Kapitel

Lucy

JEMANDEN BRECHEN

selbst nicht wieder ganz werden

Zurück nach Köln wäre ich am liebsten gelaufen, weil ich einmal in einem Artikel gelesen hatte, dass ein Trauma sich in unserem Körper festsetzte. Nur durch Bewegung könnte es uns verlassen.

Äh, liebe Lucy, was für ein Trauma? Du hast eine schlechte Rezension gelesen, deine Situation überdramatisiert und bist dann aus deinem Elternhaus geflüchtet. Das ist kein Trauma. Ehrlich gesagt ist das ziemlich unreflektiert. Genauso wie die Leute, die meinen, sie hätten OCD, bloß weil sie gerne putzen.

Natürlich hatte ich trotzdem die Bahn genommen. Ich hockte auf dem blauschwarz gepunkteten Sitz eines Vierers, den ich allein besetzte. Die Stimme hatte recht. Ich hatte kein Trauma. Ich hatte einfach nur Unsicherheiten, die mich gerade wie ein Tsunami überrollten. Weiterhin fiel mir Atmen schwer, immer noch fühlten meine Beine sich zu weich an. Wenn ich jetzt aufstehen würde, würde ich umkippen.

Mein Abgang war bereits über eine Stunde her. Genug Zeit, mein Scheißherzrasen und mich selbst in den Griff zu bekommen. Ähm, sorry, eine Kommilitonin hat geschrieben, ich muss schnell zurück nach Köln, was klären, wegen dem Podcast  – diese Entschuldigung hatte ich wenig glaubhaft vor mich hin gestammelt, bevor ich aus der Tür gestolpert war.

»Liebe Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Köln Hauptbahnhof. Dies ist unsere Endhaltestelle. Bitte steigen Sie aus.«

Die blechern verzerrte Stimme drang an meine Ohren, während Leute sich ringsum erhoben. Ich tat es ihnen gleich, steuerte nach den Treppen allerdings nicht die U-Bahn an. Entschlossen grub ich das Kinn stattdessen in meinen Schal und trat nach draußen. Ich passierte unzählige Dönerbuden, sah durch Glasscheiben, wie Menschen in ihre Falafel bissen und mit Ayran nachspülten. An einer roten Ampel bildete ich mir ein, einen Regentropfen auf meinem Kopf zu spüren, doch es blieb nur bei diesem einen. Automatisch pfriemelte ich mein Handy aus der Tasche und klickte die Notes-App an. Die eingetrudelten Benachrichtigungen checkte ich nicht einmal. Als ich mich mit der grünen Ampel in Bewegung setzte und gleichzeitig zu tippen begann, passierte beides wie auf Autopilot.

Liebe Lucy

Liebe Lucy, wieso bin ich so eine Übertreiberin? Gibt es einen Grund dafür, wieso meine Unsicherheiten ständig mit mir durchrennen, selbst wenn ich ganz still auf einem versifften Bahnsitz hocke? Ist das angeboren, kann ich das verlernen?

Liebe Lucy, wie groß kann mein Selbstbewusstsein sein, wenn mich eine subjektive Meinung eines gesichtslosen Users derart triggert?

Liebe Lucy, glaubst du, ein gutes Selbstwertgefühl kann man kaufen? Wenn ja, weißt du von einem Rabattcode, den ich benutzen könnte?

Als meine Wohnung in Sichtweite war, stopfte ich das Handy zurück in die Tasche und suchte nach meinem Schlüssel, da verharrte ich blinzelnd.

»Bitte korrigiere mich«, begann ich. »Ich träume, oder? Ich meine, du kannst nicht echt sein. Kannst du nicht, weil du sonst ernsthaft vor meiner Haustür sitzen und …« Ich legte den Kopf schräg. »… das neuste spicy TikTok-Trend-Buch lesen würdest?«

»Naaah, komm schon.« Gregor erhob sich. »Wenn das hier ein Traum wäre, wäre ich sicherlich Timothée Chalamet.«

Ich träumte also nicht. Gregor stand tatsächlich vor meinem Haus, bekleidet mit obligatorischem Hoodie und Jeans. In der Hand hielt er einen Roman mit kitschigem Cover, wobei sein Daumen als Lesezeichen fungierte.

»Hab gesehen, dass du Winter Read auf Goodreads hinzugefügt hast. Dachte, ich checke es mal aus für dich. Außerdem soll es doch mal wieder – ich zitiere – hot af sein. Das beschert mir bestimmt Inspiration für unser Google Doc.«

Unser Google Doc.

