Lucy
SCHREIBER
jemand, der Worte nur in Dokumenten mag
Wasserrauschen weckte mich.
Blinzelnd schreckte ich auf und tastete auf dem Nachttisch nach meinem Handy, das ich dort nicht fand.
Da realisierte ich es.
Ich war bei Gregor, in Gregors Bett, allerdings ohne ihn.
Verschlafen fuhr ich mir über das Gesicht und lauschte. Es klang so, als würde er duschen und dabei Musik hören. War das etwa Cro mit Letzter Song ? Interessant.
Mit einem Gähnen schaffte ich es aus dem Bett, hatte keine Ahnung, wie spät es war, bloß dass es sich unwirklich anfühlte, hier zu sein. Ich würde nicht so klischeehaft sein und mich fragen, ob das gestern wirklich passiert war. In höchster Auflösung zogen die Bilder von dieser Nacht nämlich an mir vorbei. Wie ich zu Hause gewesen und schließlich geflüchtet war. Gregor vor meiner Tür, die Comedy Night, das Puzzle. Unser Sex. Wie wir danach im Bett gelegen hatten, taub vor lauter Gefühlen. Gregor hatte meine Taille gestreichelt, ich seinen sehnigen Unterarm mit den durchschimmernden Adern. Wann wir eingedämmert waren? Keine Ahnung. Aber als ich jetzt in der Küche nach meinem Handy griff, zeigte mir das Display kurz nach sieben an.
Also ließ ich mir ein Glas Leitungswasser ein, bevor ich mich an den Tisch hockte. Gedankenlos checkte ich meine Nachrichten. Mama hatte gefragt, ob mit dem Podcast alles okay wäre, in der @thegirlnextdoor-Gruppe war es still. Manda hatte mir eine Sprachnachricht geschickt, Tillie hatte mich mit irgendwelchen Screenshots zugespamt. Keine Sekunde später fand ich heraus, dass es Memes zu unseren Persönlichkeitstypen ENFJ (sie) und INFP (ich) waren. Ich wischte mich durch sie hindurch, konnte mich aber nicht konzentrieren.
Ich weiß, Lucy.
Gregors Stimme hallte in meinem Kopf nach, während er nackt unter der Dusche stand. Ich rechnete mit Panik, wartete auf die Angst, die mir befehlen würde, meine Beine in die Hände zu nehmen. Doch ich ließ mich bloß tiefer in den Stuhl sinken, weil sie nicht kam.
Ich fühlte mich gut. Friedlich. Immer noch schwerelos, weil Liebe mich nicht fliegen, sondern schwimmen ließ.
Ich werde es ihm sagen , dachte ich. Weil ich diesmal alles richtig machen will und Kommunikation wichtig ist. Ich glaubte nicht an Happy Ends. Aber da war dieser Teil in mir, der daran glaubte, dass für eine Weile alles gut werden könnte.
Und diese Weile war jetzt.
Weil ich ungeduldig wurde, griff ich erneut nach meinem Handy. Ich vermied Social Media, hörte mir stattdessen Mandas Nachricht an und antwortete sogar Mama. Reflexartig checkte ich anschließend meine Mails. Und da war sie, ganz oben. Bevor ich die Mail öffnete, kribbelten meine Finger. Ich war aufgeregt. Neugierig. Erwartungsvoll.
Nachbeben
Gregor Beck
vertreten von der Literaturagentur Schulze
olga.sokolow@schulze-agentur.de
Kapitel I
Kalt, was?
Zwei Wörter, eine Frage. Es ist der erste Satz, den ich ihr sagte. Damals, unter Zittern, mit blauen Lippen und angeschwollenem Herzen. Ich war zwanzig und hatte noch nie ein Mädchen geküsst. Später würde ich sie küssen. Ich bin in sie verliebt. Insgesamt habe ich sechs Frauen in meinem Leben geliebt. Meine Großmutter, meine Tante, meine beiden Cousinen, meine Zwillingsschwester und sie. Bei Liebesfilmen muss ich manchmal weinen, aber immer nur am Ende, dann, wenn alle glücklich sind. Ich habe keine Ahnung von Kunst oder Fotografie, allerdings gibt es dieses Bild, das mich fasziniert. Darauf zu sehen ist eine Frau, spindeldürr mit zu dunklen Brauen und ausdrucksstarken Augen. Sie trägt einen unverschämt kurzen Rock, bestickt mit goldenen Glitzerpailletten, die schimmern wie eine Discokugel im abgefucktesten Viertel der Stadt. Die Frau auf dem Foto – gerade einmal zweiundzwanzig – umklammert darauf eine rechteckige Packung Penne und schaut ausdruckslos in die Kamera. Diese Frau heißt Emma Visser.
