Kapitel

Gregor

FEUILLEMORT

keine Farbe zum Ausmalen

Damals

Wir hockten in langen Hosen vor unserem See, während die ersten Laubblätter zu Boden segelten. Das war zwei Tage vor unserer Abfahrt. Mein Herz war weit und geöffnet, doch auf unseren Schultern ruhte eine Schwere.

Ich würde gehen. Lucy würde gehen. Wir würden verschiedene Richtungen ansteuern und meine Gedanken nahmen eine Million Abzweigungen, auf denen unsere Wege sich nicht mehr kreuzten.

Ich fürchtete mich. So sehr.

»Feuillemort«, sagte sie unvermittelt und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Wusstest du, dass es das französische Wort ist, um die Farbe eines sterbenden Blatts zu beschreiben?«

»Nope, aber sehr poetisch.«

»Hey.« Sie boxte mir gegen den Oberarm. »Du bist der, der Fiktion schreibt.«

Dort, wo sie mich berührt hatte, brannte es. »Okay, okay. Dann bin ich jetzt wohl dran, um mit ästhetischen Pinterest-Fremdwörtern zu glänzen.« Ich legte eine dramatische Pause ein. »Basorexia.«

»Das überwältigende Bedürfnis, eine Person zu küssen. Das hast du mir schon auf ein Zettelchen geschrieben.« Lucys Augen funkelten. »Ich hab eine Idee.«

»Und die wäre?«

»Wir finden Vergleiche dafür.«

»Für Basorexia?«

»Ja. Dann haben wir nicht nur Erinnerungen an diesen Sommer, sondern sogar eigene Wörter.« Sie lachte, als wolle sie ihre darunter liegende Nervosität vertuschen.

Weil ich meiner Stimme gerade nicht traute, nahm ich ihre Hand in meine. Mein Puls beschleunigte. Ich wollte Lucy nicht loslassen. Ich wollte nichts loslassen und ich wollte auch nichts hinter mir lassen. Ich wollte, dass wir für immer hier sitzen blieben. Denn wenn Schweigen Gold war, war diese Art von Berührungen unbezahlbar.

Scheiße, Beck, seit wann bist du bitte so kitschig?

Seit ich verliebt bin. So simpel ist das.

Ich räusperte mich. »Du beginnst.«

»Hmmm.« Lucy kippte den Kopf. »Dich zu küssen, fühlt sich so an, wie von einer Party mit der Person nach Hause zu gehen, mit der du den ganzen Abend reden wolltest.«

Ich weiß nicht, wie lange wir dort saßen und diese bescheuerten Vergleiche erfanden, während ich ihr doch eigentlich die ganze Zeit über sagen wollte, dass ich Angst hatte. Weil ich fürchtete, wir könnten uns verlieren, wenn wir einander nicht mehr Wir treffen uns morgen um dieselbe Zeit hier zuflüstern konnten.

Doch Lucy lächelte, als würde es schon klappen.

Und ich glaubte ihr.

Ich glaubte ihr, weil ich an uns glaubte, wie ich an noch nie etwas anderes geglaubt hatte.

»Dich zu küssen, fühlt sich so an, wie mich zum ersten Mal zu verlieben«, gestand ich.

Ich würde nie vergessen, wie sie mich daraufhin ansah. Ihre Augen glühten, ihre Mundwinkel verzogen sich und ihr Lächeln war alles. Für mich würde es das immer sein. Dann rückte sie dichter an mich heran, bevor ich die Augen schloss und ihre Lippen an meinen spürte. Letztendlich ist küssen nur ein Wort. Worte sind Gedanken, sie werden gedacht, geschrieben und gelesen. Sie sind ungreifbare Silben und gerollte Laute. Aber küssen tut man und küssen mit Lucy fühlt man. Und ich wollte nie wieder aufhören zu fühlen.