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Svantje trug ein Kleid nach der neusten Mode. Der Stoff war weinrot, das Oberteil mit Chenillen und braunen Glasperlen geschmückt, die wie kleine Kaskaden fielen und hübsche Muster bildeten. Die Ärmel waren zweigeteilt. An der Schulter breite, modische Keulen, gingen sie am Ellenbogen in enge Röhren über. Der weite Rock hatte eine kurze Schleppe. Das Kleid war teuer und wie fast ihre gesamte Garderobe nagelneu. Es war noch immer ein seltsames Gefühl, sich nicht um Geld sorgen zu müssen.
Sie dachte an ihren ersten Besuch bei Friedrichs Eltern zurück. Als sie herausfanden, dass Svantje aus einer ärmlichen Arbeiterfamilie stammte und Friedrich sie dennoch heiraten wollte, war es zum Eklat gekommen. Doch Friedrich war bereits auf alle Eventualitäten vorbereitet gewesen, hatte sich eine Junggesellenwohnung in der Stadt angemietet und heimlich einen eigenen Geschäftszweig aufgebaut, falls der Vater ihm als Druckmittel das Erbe entzog. So weit war es schließlich aber doch nicht gekommen. Nachdem Friedrich an Cholera erkrankt und unter Svantjes Pflege wieder gesundet war, hatten sie Frieden geschlossen. Dennoch ließ seine Mutter sie mit jedem Blick und jeder Geste spüren, dass sie Svantje für unwürdig hielt. Eine Frau wie sie hatte ihren Sohn und den damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg nicht verdient. Bei ihrer Hochzeit hatte Frau Falkenberg ihr ein Familienerbstück geschenkt, und Svantje hatte fest daran geglaubt, dass sie fortan gut miteinander auskommen würden. Doch in den Wochen danach verblassten der Schrecken über Friedrichs drohenden Tod und die Erleichterung über seine Genesung so weit, dass die beiden Frauen von der Realität eingeholt wurden. Svantje blieb die Alte, und auch ihre Schwiegermutter hielt stur an ihren Prinzipien und Vorstellungen fest.
Sie verstand nicht, dass sie einander liebten und dass es der Liebe egal war, wie reich die Falkenbergs und wie arm die Claasens waren.
Vater und Sohn arbeiteten wieder gemeinsam, als habe es den Streit nie gegeben. Die Reederei Falkenberg verfolgte nun zwei Geschäftsstrategien. Während der Vater sich um das klassische Geschäft kümmerte und Schiffe und Ladeflächen vermietete sowie Kolonialwaren importierte, hatte Friedrich sich den Tuchen und Pelzen verschrieben. Gemeinsam mit seinem russischen Mitarbeiter Wassili importierte er direkt aus Russland Kaschmir, Rauchwaren und mit nur einem Zwischenhändler auch Seiden aus China. Das Geschäft war vom ersten Augenblick an ein Erfolg gewesen. Friedrich machte keinen Hehl daraus, dass er dabei war, sich ein eigenes Vermögen zu erarbeiten. Seine Gewinnspannen waren durch den Direktimport enorm, und er hatte Svantje unmissverständlich klargemacht, dass sie für ihr neues gemeinsames Leben so viel Geld ausgeben sollte, wie sie wollte. Er wusste, wie sparsam sie war und dass es ihr widerstrebte, Dinge zu kaufen, die sie nicht wirklich benötigte. Eine vollständige neue Ausstattung war für ihren gesellschaftlichen Aufstieg allerdings unabdingbar gewesen. Die Summe, die sie beim Schneider gelassen hatten, entsprach dem Krankenschwesterngehalt eines halben Jahres.
Svantje schob einen Finger zwischen ihren Hals und den engen, hohen Stehkragen, um sich etwas Luft zu verschaffen. Sie fühlte sich eingezwängt, als würde sie unter all dem Stoff erdrückt. Schweigend reichte Friedrich ihr einen Fächer, den sie aufgrund der winterlichen Temperaturen eigentlich gar nicht hatte mitnehmen wollen. Doch nun war sie dankbar.
