Lucy
JEMANDEN AUS SEINEM LEBEN STREICHEN
etwas, das nur so semi funktioniert
»Und?«, fragte Tillie am Montagmorgen. »Nun sag schon. Bist du zufrieden?« Sie hakte sich bei mir unter, während wir den Campus passierten.
Für Anfang Januar war der Wind überraschend mild. Ich trug meinen Jutebeutel über der Schulter und eine Wasserflasche in der Hand.
»Ich glaube, es ist ganz okay geworden«, murmelte ich. »Ich kann froh sein, dass ich das Porträt vor den Winterferien schon so gut wie fertig hatte. Danach …« Danach hätte ich es vielleicht nicht zu Ende gebracht, weil es zu persönlich geworden wäre. »Anyway«, fuhr ich hastig fort, sodass Tillie keine Nachfragen stellen konnte. »Ich werde es noch ein letztes Mal korrigieren, dann schicke ich es ab.«
Sie hob die Brauen. »Du wolltest es angeblich gestern zum letzten Mal korrigieren.«
»Ich will mich nur versichern, dass es wirklich gut ist. Immerhin steht die Landingpage zur Debatte.«
»Mein Herzblatt, es ist perfekt. Mach dir keine Sorgen.«
»Keine Sorgen? Ich bitte dich, mein Herzblatt . Mein zweiter Vorname ist quasi …«
»Lucy!«
Ich brach ab, als mein richtiger Name ertönte. Mit gerunzelter Stirn drehte ich mich um und erspähte Jonathan, der auf uns zutrat. Er trug eine stinknormale beige Hose und einen brauen Pulli, doch an ihm wirkte jedes Kleidungsstück automatisch edel und teuer. Er strahlte die perfekte Mischung aus Dark Academia und Old Money aus. So hätte Social Media das zumindest betitelt.
Tillie jedoch wählte andere Worte. »Wieso sieht der eigentlich immer so aus, als würde er das Streber-Oxford-Motto höchstpersönlich vertreten?«, murmelte sie gerade so leise, dass er es nicht hörte.
Mit einem breiten Grinsen blieb er vor uns stehen, das jedoch verblasste, als sein Blick auf Tillie fiel. Seine glasklarblauen Augen wurden plötzlich schwarz. Bildete ich mir das ein oder zuckte sogar dieser Muskel in seinem Kiefer? Fast hätte ich Tillie leicht mit dem Ellbogen angestupst, um sie darauf aufmerksam zu machen – schließlich sprachen wir hier von Jonathan –, doch da wandte besagter Jonathan sich wieder an mich.
»Du machst doch das Porträt zu Emma Visser, oder?«, fragte er und versuchte zumindest, sich erneut ein Lächeln aufzuzwingen.
»Ähm, ja?«
»Super, dann hatte ich das richtig in Erinnerung. Ich hab da vorhin was von ihr gefunden. Willst du es dir ansehen?«
Mein Herz schnürte sich zu.
»Es sind keine Abzüge, aber die Filme stammen von einer Großformatkamera, also sehen sie quasi schon aus wie echte Bilder«, erklärte Jonathan, während er das Archiv aufschloss.
Ich folgte ihm ins Innere und rechnete damit, dass er sich erst durch ein paar Schubladen kramen musste. Wider Erwarten hatte er die Abzüge bereits herausgelegt. Sieben Stück, sie lagen auf dem Tisch. Leicht überbelichtet und dennoch war die Person darauf unverkennbar. Emma Visser. Sie war fast nackt, doch es wirkte in keiner Weise sexuell.
Augenblicklich verstand ich, wieso Jonathan sie mir hatte zeigen wollen. Weil sie wichtig waren. Mächtig. Die Art von Foto, das kein Foto war, sondern eine wirkliche Momentaufnahme. Ich sah Emma ins Gesicht, während ich ihr eigentlich in die Seele blickte. Wie meine Augen sich bei der Betrachtung mit Tränen füllten, hasste ich. Und dennoch konnte ich nichts dagegen tun.
Gregor.
Gregor war mein erster Gedanke, als ich den Schwangerschaftsbauch erkannte.
»Ich muss die mitnehmen.«
»Äh, was?«, fragte Jonathan verwirrt.