Emma Visser ist mit fünfundzwanzig Jahren gestorben. Sie soll großartig gewesen sein, unheimlich talentiert, jemand, der nichts hatte und alles wollte. Aber ich könnte mir noch so viele ihrer Fotos anschauen, mir noch so viele Geschichten über sie anhören, ich wüsste trotzdem nichts. Ich habe sie nie erlebt. Ich habe nie gelebt, als sie gelebt hat. Ich weiß nicht, wer sie war, aber ich weiß, dass ich ohne sie nichts wäre. Emma Visser ist meine Mutter und das hier ist eine Entschuldigung.
Mein Herz sackte hinab, fiel auf den Boden und blutete dort aus. Etwas in mir knackte, starb und zerbarst, während ich wie besessen durch die Seiten scrollte. Doch je weiter ich kam, desto weniger verstand ich.
Liebe Lucy, wieso bist du überhaupt überrascht? So ist das doch mit Gregor, schon vergessen?
Ich hörte die Stimme, ohne sie wirklich wahrzunehmen. All meine Aufmerksamkeit galt dem Text, der in Fragmenten geschrieben war. Was zum Teufel war das? Eine Autobiografie? Eine Biografie über Emma Visser? Ein Brief an Emma Visser? Ein Roman? Fiktion? Wahrheit?
Endlos hämmerten Fragen hinter meiner Stirn, doch eine Sache war glasklar: Emma Visser war Gregors Mutter. Emma Visser, die mit achtzehn von zu Hause ausgerissen war und sieben Jahre später während ihrer Zwillingsgeburt verstorben war.
»Lucy?«
Beim Klang von Gregors Stimme erschrak ich. Mit rasendem Herzen sah ich auf. Wie er nur in engen Boxershorts auf mich zutappte, schnürte mir die Luft ab. Wassertropfen fielen von seinen nachtschwarzen Locken auf die muskulösen Schultern. Ich hasste diesen Trick. Seine Augen wirkten riesig. Das Schlimmste daran? Sie liefen gefühlvollbraungrün über.
Mit geräuschlosen Schritten kam Gregor auf mich zu. Er lächelte und seine Augen lächelten mit. Er schien so glücklich. So ausgelassen, als wäre der Sturm längst vorbei.
Gregor strahlte, als schiene ihm die Sonne direkt aus dem Arsch.
Dieser Wichser, dieser Wichser, dieser Wichser.
Als er sich neben mir niederließ und seinen Oberschenkel gegen meinen presste, erfror ich an seiner Kälte. Denn natürlich, Gregor Beck hatte kalt geduscht. Ruckartig sprang ich auf und zerdrückte beinahe das Handy zwischen meinen Fingern, doch es war egal.
Nichts spielte mehr eine Rolle.
Nichts außer dem Dokument auf meinem Display.
»Was. Ist. Das?«
Ich zögerte nicht, zog nichts künstlich in die Länge, damit er von selbst mit der Sprache herausrückte. Überdeutlich hielt ich ihm das Handy mit der Titelseite seines Manuskripts vor die Nase. Als seine Augen aufrissen, drohte seine Panik mich zu ersticken.
»Ich kann das …«
»Du kannst das erklären?« Meine Stimme klang zu schrill, deshalb ermahnte ich mich zu tiefen Atemzügen. Ich wollte nicht übertreiben und zu falschen Entschlüssen kommen, aber ein Blick in Gregors Gesicht reichte.
Panik. Horror. Ratlosigkeit. Fast tat er mir leid, wie er hier saß, eins achtzig groß und auf einmal so klein. Allerdings nur fast, denn ich war es, die Gregor verletzt hatte. Und ich hingegen war es so leid, innerlich zu bluten und zu All Too Well zu weinen.
Entschlossen zog ich das Handy zurück. Ich brauchte meine Hände, umarmte mich selbst, weil ich mich plötzlich an meiner unbedeckten Haut störte. Ich trug nur Slip und den Pullover von gestern. Das war keine Rüstung, das war nackt und entblößt und zu wenig.
»Also.« Es überraschte mich selbst, wie ruhig ich klang. »Emma Visser ist deine Mutter.«
»Ich …«
»Ja oder nein, Gregor?«
Er schloss die Augen. Sein Kiefer arbeitete. Seine Finger verhedderten sich in den Locken. Es schmerzte allein vom Zusehen.
»Ja«, murmelte er.