Sie schlug ihn auf und begann sich Luft zuzufächeln. Sie fuhren in einer geschlossenen Kutsche, in der zur kalten Jahreszeit ein kleines Öfchen stand. Es war stickig und viel zu warm. Doch nachdem Svantje sich bereits einmal vor Friedrichs Eltern blamiert hatte, weil der Fahrtwind aus ihrer aufwendigen Frisur ein zerrupftes Vogelnest gemacht hatte, würde sie die stickige Enge dieses Mal erdulden. Ihm zuliebe.
Friedrich musterte sie mit diesem besonderen Licht in den Augen, das nur für sie schien. Seine Liebe war wie ein Schutzschild, der sie vor allen Widrigkeiten abschirmte. Er nahm ihre Hand in seine, verflocht ihre Finger. »Mir scheint fast, du fürchtest meine Eltern.« Svantje hörte das Lächeln aus seiner Stimme heraus, ohne ihn anzusehen.
»Ich fürchte sie nicht, aber sie mögen mich nicht, und deine Mutter lässt keine Gelegenheit aus, mich das auch spüren zu lassen.«
»Mutter bemüht sich, das weißt du. Sie hat versprochen, unserer Ehe nicht im Weg zu stehen, und sich auch daran gehalten.«
Svantje nickte. »Sicher, gesagt hat sie nichts, aber manchmal habe ich das Gefühl, die Enttäuschung darüber in ihrem Gesicht zu lesen, dass du keine vernünftige Frau gefunden hast.«
»Gib ihr etwas Zeit, sie fürchtet nichts mehr als den gesellschaftlichen Abstieg oder ins Gerede zu kommen.«
»Ich kann nichts für meine Herkunft, und ich werde mir von ihr nicht weismachen lassen, dass ich mich dafür schämen oder sie verheimlichen muss.«
Friedrich verzog den Mund, hatte sich aber sofort wieder im Griff. »Siehst du, ihre Ängste sind aus ihrer Warte berechtigt. Schon jetzt weiß jeder, dass der Falkenbergsprössling unter seinem Stand geheiratet hat. Daran kann sie nichts ändern, sosehr sie es auch möchte. Am liebsten würde sie die Leute irgendwie vergessen machen, dass du je etwas anderes warst als die adrette neue Frau ihres Sohnes. Und dann kommst du daher, mit deinem Sturkopf, den ich so liebe, und gehst weiter arbeiten, als hättest du es noch nötig … Mutter meint, es beschäme mich, beschäme uns.«
Svantje lag ein Fluch auf den Lippen, doch sie schluckte ihn hinunter, bitter wie Galle. Sie hatte gewusst, worauf sie sich einließ, gewusst, dass es mit der Hochzeit längst nicht getan war. Nicht nur für sie, auch für Friedrich würden die nächsten Jahre alles andere als leicht werden. »Es tut mir leid«, sagte sie und ballte die Hände zu Fäusten, weil sie am liebsten ihrem Zorn Luft gemacht hätte. Aber das wäre ungerecht gegenüber Friedrich gewesen.
»Dir muss nichts leidtun. Ich wünschte nur manchmal, das Schicksal hätte uns auf einen weniger steinigen Weg geführt. Und sieh es doch einmal so, Vater hast du längst überzeugt. Er zumindest mag dich wirklich.«
»Wenn du das sagst … Du weißt, dass ich versuche, nicht anzuecken. Gibt es eine Möglichkeit für mich, Frieden mit deiner Mutter zu schließen?«
Friedrich zog grüblerisch die Brauen zusammen. »Vielleicht bittest du sie, dir ein wenig bei der Einrichtung zu helfen? Nur Kleinigkeiten. Ich weiß, dass es dir ohnehin wenig Freude macht. Bitte sie um ihren Rat, unterhaltet euch, lernt euch besser kennen.«
Svantje fand die Vorstellung, mit ihrer Schwiegermutter Tand zu kaufen, fürchterlich, nickte aber. »Für den Familienfrieden.«
»Für den Familienfrieden.« Friedrich grinste, und plötzlich verspürte sie wieder den wilden Wunsch, diesen Mund zu küssen. Sie legte ihrem Mann eine Hand an die Wange und zog ihn zu sich.
