Epilog

GREGOR & ICH 2.0

Gregor schmiss den Rucksack in das feuchte Gras und sah mich an. Es war Februar, kühl und windig, obwohl sich bereits die ersten Sonnenstrahlen zaghaft durch die Wolkendecke kämpften. Abwartend stand er keinen Schritt von mir entfernt. Ich schluckte heftig.

»Dein Pullover«, sagte ich.

Sein Mundwinkel zuckte verräterisch. »Deine Jacke.«

»Deine Jeans.«

»Dein Kleid.«

»Deine Schuhe und die Socken.«

»Deine Strumpfhose.«

Schicht für Schicht verschwand unsere Kleidung, bis wir einander in nichts als Unterwäsche gegenüberstanden. Zugegeben: Wir hätten an Badesachen denken können. Doch unsere Herzen und unsere Köpfe waren so voll voneinander, dass wir es vergessen hatten. Halb nackt standen wir am Frühlinger See. Es war eine spontane Idee gewesen. Lass uns schwimmen , hatte ich vorgeschlagen, kurz nachdem wir aufgewacht waren.

Ich wollte keine neuen Erinnerungen an einem See mit Gregor schaffen. Menschen ließen sich nicht so simpel in ein Vorher und Nachher einteilen. Sie konnten sich verändern, aber höchstens fünfzehn Prozent. Das hatte ich von Gregor gelernt.

Er hatte nicht protestiert. Wir waren aus seinem Bett gekrabbelt, er hatte nach meiner Hand gegriffen und sie erst hier wieder losgelassen.

»Bist du wirklich sicher, dass du da rein willst?«, fragte Gregor jetzt und ich lächelte.

Seit ich sein Manuskript gelesen hatte, fragte er das ständig. Bist du dir sicher, dass du mir verzeihen willst?

Bist du dir sicher, dass wir uns treffen sollten?

Bist du dir sicher, dass wir uns küssen dürfen?

Bist du sicher, dass du mich willst?

Die Antwort war immer Ja. Weil ich ihn verstand. Weil er mich verstand, ohne mir eine Liebe-Lucy- Frage stellen zu müssen. Natürlich hatten wir viel geredet, weil das in Beziehungen nun mal so funktionierte. Und natürlich redeten wir immer noch. Es war nicht immer einfach, nicht immer schön und nicht romantisierbar.

Doch es war echt.

So, so, so, so echt.

»Ja«, sagte ich. »Sicher.«

»Auch wenn wir gleich erfrieren, weil das Seewasser so kalt ist?«

»Wir erfrieren nicht«, erwiderte ich. »Das sind wir noch nie.«

Und da lächelte auch er.

Wie in Zeitlupe ließ er seine Hand zu meiner wandern und verschränkte unsere Finger erneut miteinander. Als er den ersten Schritt in Richtung Wasser machen wollte, blieb mein Blick an seinem Handgelenk hängen. Sanft hielt ich ihn zurück.

»Was würdest du dir wünschen, wenn du dir das Armband jetzt noch mal neu knoten könntest?«

Gregor brauchte einen Moment, um zu verstehen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Frieden«, sagte er. »Immer wieder Frieden.«

Ich fragte mich, ob er dabei an seine Mutter dachte, an Isa und seine Oma, an Tascha und seinen Erzeuger, an sein Manuskript, das er niemals veröffentlichen würde, weil er es schlussendlich nur für sich selbst geschrieben hatte. Ich wollte die Worte sogar aussprechen, doch Gregor kam mir mit einer eigenen Frage zuvor.

»Und du, Lu?« In seinen Augen blitzte es auf. »Was würdest du dir wünschen?«

Kurz stockte ich. Natürlich war ich glücklich. Ich hatte meine Freundinnen, ein Studium, das mich wirklich interessierte. Meine Familie. @thegirlnextdoor. Und trotzdem hatte ich noch so viel zu erleben. So unendlich viele Dinge zu bewegen. In meinem Leben, in dem ich die Farben und Motive schlussendlich doch selbst bestimmen konnte. Auf der Autobahn drehte ich inzwischen andere Lieder als die von Prinz Pi auf, aber die Welt verändern wollte ich immer noch. Mit einem Magazin, das für echte Werte einstand, wobei mir egal war, ob ich für größenwahnsinnig gehalten wurde. Ich glaubte an mich. Ich war nicht Nur-Lucy. Ich war cute und nett und gut, aber ich war so viel mehr.

Ich war Lucy, selbst wenn ich jetzt zwanzig und immer noch nicht angekommen war. Trotzdem brauchte ich kein Nur. Trotzdem war ich genug. Und ich würde so vielen Frauen beibringen, dasselbe über sich zu sagen.

»Na, na, na«, sagte ich Gregor. »Wenn ich dir meine Wünsche verrate, gehen sie nicht in Erfüllung.«

»Das ist ein Aberglaube.«

»Ich spreche aus eigener Erfahrung.«

Er sah mich an und in meinem Brustkorb wurde es weit. Mit einem Mal war da so viel Liebe, so viel Gefühl in seinen schimmernden Augen, dass sich eine Gänsehaut über meine Glieder ausbreitete. Nicht vor Kälte. Sondern vor Wärme.

Dann machten wir den ersten Schritt ins Wasser.

Und tauchten ab.