oder so?« Ich legte die Magazine auf der Tischplatte ab.
»Klar, gerne«, sagte er.
Wortlos befüllte ich den Wasserkocher und knipste ihn an. Im Hintergrund lief immer noch Musik, allerdings eine andere Playlist. Auf meiner Fensterbank glühte eine Lichterkette, die mir in den Augenwinkeln entgegenblitzte.
»Mit welcher fangen wir an?«, fragte Gregor.
Wasserdampf breitete sich im Raum aus und beschlug die Fenster. Verwirrt blinzelte ich ihn an.
»Na, mit welcher Zeitschrift beginnen wir?«
»Stopp mal.« Verwundert trat ich einen Schritt zurück. »Wir haben versehentlich Telefonsex, weil du mir eigentlich eine Sexszene schreiben wolltest. Um zu beweisen, dass Männer das angeblich doch können. Und jetzt stehst du vierzig Minuten später bei mir auf der Matte und willst mit mir zusammen problematische Sätze in Frauenmagazinen unterstreichen?«
»Nicht wirklich korrekt«, widersprach er. »Davor haben wir uns geküsst. Vor dem Kuss hatten wir eine Irgendwie-Rummachsession in einem Aufenthaltsraum. Davor haben wir schon mal gemeinsam problematische Aussagen in Frauenmagazinen unterstrichen, du weißt es nur nicht mehr.«
Der Wasserkocher pingte, doch ich konnte mich nur auf Gregors Mundwinkel fokussieren, die sich anhoben. Er grinste, langsam und schüchtern. Es war das Gegenteil eines Zahnpastalächelns, der Antiheld eines Lächelns. Die Trauriger-Schriftsteller-Version davon.
»Alsooo.« Wie selbstverständlich setzte Gregor sich an den Tisch. »Womit fangen wir an?«
Noch immer verwirrt trat ich näher, um gemeinsam mit Gregor die Cover zu begutachten. Sie alle zeigten blonde Strahle-Lenas mit Endlosbeinen. Die Überschriften überboten sich mit den neusten Trenddiäten und Beautytipps.
»Ganz egal«, sagte ich leicht betreten. »Da steht sowieso überall nur derselbe Scheiß drin. Du kannst aussuchen.«
Gregor entschied sich plump für die zuoberst liegende Zeitschrift, während ich uns den Tee aufbrühte. Anschließend ließ ich mich ihm gegenüber nieder und fragte mich, wie absurd das alles doch war. Gregor. Gregor Beck in meiner zusammengewürfelten Küche auf einem meiner zwei liebevoll ausgesuchten Rattanstühle. Er schlug die erste Seite auf und wollte gerade anfangen zu lesen, da sah er zögerlich auf.
»Ich … ich habe mir TikTok und Instagram übrigens nicht einfach so gemacht. Als ich hier angekommen bin und von @thegirlnextdoor gehört habe, war ich zu neugierig. Ich wollte unbedingt sehen, was du teilst.« Beinahe ehrfürchtig schüttelte er den Kopf. »Es ist einfach großartig, Lucy. Die Videos, die Einträge, vor allem deine Sonntagsfrage. Ich habe mir alle Beiträge durchgelesen und …«
»Du hast dir alle Beiträge durchgelesen? Das sind locker über hundert Stück.«
»Hundertelf, um genau zu sein.«
»Wieso hast du das getan?«
»Wieso wohl?« Er hob die Schultern. »Weil ich wissen wollte, was du denkst. Wie du denkst. Was du zu sagen hast, wenn du den anonymen Fragestellerinnen zur Seite stehst.«
Sein Blick wurde so intensiv, dass ich zu den verhakten Fingern in meinem Schoß hinuntersah.
»Oft kann ich ihnen gar nicht helfen.«
»Aber darum geht es den meisten doch gar nicht.« Gregor rutschte auf seinem Stuhl umher. »Sie schreiben dir, weil sie gesehen werden wollen. Die Lösung ist zweitrangig. Sie wollen nur gehört werden. Und du hörst sie.«
»Das …« Ich könnte die Finger in den Ärmeln und den Hals im Kragen meines übergroßen Pullovers vergraben, ich würde mich trotzdem nackt bis auf die Seele fühlen. Weil auch Gregor mich sah. »Danke.«
»Wofür?«
»Fürs Verstehen«, murmelte ich.