Es war so leise, dass ich es fast nicht verstand, doch ich konzentrierte mich nur auf ihn. Ich war ein Schwamm, würde alles in mich aufsaugen. Das hier ist ein Interview , redete ich mir ein. Ich musste professionell sein, das große Ganze nicht aus den Augen verlieren und keine Fragen offenlassen. Denn wenn ich dieses Gespräch wie eine Unterhaltung zwischen Gregor und mir behandelte, würde ich es nicht überleben.
»Okay«, sagte ich also so neutral wie möglich. »Ich fasse zusammen: Niemand hat verstanden, wieso du für deinen Master nach Köln gegangen bist. Dann hast du aus heiterem Himmel die Moderation für Campuskitsch bekommen, in dem wir dieses Jahr ausschließlich Alumni wegen des Jubiläums interviewen. Des Weiteren …« Des Weiteren? Liebe Lucy, du bist ja wirklich in einem Business Meeting. Ich ignorierte die Stimme wie Rewe-Romeo meine Nachrichten im September: mühelos. »… wusstest du, dass ich das Porträt von Emma Visser schreibe. Und du hast Mila am Ende quasi dazu gedrängt, mir die Co-Moderation zu überlassen.« Ich legte eine Pause ein, um ihm die Möglichkeit zu geben, hineinzugrätschen, etwas zu verbessern, doch Gregor blinzelte mich an, als wüsste er nicht, was er sagen sollte.
Als zerfielen ihm wieder einmal die Worte auf der Zunge.
»Und dann finde ich heraus, dass du die ganze Zeit mit deiner Agentin an einem Manuskript über deine Mutter – über Emma Visser – gesessen hast.«
Heiße Wut flutete meinen Körper und das war gut. Ich musste wütend sein, denn wenn ich damit aufhörte, wäre ich nur noch traurig und verletzt. Das konnte ich nicht zulassen. Das würde mir den Rest geben. Ein zweites Mal.
»Daher«, begann ich, »kannst du es sicherlich verstehen, dass ich mir gerade ziemlich verarscht vorkomme. Dass ich annehmen könnte, du hättest mich nur zu Recherchezwecken für dein verficktes Buch benutzt.«
Gregor schwieg. Als ich bemerkte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten, taten meine es auch. Immer wieder setzte er an, brach ab und schüttelte den Kopf. Unter meinen Fingernägeln brannte es, weil ich ihn schütteln wollte, bis die Wahrheit aus ihm herausgefallen wäre. Aber das wäre handgreiflich und übergriffig gewesen und das war ich nicht. Ich respektierte jedermanns Grenzen, nur meine eigenen nicht.
Als er erneut wortlos ansetzte, hätte ich gehen sollen. Die Fakten waren klar. Wieso blieb ich also? Wieso war es genauso wie damals? Warum wünschte ich mir eine Verschwörungstheorie, obwohl die Wahrheit bestätigt war?
Als die erste Träne aus meinen übervollen Augen trat, war sie nicht für Gregor. Heiß und salzig schmeckte sie auf meiner Zunge. Brennende Wut, purer Selbsthass. Ich war so enttäuscht von mir selbst. Wieso hatte ich ihm ein weiteres Mal vertraut?
»Alles klar.« Ich nickte und nickte und nickte und hörte nicht auf damit, als müsste ich mir selbst Mut zusprechen. »Ich werde jetzt gehen.«
»Lucy.«
Ausgerechnet da fand er seine Stimme. Mein Name, er klang so warm und vertraut. So heiser und kratzig. Ich musste schlucken, als Gregor sich erhob und ich die Nässe seiner zitternden Finger um mein Handgelenk spürte.
»Bitte«, flehte er. »Es ist nicht so, wie es aussieht.«
»UND WIE IST ES DANN?« Ich schrie, hysterisch und fuchsteufelswild.
Als hätte ich mich wieder einmal an Trockeneis verbrannt, entzog ich mich seinem Griff, doch der Schaden war bereits angerichtet. Wie besessen starrte ich auf den Boden, auf die Wände, auf die Möbel und seinen beschissenen Proteinvorrat. Überall starrte ich hin, nur nicht in sein Gesicht, weil ich nicht einknicken durfte.
»Ich … ich … ich …« Ich hörte, dass er weinte, doch es zog nicht. Gregor war immer Wasser gewesen. Es war sein Element. Er war so gut darin, traurig zu sein und Leute traurig zu machen. Ich wollte das nicht mehr.
»Vergiss es einfach«, sagte ich.
Er hielt mich nicht auf, als ich mich umdrehte. Dabei hasste ich es, wie ich meine Schritte verlangsamte, weil ich mir wünschte, er würde trotz allem doch etwas sagen. Mich vom Gegenteil überzeugen, kämpfen und nicht wie versteinert dort stehen.
Aber er sagte nichts. Natürlich. Gregor, der Schreiber.