Meine Kehle wurde trocken, wenn ich nur daran dachte. Gregor hatte es sich nämlich immer noch zur Aufgabe gemacht, die perfekte Sexszene zu entwerfen. Nach einigen Anläufen war er auf die grandiose Idee gekommen, sie gemeinsam zu schreiben. Lucy_Gregor_Sex hatte er die Datei benannt, unser kreatives Genie. Als ich gestern gelesen hatte, was er getippt hatte (Duschszene, von hinten, kalte Fliesen, heißes Wasser), hatte es in meinem Slip gepocht.

Schade, dass heute ein anderer Tag war.

»Was tust du hier?«, flüsterte ich.

»Hey.« Sofort hob er die Hände. »Ich schwöre, ich wollte nicht ohne Ankündigung herkommen und dich überfallen, aber du hast mir auf keine Nachricht geantwortet und ich wollte wissen, wie es dir geht nach …«

Er hatte die Rezension also auch gelesen. Das war keine Überraschung. Immerhin waren wir Teil derselben Gruppe.

»Dieser Typ ist ein unreflektierter Wichser, der keine Ahnung hat, wovon er redet«, fügte er hinzu.

So unbeteiligt wie möglich zuckte ich mit den Schultern. »Das ist keine große Sache.«

»Lüg mich nicht an, Lucy. Ich sehe doch, dass etwas nicht okay ist.« Sein Tonfall hatte sich geändert. Er klang überhaupt nicht zornig, bloß betroffen und besorgt.

»Ich bin von zu Hause weggerannt«, murmelte ich. »Es war irgendwie zu viel. Diese Nachricht und die Gespräche mit meinen Freundinnen , ich … keine Ahnung. Irgendeine Sicherung ist in mir durchgebrannt.«

Gregors Hand zuckte, als wollte er mich berühren. In letzter Sekunde jedoch ruderte er zurück, als würde er sich nicht trauen. »Passiert den besten, habe ich gehört«, sagte er rau.

»Ganz nach dem Motto: Jedes Genie ist ein bisschen verrückt?«

Langsam verzog er die Lippen zu einem Lächeln. Ich musterte das Buch in seiner Hand, seinen Daumen, die kurzen Nägel, dann sein Gesicht. Zerzauste Locken fielen ihm in die Stirn, während seine Nase von der Kälte leicht gerötet wirkte.

Gregor war schön.

Gregor war immer so schön.

Heiser räusperte ich mich. »Ich fühle mich übrigens nicht überfallen. Ich mag es, wenn du hier bist, Gregor.«

»Ja?«

Seine Augen glühten auf. Braun und grün und tief.

Hastig schloss ich auf und ließ uns rein. Gregors Schuhe wirkten riesig neben meiner Ansammlung von Boots und Stiefeln, doch als ich uns auf Socken in die Küche lotste, fühlte ich mich weder mächtig noch klein. Es war schlicht okay, an diesem Dienstagabend mit ihm auf meinen Küchenfliesen zu stehen.

»Tee?«, fragte ich.

»Klar«, stimmte er zu.

Also kochte ich Wasser auf, bevor ich es in meine pastellfarbenen Keramiktassen füllte und wir uns damit an den Tisch setzten. Mein Geschirr war Instagram-tauglich, perfekt, um meine monatlichen Buchempfehlungen in Szene zu setzen. Gregor hingegen mit seinem Oberschenkel, der beinahe beiläufig meinen berührte, war einfach echt.

»Okay«, begann er. »Du bist also weggelaufen?«

Nickend senkte ich den Blick zu meiner Tasse, die ich mit allen zehn Fingern umklammert hielt – und begann zu erzählen. Von dem Tag, von Mama und ihren Krümeln, von meinen Freundinnen und ihren Gehässigkeiten, von der Rezension und meinen Gefühlen, die mich so ankotzten.

Aber, liebe Lucy, ist es nicht unattraktiv, Unsicherheiten derart offenzulegen? Wenn Selbstbewusstsein sexy ist, sind Schwäche und Minderwertigkeitskomplexe dann nicht das Gegenteil?

Angebliche Datingexperten würden diesem Gedanken recht geben. Immerhin versuchten sie uns das in ihren Reels einzutrichtern. Aber ich konnte nichts dafür. Gregor sah mich an und ich konnte nicht lügen. Gregors kleiner Finger berührte meinen und ich wollte ihm all die Gründe dafür nennen, wieso ich mich selbst nicht verstand. Er hingegen hörte zu, kippte den Kopf, setzte sich auf und umklammerte mich mit immer mehr Fingern, während er die genau richtigen Nachfragen stellte: Wie meinst du das? Ich verstehe nicht. Wieso glaubst du, fühlst du dich so?

Es war ein Gespräch, wie ich es mit Manda und Tillie geführt hätte. Keins, das ich mit Gregor jemals in Berlin gehabt hätte. Damals war unsere Verliebtheit doch magisch gewesen, filmisch beinahe. In meiner Vorstellung hatten wir uns ohne Worte verstanden und genau deshalb am Ende nicht mehr. Worte waren das, was uns gefehlt hatte.