Er schenkte mir ein schiefes Grinsen. Eine Locke verirrte sich dabei in seine Stirn. Ich würde nie vergessen, wie dieser wunderschöne Typ mit den zerzausten Haaren mich in diesem Moment ansah. Ein bisschen geschockt, ein bisschen erleichtert, mit Abermillionen von Gefühlen in den Augen. Mein Herz schlug Saltos. Ich fühlte mich, als würde ich fallen.
Ich fühlte mich echt und eins und endlos. Und ich wusste, ich konnte ihm davon erzählen. Ihm alles erzählen.
»Ich sitze mit meinem Bruder im Auto meiner Mutter. Ich bin fünf und mein Bruder ist sieben. Wir rasen von Lidl nach Hause. Meine Mutter wird geblitzt. Sie flucht am Lenkrad, obwohl sie nie flucht. Zu Hause packen wir die Einkäufe nicht aus, weil Mama sofort nach der Tüte mit den gefrorenen Chicken Wings greift und sie in den Ofen ballert. Dann setzt sie sich davor und schaut den Hähnchenteilen beim Garwerden zu. Ihr Bauch knurrt. Sie hat so Hunger, das sagt sie die ganze Zeit, weil sie den Tag über nichts gegessen hat und sich an einer neuen Low-Carb-Diät probiert, die sie sich aus einer dieser Zeitschriften …« Ich deutete auf die Tischplatte. »… ausgeschnitten hat. Es ist die erste wirkliche Erinnerung an meine Mutter, die ich habe.«
Gregor kippte den Kopf. Er sah die Ränder des Problems, konnte es allerdings noch nicht ausmalen.
Schluckend fuhr ich fort. »Ich … ich habe das noch nie jemandem erzählt. Meine Mutter hat alle diese Zeitschriften gelesen. Mein Zuhause war voll mit ausgerissenen Artikeln zu Kohlsuppendiäten und irgendwelchen Beautyhacks. Ich bin quasi damit aufgewachsen. Und ich weiß, ich weiß, dass sich vieles gebessert hat. Selbst Heidi Klum macht jetzt einen auf Diversity, weil es ja so im Trend ist.« Meine Hände ballten Fäuste. »Aber es ist trotzdem alles heuchlerisch. Eine Marketingstrategie, die gerade gut funktioniert. Statt So verlieren Sie drei Kilo Bauchfett in zehn Tagen heißt es jetzt Das Workout für innere Stärke. Das neue Glückspilates #bodygoals . Es ist derselbe Mist, nur anders betitelt, damit es auch schön in die aktuelle Wellness Culture passt. Es ist so wie auf TikTok. Superschlanke Frauen filmen ihre spärlichen Mahlzeiten nicht mehr ab, weil sie dafür Hasskommentare bekommen. Stattdessen ist How I healed my gut angesagt, um zu erzählen, wie viele Papayas sie am Tag essen und welches Green Powder sie mit welchem Rabattcode zu sich nehmen.« Meine Stimme wurde unendlich leise. »Es ist so frustrierend. Mir ist bewusst, dass ich zu groß träume. Und ich weiß nicht, ob ich jemals Kinder haben will oder werde, aber allein bei der Vorstellung, dass ich eine Tochter haben könnte, die mit denselben gesellschaftlichen Mustern aufwachsen muss, möchte ich weinen. Ich muss wenigstens versuchen, etwas zu verändern, ganz egal, ob ich scheitere oder nicht. Ich will das einfach. Ich bin überzeugt von meinem Traum, auch wenn ich dafür auf Familienfeiern belächelt werde. Sollen sie ruhig. Ich weiß nicht, ob ich an mich glaube. Ich meine, ich hinterfrage mich fast minütlich selbst. Aber das ist egal, denn ich glaube an meine Vision wie an nichts anderes. Zu tausenddreihundert Prozent. Und das reicht mir.«
Als ich verstummte, biss ich mir auf die Zunge. Kurz hatte ich das Gefühl, zu viel über mich verraten zu haben. Gregor wie mit WhatsApp-Nachrichten zugespamt zu haben, auf die er mir nicht antwortete. Zwei, drei Sekunden wirkte es tatsächlich so, als wäre er hinter seinem Tee eingefroren. Doch plötzlich beugte er sich über den Tisch und für einen Moment dachte ich, er würde nach meiner Hand greifen. Ich wünschte es mir sogar. Doch er schnappte sich bloß die Leuchtmarker, die noch von meiner Arbeit an Emma Vissers Porträt auf der Tischplatte lagen. Einen davon hielt er mir vor die Nase.
