Lucy
KRÜMELKÖNIGIN
ein Titel, zu dem es keine Krone gibt
Ich entschied mich für meine Stiefel mit dem höchsten Plateau.
Bevor ich die Wohnung verließ, checkte ich mein Aussehen im Spiegel. Ich trug Boots, Jeans und meinen übergroßen Pullover mit dem wunderbaren Kragen in stählernem Grau. Mein Haar hatte ich zu einem strengen Zopf gebunden, der Pony saß perfekt. Ich richtete meinen Jutebeutel, dann folgte ein letzter Spritzer des Parfums.
Draußen stöpselte ich mir die AirPods ein, während ich den Hauptbahnhof ansteuerte. In der S-Bahn zogen wieder tiefblaue Schilder mit Städtenamen an mir vorbei, während ich mir Notizen für unseren nächsten Blogbeitrag machte. Dafür hatten Tillie, Manda und ich uns vorgestern mit Schreibunterlagen auf mein Bett gequetscht und uns einen 2000er-Film nach dem anderen reingezogen. Werden Frauen von romantischer Liebe unterdrückt? Unser Thema war das Frauenbild in den Medien. Wie es uns vermittelte, dass wir nur durch einen Mann vervollständigt werden könnten. Eine Frau musste bloß geduldig und loyal genug sein, um ein Biest in einen Prinzen zu verwandeln. In einen Prinzen, für den wir – wenn wir nicht den gesellschaftlich akzeptierten Schönheitsidealen entsprachen – mit einem aufwendigen Make-over im Handumdrehen zur Prinzessin wurden. Dafür gab es unzählige Beispiele in Filmen, die ich als Teenager so geliebt hatte.
Ich brannte für das Thema. Mein einziges Problem an der Sache? Dass ich gerade wie festgewurzelt auf einem Sitz des Regionalverkehrs hockte. Letzteres würde sich auch für die nächsten knapp zwei Stunden nicht ändern. Also arbeitete ich nicht, war faul und starrte gedankenlos durch das Fenster, bis ich endlich Dortmund Kruckel erreichte.
Auf dem Weg nach Hause passierte ich kahle Äste. Der Wind war so scharf und stechend, dass er mir die Lunge freiblies. Das war gut. Supergut. Großartig, weil ich keinen Ballast mit nach Hause nehmen wollte. Wieso herrschte in meinem Kopf dann weiterhin dieses Wirrwarr? Kurz bevor ich die Doppelhaushälfte erkannte, vibrierte mein Handy.
Gregor
Ich denke an dich
Mein Herz wurde warm, ohne dass ich verbrannte. Ein sachtes Glühen breitete sich in meinem Körper aus.
Etwas hatte sich in den Wochen nach unserem Kuss verändert. Wir waren anders. Ich wollte Gregor, wie ich Gregor noch nie gewollt hatte, wenn er über den Campus schlurfte und mir dieses versteckte Grinsen schenkte. Jenes, das mich immer fand und erreichte.
Liebe Lucy, ist das statt wollen nicht viel mehr lieben?
Aber konnte man jemanden lieben und dann noch einmal lieben? War das nicht viel zu riskant, wie ich meiner Leserin unterschwellig erklärt hatte? Doch da schoben sich die zehn Mitchell-Modern-Family- Prozent in meine Gedanken. Ich glaubte an sie. Tatsächlich könnte gerade alles gut werden. Ich war glücklich. Und lächelte Mama an, die mir in Rekordgeschwindigkeit die Tür öffnete.
»Lucy, Schatz!« Sie schenkte mir ihr strahlendstes Grinsen, bevor sie mich mit einer Umarmung überfiel. Kurz presste sie mich an ihre Brust, infiltrierte mich dabei mit ihrem Parfum und ihrer Liebe. »Komm rein, komm rein«, sagte sie. »Die anderen sind schon da.« Mama hatte die blondbraunen Haare zurückgebunden, trug einen hellen Plisseerock und einen flauschigen Pullover im selben Ton. Damit hätte sie genauso gut Outfits of the Day teilen können wie ich.
Ihr sanftes Parfum kitzelte mir in der Nase, als ich ihr den Flur entlang folgte, vorbei an aufgehängten Bilderrahmen mit unseren Gesichtern in verschiedenen Formaten. Wenn ich einatmete, sog ich den Geruch nach Tannennadeln und Gewürztee ein. Mama liebte den Advent. Sie stand auf das Dekorieren und das volle Haus. Wie sie Gastgeberin spielen, Glühwein aufsetzen und Plätzchen aus Mürbeteig formen konnte, ohne selbst danach zu greifen.
