Kapitel

Lucy

01:01  UHR

eine Uhrzeit voller Wahrheit

Jetzt

Der Name kam mir sofort.

WÖRTER, DIE ICH DIR AM LIEBSTEN GEGEN DEN KOPF SCHLEUDERN WÜRDE. So nannte ich die neue Datei in meiner Notizenapp. Ich hockte auf meinem Bett, zog die Knie dichter an meine Brust und begann zu tippen.

Anagapesis – du empfindest nichts mehr für die Person, die du einst geliebt hast

Doch meine Finger verharrten sofort schwebend über der Tastatur, weil ich das nicht wirklich so meinte. Schließlich hatte ich dieses Stadium von Gleichgültigkeit noch nicht erreicht.

Dieser Wichser, dieser Wichser, dieser Wichser.

Tief atmete ich durch, während ich Salz auf meinen Lippen schmeckte. Letztes Jahr hatte ich in einer Kolumne gelesen, dass unser Blut denselben Salzanteil besaß wie das Meer. Das war tröstlich, denn ein Meer war größer als ein See. Einen See könnte ich demnach überkommen, selbst wenn er aus Erinnerungen an Gregor bestand.

Ich nickte mir selbst Mut zu, bevor ich erneut tippte. Diesmal nur Wahrheiten.

Kalopsia – die Illusion davon, dass etwas schöner scheint, als es ist

Oneirataxia – die Unfähigkeit, die Realität von der Fantasie zu unterscheiden

Habromania – das Trugbild von Glücklichsein

Ich tippte und weinte und weinte und tippte, bis meine Lider ganz schwer wurden. Mittlerweile brannte mir das Handylicht in den Augen, doch ich musste weiterschreiben. Wenn ich jetzt aufhörte, würde ich die Traurigkeit nicht mehr aufhalten können. Also tippte ich weiter, bis ich bei diesem Wort ankam.

Nemesism – Frustration, Wut oder Aggression gegenüber einem selbst

Es stimmte. Am tiefsten enttäuscht war ich immer noch von mir selbst. Schließlich hatte ich das hier schon einmal erlebt. Frustriert schob ich die Decke zur Seite und stand auf. Die Zeitanzeige der Wanduhr nahm ich dabei wie in Trance wahr. 01:31  Uhr. Unter Tränen scannte ich anschließend den Kühlschrankinhalt und umarmte mich selbst.

Mir war kalt. Bitterbitterbitterbitterkalt.

Dabei spielte es keine Rolle, dass ich mich kurz darauf mit drei Kuscheldecken vor meinem Schreibtisch niederließ. Neben mir stellte ich die Reste einer Bowl ab, weil mein Magen knurrte. Weil ich nicht eines dieser disziplinierten Magazinmädchen war, die bei Traurigkeit ihren Appetit verloren. Nein, mein Bauch knurrte und mein Herz schrie, ich spürte Hunger und Angst und Schmerz und Kälte.

Aber ich würde mich nicht in mein Bett verkriechen und Tränen auf den Bezug weinen. Nicht noch einmal.

Thank you for the anger, I need it for my art.

Instinktiv erinnerte ich mich an die Playlist, die ich gemeinsam mit Manda und Tillie Anfang des Semesters erstellt hatte. Wieso kam mir die Erinnerung so weit weg vor? Wieso kam mir gerade alles so weit weg vor?

Ich schaufelte Reis mit Gemüse in meinen Mund, während ich den Laptop hochfuhr. Morgen stand die Sonntagsfrage auf dem Plan, doch ich wollte sie schon jetzt erledigen. Wenn es mir selbst schlecht ging, half ich anderen am besten. Ich hoffte auf eine Liebeskummerfrage, vielleicht sogar auf eine Situation, die meiner ähnelte. Ganz egal, dass ich für die letzte Frage im Jahr eigentlich ein Special zu Neujahrsvorsätzen im Sinne hatte.

Liebe Lucy, ich habe meinem Ex eine zweite Chance gegeben und wurde wieder nur verarscht. Was sagst du dazu?

Das wäre genau das, was ich bräuchte. Ich könnte meine Wut rauslassen und mich leer schreiben, bis ich nichts mehr fühlte.

Ich öffnete den Liebe-Lucy- Account auf Google, wollte mich gerade durch die neu eingetroffenen Mails scrollen und mir eine Frage aussuchen, als ich an seinem Namen hängen blieb.

Gregor Beck. In meinem Mailpostfach. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden.

Manchmal war ich mir sicher, die Welt verarschte mich. Bis ich mich daran erinnerte, dass die Erde sich einen Dreck um mich scherte. Ich war Nur-Lucy, im wahrsten Sinne des Wortes. Am liebsten würde ich toben. Toben, stürmen, wüten, gigantisch und mächtig sein. Aber ich war cute. 1,57. Niemand würde jemals einen Sturm nach mir benennen.

Mittwoch, 01:01  Uhr

Von: gregorbeck@gmail.com

An: liebelucy@thegirlnextdoor.de

Betreff: (kein Betreff)

Liebe Lucy,

ich weiß, das hier ist gegen die Regeln, denn das ist keine Frage. Alles, was ich zu bieten habe, sind (hoffentlich) Antworten. Es ist mitten in der Nacht und mein Kopf droht zu platzen, weil mein Herz voll mit dir ist. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll, nur, dass ich nicht wie ein selbstmitleidiges Arschloch klingen will. Und da ist dieser Teil von mir, der dir am liebsten doch eine Frage stellen würde. So was wie: Liebe Lucy, was kann ich tun, damit du mit mir redest, denn ich kann und will und muss das erklären, denn es ist nicht so, wie es aussieht

Ich las nicht weiter. Als hätten meine Finger ein Eigenleben, löschten sie die Nachricht, verließen sie das Postfach und suchten nach der Bedeutung von 01:01  Uhr. Google lieferte mir das Ergebnis sofort. Google war das Gegenteil von Gregor, der ewig vor sich hin erzählte und schrieb, er wolle nicht wie ein jämmerliches Arschloch klingen, dabei allerdings genau das mit seinen Worten fabrizierte.

Mit bebenden Lippen überflog ich die Bedeutung.

01:01  Uhr: Jemand versucht, dich zu vergessen.