Jetzt war alles anders.

Gregor konnte meine Gedanken nicht lesen. Gregor musste fragen und ich musste erklären. Das war Kommunikation und sie war wichtig. Diese Art von Gesprächen wurde in Filmen nie gezeigt, weil für die Honeymoon-Phase bloß Liebesszenen aneinandergereiht wurden, bei denen Zuschauerinnen sich fragten, wieso ihr Sexleben nicht so aussah.

Allerdings – was war diese Leidenschaft schon? Natürlich fühlte sie sich unglaublich an, am Ende war sie jedoch nicht mehr als eine vergängliche Momentaufnahme. Einen Orgasmus konnte man nur hinauszögern und nicht festhalten, aber Gregor hielt meine Hand die ganze Zeit.

»Und ich weiß auch nicht«, fuhr ich fort. »Morgen habe ich den Kommentar möglicherweise schon wieder verdrängt. Doch jetzt will dieser eine Teil von mir diesen Kommentar auf Social Media zerlegen wie eine Deutschklausur. Ich will mich vor eine Kamera setzen und ihn vorlesen, damit die Leute wissen, dass ich eine echte Person bin und diese Rezensionen lese. Dass ihre Worte sich in mich hineingraben und all das nichts mehr mit konstruktiver Kritik zu tun hat. Meine Stimme ist meine Stimme. Und ja, ich bin dauernd lost, aber ich bin nicht lost, wenn wir uns vor dieses Podcast-Mikro setzen. Das ist faktisch falsch. Ich weiß dort genau, wovon ich rede.«

»Natürlich.« Gregors Kiefer mahlte. »Du bist die beste Moderatorin, die Campuskitsch je hatte. Ohne Spaß.«

Seine Stimme hob sich, bis sie beinahe vibrierte. Allerdings würde über ihn niemals gesagt werden, er klänge quietschig. Aus dem schlichten Grund, dass er ein Mann war. Er wurde anders wahrgenommen als ich. Selbst wenn man mein Gesicht nicht sah, wurde ich sexistisch behandelt.

Doch dann drückte Gregor meine Hand und fragte: »Willst du das? Wenn ja, musst du es machen. Ich helfe dir, wo ich kann. Also nur, wenn du es willst.«

Und alles war nicht mehr ganz so beschissen.

Kurz hielt ich inne. Wollte ich es? Ich dachte an die Möglichkeit, dass das Video viral gehen könnte, an die Hasskommentare, die ich damit anziehen würde. An die andere Option, dass der Algorithmus mich heute nicht mochte und meine Message niemanden interessieren würde.

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Der Großteil in mir will das gar nicht. Eigentlich will ich das alles für heute nur vergessen. Manchmal ist es einfach so anstrengend, eine Meinung zu haben. Alle wollen dich zerreißen. Alle wollen dich brechen, aber wieso eigentlich? Sie selbst werden dadurch nicht ganz. Wissen sie das nicht?«

»Ich glaube, die wissen gar nichts.«

»Ja«, bestätigte ich mit Nachdruck, bevor Gregor mich einen unendlich langen Moment ansah.

»Okay. Vergessen. Du. Ich. Jetzt.« Er erhob sich und streckte die Hand nach mir aus. »Wenn ich bitten darf?«

Ich konnte nicht anders. Ich musste lachen, weil er so ernst klang. »Natürlich«, erwiderte ich trotzdem und legte meine Finger in seine.

Behutsam zog Gregor mich auf die Füße, wobei mein Oberkörper seinen streifte und meine Handfläche auf seiner Brust landete.

»Lu«, murmelte er belegt.

Und er sagte es so, wie er Lu immer sagte, eine Stufe zu tief und vertraut. In meiner Magengegend flatterte es und es waren keine Schmetterlinge. Es war größer, wilder, mächtiger. Tsunamiartig.

»Ja?«, erwiderte ich leise.

»Sag mir, was du machen willst.«

Küssen , dachte ich. Lecken, schaben, schmecken, etwas von dir mit etwas von mir berühren. Ich wusste, dass Leidenschaft nicht alles bedeutete, doch sie pulsierte so verdammt greifbar zwischen uns.

»Keine Ahnung«, meinte ich natürlich stattdessen.

»Das stimmt nicht«, widersprach er. »Wie vergisst du am besten?«

»Ich …« In meinem Kopf ratterte es, während Gregor mich abwartend ansah. »Ich glaube, ich weiß was.«

»Und das wäre?«

Gott, seine Stimme klang weiterhin so, als würde sie jeden Moment reißen.

»Ich verrate es dir nur unter einer Bedingung.«

»Die da wäre?«

»Du …« Nervös fummelte ich am Saum meines Shirts. »Du darfst nicht lachen, okay?«