»Los«, sagte er. Sein Blick war entschlossen. »Ändern wir etwas, Lucy.«
Als ich den Stift annahm, streiften sich unsere Finger. Meine Lippen öffneten sich, sein Kehlkopf ploppte. Es war wie ein Elektroschock.
Fünf Minuten später überflog ich gerade die Sexkolumne in einer der Zeitschriften, da bemerkte ich Gregors verwirrten Blick. Mit geschlitzten Lidern betrachtete er meine Musikbox.
»Das Lied. Das ist Viertel vor Irgendwas , oder?«
»Ja, genau. Voll gut, oder?«
Verwundert schüttelte er den Kopf.
»Was ist?«, fragte ich.
Statt mir zu antworten, stützte er sich auf den Ellbogen ab und lehnte sich vor. Als seine Augen noch dazu glasig schimmerten, wurde es in meiner Kehle trocken.
»Das Lied hat in meinem Kopf gespielt, als wir uns geküsst haben.«
Sein Blick zuckte von meinen Augen zu meinen Lippen. Instinktiv beugte auch ich mich vor. Jeder Zentimeter meiner Haut pochte. In meinen Lippen pulsierte es. Ich war mir so sicher, dass er mich küssen würde. So, so, so, so sicher. Bis er sich in letzter Sekunde wieder zurückfallen ließ und sich dem Magazin widmete, als wäre nichts gewesen.
Mit rasendem Herzen blickte ich nach unten. Meine Finger hatten den Leuchtmarker beinahe zerquetscht. Die Spitze war an meine Haut gekommen, sodass ich mich an der Innenseite meines Zeigefingers selbst angemalt hatte.
Die Linie war wellenförmig.
Und blau.
»Also dann.«
Kurz vor zehn brachte ich Gregor zurück zur Tür. Die letzten Stunden hatten wir mit den Magazinen und Musikhören verbracht. Die meiste Zeit hatten wir geschwiegen, trotzdem war es so unsagbar laut gewesen. Drei Gründe: Das Herzrasen. Das Herzrasen. Das Herzrasen. Ganz egal, ob ich ihn versehentlich mit dem Ellbogen berührt hatte oder seine Füße unter dem Tisch meine gestreift hatten.
Ich beobachtete, wie er sich die Beanie überzog und den Reißverschluss bis zum Kinn schloss, bevor ich die Tür öffnete. Kalter Wind wehte in meine Wohnung, ich deutete ein Winken an und …
»Fuck, okay«, flüsterte er. »Ich halt es nicht aus.«
Ich blinzelte, als er plötzlich näher trat und mir sanft eine Strähne hinter das Ohr strich. Dann lehnte er sich zu mir, langsam, um sich zu versichern, dass ich es auch wollte.
Ich nickte.
Ich wollte. Und dann küsste Gregor Beck mich zum zweiten Mal in unserem neuen Leben. Er küsste mich lange und intensiv, gegen die Wand und an seine Brust gedrückt, bis meine Lippen taub waren und mein Herz alles fühlte.
Küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen, küssen.
Es war nur küssen, um zu küssen. Es war das beste Gefühl auf der Welt. Dafür wollte ich nicht einmal Synonyme suchen.
»Ciao, Lu«, sagte er irgendwann, wahrscheinlich um Viertel vor irgendwas, wobei er winkte und in mein dunkles Treppenhaus verschwand.
Ich weiß nicht, wie lange ich mit durchgeküssten Lippen dastand und durch die offene Tür in die Dunkelheit starrte, während alles in mir sich hell und leuchtend anfühlte.
Vielleicht zwei Ewigkeiten lang.