»Ich muss sie jemandem zeigen. Ist das möglich?«, platzte es aus mir heraus. »Dass ich sie mitnehmen kann?«
Ich wusste nichts über Gregor und die Beziehung zu seiner Mutter, dafür war mir das bekannt: Emma war während Gregors Geburt gestorben. Diese Fotos waren bis jetzt irgendwo in diesem Archiv versteckt gewesen, er konnte sie also noch nicht gesehen haben. Und er musste sie sehen.
»Nein, sorry. Das kann ich echt nicht machen. Das hier ist Hochschuleigentum, wenn die mitbekommen, dass ich dir Abzüge mitgebe, vertrauen die mir nie wieder den Schlüssel an. Ich …«
»Okay, dann muss ich kurz jemanden erreichen, ja?«
»Wie meinst du das?«
»Gregor, er …« Denk, Wagner, Denk, denk, denk. »Er und ich haben Campuskitsch zusammen. Die Bilder von Emma passen super zum nächsten Thema, das wir besprechen wollen. Er muss sie auch kurz sehen, geht das?«
Jonathan kratzte sich am Kopf. »Schätze schon?«
»Super«, sagte ich, bevor ich in meiner Tasche nach dem Handy kramte.
Ich zögerte, weil Jonathan mich dabei beobachtete. Gregor und ich hatten seit den Winterferien nicht mehr miteinander geschrieben. Ich hatte unseren Chat sogar archiviert. Kurzerhand entschloss ich mich, Gregor anzurufen. Das war schneller und effektiver. Ich wählte seine Nummer und mein Herz pochte so laut.
»L…Lucy?«, hörte ich ihn da. »Ist alles in Ordnung?«
Er stotterte, es stach. In seiner Stimme vibrierte eine Dringlichkeit, als würde er sich wirklich sorgen.
»Ja.« Hart schluckte ich. »Alles gut. Ich bin nur gerade im Fotografiearchiv und habe etwas vor mir, das du dir auch ansehen solltest. Es ist von Emma. Bist du auf dem Campus oder so?«
»Emma?«, fragte er. »Oh.«
Ich hörte es rascheln, ihn atmen, stellte mir vor, wie er sich durch die dunklen Locken fuhr, und versuchte dabei, die leichte Enttäuschung in seiner Stimme zu ignorieren.
»Und?«, drängte ich. »Kannst du vorbeikommen?«
»Ja. Ja, natürlich. So in zehn Minuten?«
»Zehn Minuten?«, wiederholte ich und sah Jonathan dabei an.
Letzterer reckte den Daumen in die Höhe, immer noch leicht verwirrt.
»Zehn Minuten ist super«, sagte ich.
»Cool«, antwortete er und legte auf.
Aber nichts war cool. Vor allem die zehn Minuten Wartezeit nicht. Ich fühlte mich aufgekratzt, spürte, wie mein Herzschlag beschleunigte, und wusste nicht, wie ich dagegen ankämpfen konnte. Vielleicht würde ich es ja dieses Jahr lernen.
»Was war das eigentlich gerade?«, wollte ich von Jonathan wissen, um mich abzulenken.
Er schob sich die Brille zurecht. »Was meinst du?«
»Na, dein Blick. Wie du Tillie angeschaut hast. Das war definitiv ein Killerblick. Ich wusste gar nicht, dass Tillie und du überhaupt was miteinander zu tun habt?«
»Haben wir auch nicht«, widersprach er. »Sie hat was mit meinem Bruder.«
»Leander ist dein Bruder?«
»Ja?«, erwiderte er verwirrt. »Wusstest du das nicht?«
Gerade wollte ich antworten, da klopfte es an der Tür. Ein Schauder lief mir über den Rücken. So stark war ich mir Gregors Nähe bewusst. Ich drehte mich um und er sah aus, wie er immer aussah. Locken, Hoodie, Jeans. Tatsächlich fuhr er sich jetzt durch die Haare, als wäre er leicht nervös. Mein Blick blieb an seinen Händen hängen. Wieder stachen seine lila Adern hervor.
In meinem Brustkorb stach es doppelt so stark.
»Hey«, sagte Jonathan, der auf seinem Handy tippte und uns damit aus der Spannung holte. »Maya ist gerade in der Mensa. Ist es okay, wenn ich mir kurz einen Kaffee mit ihr hole. So für zwanzig Minuten. Seid ihr so lange hier?«
»Klar«, brachte ich krächzend hervor.
»Super«, erwiderte Jonathan, bevor er verschwand.
Und dann waren da nur noch wir.