Im Wohnzimmer entdeckte ich sie alle: Yasmin, Hannah, Mia und ihre Mütter. Wir kannten uns seit der Krabbelgruppe und unsere Eltern waren stolz darauf. Doch als ich mich wie jedes Jahr auf meinen Platz an dem gedeckten Tisch setzte und mich mit meinen Kindheitsfreundinnen unterhielt, fühlte es sich nicht ausgelassen an. Eher aufgesetzt wie ein semiwichtiges Geschäftsessen, in dem sich jeder von seiner besten Seite anpries. Die Mütter meiner Freundinnen erzählten von Studiengängen, von Praktika in angesehenen Firmen und rosarosigen Zukunftsplänen.
»Ach, Hannah mit ihrem Dualen Studium bei Siemens. Sie hat immer so viel zu tun, trotzdem bekommt sie alles ganz fabelhaft unter einen Hut, nicht wahr, Schatz?«
»Yasmin und Lennart reden seit einer Weile über ihre Verlobung. Gott, ich kann gar nicht glauben, dass mein kleines Mädchen schon so groß ist.«
»Mia hat vor Kurzem ein Auslandspraktikum ergattert. Bei einem nachhaltigen Start-up in San Francisco. Und die Wohnung, die sie ihr bezahlen, die müsst ihr euch echt mal ansehen. Hier …«
Wie immer schritt das Gespräch so voran, dass sie uns irgendwann gar nicht mehr brauchten. Also nippten wir am Glühwein und entwickelten unsere eigene Dynamik.
»Aber oha, Lucy«, sagte Yasmin, als sie sich eine weißblonde Strähne hinter das Ohr schob. »Bei dir und deinen Freundinnen läuft’s ja richtig auf Social Media. Voll cool.«
»Danke.« Ich faltete die Serviette zwischen meinen Fingern. »Nur die Hasskommentare sind manchmal halt nicht so cool.«
»Auf TikTok ist es bestimmt am schlimmsten, oder?« Hannah schnappte sich ein sternförmiges Plätzchen. »In meinen Psychologievorlesungen reden wir voll oft davon. Menschen sehen dort andere Menschen, die schöner, besser, schneller und erfolgreicher sind als sie. Sie werden neidisch, halten sich selbst nicht aus und lassen dich das dann spüren.«
»Die Leute haben einfach keine Ahnung, wohin sie mit ihrem Selbsthass sollen.« Yasmin schüttelte den Kopf. »Deshalb landet er unter deinen Videos.«
Mia setzte eine ehrlich zerknirschte Miene auf. »Ich hoffe, du nimmst dir das alles nicht so sehr zu Herzen. Die Kommentare sagen viel mehr über die Verfasser aus als über dich.«
Alle lächelten mir zu, warm und freundlich mit ihren verschiedenen Lipglossfarben. Dabei wusste ich, dass wir uns nicht mehr nahestanden. Das hier war anders. Ein inniger Freundschafts-One-Night-Stand, der sich jährlich zum dritten Advent wiederholte. Trotzdem fühlte ich mich verstanden von Yasmin, Hannah und Mia mit den perfekten Pärchenfotos auf Instagram.
»Cheers darauf!«, rief ich und hielt meine Glühweintasse in die Höhe. Als wir anstießen, tropfte mir heiße Flüssigkeit auf den Handrücken. Beinahe spürte ich es nicht, so warm war mir.
Eine halbe Stunde später wusch ich mir die Hände im Badezimmer. Ich wollte gerade wieder das Wohnzimmer ansteuern, verharrte allerdings vor der halb angelehnten Tür. Dumpf schallten mir die Stimmen meiner Freundinnen entgegen.
»Habt ihr das von Amalies und Fabis Verlobung gehört?«
»Oh Gott, ja. Sie hat sogar ein Bild von der Feier auf Facebook geteilt. Ich meine Facebook . Und dann ihr ultraenges Kleid. Eine Nummer kleiner gab’s wohl nicht.«
Instinktiv begannen meine Schläfen zu pochen. Am liebsten wäre ich in das Wohnzimmer marschiert und hätte mich in meinen höchsten Plateaus vor ihnen aufgestellt. Ich hätte ihnen erklärt, dass ihr Verhalten falsch und misogyn war. Dass das größte Problem von allen das war, dass Frauen Frauen hassten. Dass das Patriarchat dadurch gewann und wir alle etwas verloren.
Doch die Worte verkohlten mir auf der Zunge, weil ich mich keinen Zentimeter bewegte. Weil ich wusste, dass sie es nicht so meinten. Immerhin war Fabi Hannahs Freund gewesen, bevor er mit Amalie auf ihrer Vofi rumgemacht hatte. Meine Freundin war betrogen worden. Seitdem hegte sie einen Groll und das war schließlich gerechtfertigt. Im Grunde meinte die Runde es gerade wirklich nicht so.
Aber, liebe Lucy, meinen es denn nicht alle Leute nie wirklich so?
Mist. Wieso musste sich die Moralapostel-Liebe-Lucy- Stimme auch ständig melden? Gerade wollte ich mich aufrappeln, um keine Ahnung was zu tun, da vibrierte mein Handy. Ich zog das iPhone aus meiner Jeanstasche und stellte fest, dass es eine Nachricht in der Campuskitsch- Gruppe war. Mila hatte einen Screenshot geteilt.
Mila (Uni)
ihr seid also offiziell der Hammer
@Lucy,
@Gregor
Meine Mundwinkel zuckten. Meine Panik aufgrund der Erstausstrahlung war unbegründet gewesen. Das Feedback war bisher durchweg positiv ausgefallen, die Redaktion und Alumni waren zufrieden. Mit einem wohligen Gefühl öffnete ich das Bild, auf dem sie eine Spotify-Rezension hervorgehoben hatte. Es war eine Lobeshymne, verfasst von einem User namens @thelitshit. @thelitshit verlor nur gute Worte über uns, betonte, wie perfekt wir harmonierten und wie interessant wir unsere Inhalte gestalteten. Der absolute Hammer, gerne mehr davon! , hatte er ans Ende getippt. Trotzdem klopfte mir das Herz bis zum Hals, als ich gleich eine andere Rezension darunter bemerkte. Sie bestand lediglich aus einigen Sätzen, doch sie reichten.
So war das mit den schlimmen Sätzen immer.
Die Moderatorin geht mir ein wenig mit ihrer Quietschstimme auf den Sack. Wagner wirkt im Gegensatz zu Beck unvorbereitet und lost, wie sie es selbst in ihrem Denglisch (*kotz*) ausdrücken würde. Campuskitsch hat definitiv unter dem neuen System der Co-Moderation gelitten – schade, ich werde nicht mehr reinhören …
Ich werde nicht mehr reinhören …
Als hätte ich mich an den Worten verbrannt, steckte ich das Handy zurück in die Tasche. In mir brodelte es, während ich einen Schritt nach vorn machte, die Türklinke umfasste und mich daran zu erinnern versuchte, dass Rezensionen auf Spotify nicht das wirkliche Leben waren.
Es ist nicht echt. Es ist nur virtuell und gemein. Hass ist ein Beweis dafür, dass ich es geschafft habe.
Aber was zum Teufel war dieses Es überhaupt?
Mit einem zittrigen Lächeln setzte ich mich zurück zu meinen Freundinnen. Letztere verstummten abrupt und taten so, als hätten sie gerade nicht über Amalies Rockhöhe hergezogen. Links gestikulierte Mias Mutter wild über etwas, das mein Gehirn nicht erreichte. Mama schob Plätzchenkrümel auf der Platte zusammen, bis sie ihren Finger darauf drückte.
»Und du, Lucy?« Freundlich stupste Hannah mich an. »Was ist mit dir?«
»Bitte?«, fragte ich, weil es in mir drin rauschte und brauste.
»Das Juicy Beats nächstes Jahr. Wäre doch voll cool …«
Wieder schweifte ich ab. Ich konnte mich nicht konzentrieren. Verstand nicht, wieso mein Blick plötzlich unkoordiniert durch den Raum huschte. Ich nahm die Bilder mit Elias’ und meinem Kindergesicht wahr, wie nach Plätzchen gegriffen wurde, während Mama sich immer nur an die Krümel hielt. Das ist überhaupt nichts zum Festhalten , wollte ich schreien und ihr von Schokolade überzogene Tannenbäume in die Finger drücken.
Doch das ging nicht, immerhin war ich das Kind und sie die Mutter. Eigentlich war sie die Ältere, eigentlich wusste sie es besser. Eigentlich war es ziemlich scheiße, wie Erwachsensein aus der Realisierung bestand, dass unsere Eltern fehlerhafte Menschen waren. Wie du. Wie ich.
Das war der Grund, wieso ich mit meinem Blick nicht mehr länger auf Mamas hell angepinselten Nägeln verharren konnte. Hektisch fiel er zurück zu meinen Freundinnen. Ohne zu verstehen, was sie sagten, beobachtete ich, wie sich ihre Münder bewegten. Dabei konnte ich nur daran denken, wie heuchlerisch das alles war.
Wir kannten uns nicht mehr. Vielleicht hatten wir das noch nie, weil wir den Höhepunkt unserer Freundschaft vor fünfzehn Jahren an Freibadsonntagen erlebt hatten. Trotzdem taten sie so, als würden sie mich kennen, meine Inhalte und Probleme auf TikTok verstehen. Wie konnten sie das, wenn sie so über eine Frau herzogen? Wie konnte meine Mutter unsere Beiträge zu Körperakzeptanz mit stolzen Emojis kommentieren, wenn sie sich weiterhin an Saftkuren probierte? Wenn das doch alles Teil davon war, was ich mit einem eigenen Magazin verändern wollte?
Ich atmete ein, ohne Luft in mich hineinzusaugen.
Es war der Moment, in dem ich es nicht mehr aushielt und mich erhob. Meine Beine zitterten nur ein bisschen, aber was machte das schon, wenn der gesamte Boden unter dir bebte?