»Wieso hast du …?« Gregor setzte an, doch brach ab, weil er beim Abscannen des Raums an den Filmen hängen blieb. In Rekordgeschwindigkeit rissen seine Augen auf.
»Jonathan hat sie mir gezeigt«, erklärte ich, ohne dass Gregor mich fragte. »Wegen dem Porträt.«
»Ach so.«
Er räusperte sich und ich verstand nicht, wieso er nicht auf die Filme zuhechtete. Seltsamerweise blieb er vor mir stehen. Er sah mich an und alle meine Härchen stellten sich auf. Das hatte sich also auch nicht geändert. Im Grunde würde ich nie verstehen, wieso mein Körper in Gregors Gegenwart ein derart lächerlicher Verräter war.
Blind tastete ich nach meinem Jutebeutel, den ich auf einem Stuhl hinter mir abgelegt hatte. »Ich lasse dich dann besser mal allein.«
Ich wollte gehen, ihm den Rücken zuwenden und ihn am liebsten nie wieder anschauen, obwohl ich wusste, dass das nicht möglich war. Wir hatten immer noch den Podcast zusammen, die Winterpause war bald vorbei. Ich würde ihn nicht aufgeben, selbst wenn ein Teil von mir das wollte. Den Schwanz einziehen, mich in meinem Schmerz suhlen und es jeden wissen lassen. So was funktionierte so gut in Filmen, kurz bevor das vorhersehbare Ende eintrat. Aber hier ging das nicht. Das hier war mein Leben und ich würde Gregor unheimlich gerne daraus streichen. Allerdings war das nicht realistisch und erst recht nicht erwachsen.
Nun jedoch konnte ich ihn allein lassen. Sollte es sogar. Also winkte ich, während ich das Gefühl hatte, tausend Wolkenkratzer stünden mir auf der Brust und hielten mich vom Atmen ab. Aber genau in dem Moment, in dem ich die Türschwelle betrat, hatte er plötzlich doch etwas zu sagen.
»Dein letzter Beitrag für Liebe Lucy war übrigens richtig stark. Der im letzten Jahr, meine ich. Das wollte ich dir sagen.«
Ruckartig wandte ich mich um. Wieso, Gregor? , dachte ich. Wieso musst du immer das Richtige sagen, wenn du deinen Mund endlich aufbekommst?
Sofort hob er die Hände. »Sorry, wenn das irgendwie zu weit ging. Ich respektiere deine Entscheidung zu einhundert Prozent und will dir nicht das Gefühl geben, dass ich deine Grenzen überschreite.«
Dazu sagte ich nichts. Bloß roboterartig nicken konnte ich, während er mich eindringlich ansah. Beinahe so, als wollte er sich erst die Erlaubnis holen weiterzusprechen.
»Und wenn wir schon reden.« Deutlich stach sein Kehlkopf hervor. »Danke, dafür, dass du mich wegen der Fotos angerufen hast. Das ist nicht selbstverständlich. Keine Ahnung, ob ich das gekonnt hätte.«
»Natürlich nicht«, schnaubte ich. »So bin eben nur ich. Cute und nett und gut.«
Fragend sah Gregor mich an, doch ich wollte mich nicht erklären. Die Worte waren mir einfach so herausgerutscht.
»Sorry«, flüsterte ich. »Was ich eigentlich sagen wollte: Es bringt nichts, wenn wir uns anfeinden. Wir arbeiten zusammen. Ich will nicht, dass es komisch ist, selbst wenn es das offensichtlich ist.«
»Verstehe«, murmelte er. »Hast du … hast du das Manuskript eigentlich gelesen?«
»Nein. Wieso sollte ich? Es war offensichtlich nicht für mich gedacht. Außerdem nutze ich Leute nicht zu Recherchezwecken aus.«
Zugegeben: Der letzte Satz war unter der Gürtellinie, doch Gregor und ich hatten diese Linie schon lange passiert.
Als sein Mund sich daraufhin öffnete, war ich mir so sicher, dass er widersprechen würde. Überraschenderweise zwang er sich bloß ein Lächeln auf die Lippen. Schief und traurig, diese Art von Lächeln verfehlte sein Ziel nie. Direkt in mein Herz traf es.
»Lies es ruhig. Nur wenn du willst, natürlich. Und wenn du etwas Relevantes für dein Porträt findest, kannst du es problemlos verwenden. Ich hab es übrigens gelesen. Es … es hat mich sehr berührt, Lucy.«