»So, jetzt geht es mir besser.« Sie atmete tief durch, während es draußen zu nieseln begann. »Übrigens habe ich mich bereits mit Hilde verabredet, damit sie mir zeigt, was eine Dame der Gesellschaft alles so für ihr neues Heim einkauft.«
»Das wird Mutter freuen. Je öfter du dich mit den Harkenfelds sehen lässt, desto besser.« Er lachte, und auch Svantjes Stimmung besserte sich noch ein wenig mehr.
Sie korrigierte den Sitz der Kamee, die ihren hohen Kragen schloss. Der geschnittene Schmuckstein war ein Geschenk von Friedrich und gefiel ihr sehr, auch wenn man für den Gegenwert einige Armenspeisungen hätte bezahlen können.
Es fiel ihr immer leichter, sich von derlei Gedanken zu distanzieren, doch heute gelang es nicht so ganz. Friedrichs Mutter genoss es, ihren Reichtum zur Schau zu stellen, und schon der Gedanke daran stieß Svantje ab.
»Bringen wir es hinter uns«, murmelte Friedrich und hob ihre Hand an seinen Mund, um ihre Knöchel zu küssen. Sie trug dünne Spitzenhandschuhe, die sich sehr fremd anfühlten, dennoch spürte sie seinen Atem auf ihrer Haut. Er war warm, die Geste vertraut.
Die Kutsche rumpelte über Kopfsteinpflaster, in dem hier und da Steine fehlten. »Haben sie das noch immer nicht geflickt?« Er verzog missbilligend den Mund. »Der Senat hat bestimmt wichtigere Entscheidungen zu fällen als die Reparatur einiger Nebenstraßen.« Hier hatte es vor Monaten Auseinandersetzungen zwischen der Hamburger Bevölkerung und der Polizei gegeben. Die Stadt war wegen der Cholera abgeriegelt worden. Über die Straßen verlief kein Handel mehr, und der Hafen, das Herz der Stadt, stand still. Angst vor Seuche und Hungertod hatte die Menschen dazu gebracht, Steine nach den Gendarmen zu werfen, die ihnen den Fluchtweg versperrten. Die notdürftig mit Kies zugeschütteten Löcher in den Straßen zeugten noch von der Gewaltsamkeit der Auseinandersetzung.
»Vermutlich hast du recht«, sagte Friedrich. »Wenn sie sich an ihr Versprechen halten und nicht nur die Kanalisation bauen und erneuern, sondern auch noch die Gängeviertel sanieren, wird wohl kaum noch ein Arbeiter übrig sein.«
Die nötigen Reparaturen und Investitionen in die Infrastruktur waren vom Senat jahrzehntelang verschoben worden, weil sie das Geld lieber für andere Bereiche ausgaben, hinter denen das Wohl der einfachen Bevölkerung weit zurückstand. Erst die Choleraepidemie hatte sie zum Handeln gezwungen.
»Hoffentlich vergessen sie über ihrem Geiz nicht wieder, dass die Stadt und der Handel ohne die Einwohner nicht florieren können.«
Friedrich lugte aus dem Fenster, als die Kutsche ihre Fahrt verlangsamte und dann in eine lang gestreckte Auffahrt einbog. »Wir sind da.«
Svantjes Anspannung wuchs. Sie wünschte sich so sehr, dass die Schwiegereltern sie akzeptierten. Wo seine nur auf sie herabblickten, war es bei ihren eigenen Eltern das genaue Gegenteil. Sie behandelten Friedrich mit so großer Ehrfurcht, als hätten sie es mit einem Halbgott, nicht mit einem normalen Menschen zu tun. Wie sie mittlerweile festgestellt hatte, war Friedrich dieser Umstand ebenso unangenehm wie ihr. Vielleicht würden nur die Zeit und Gewöhnung dieses Problem lösen können. Harmonisch würde die Stimmung zwischen ihren Familien aber wohl niemals werden, und das bedauerte sie sehr.
Die Kutsche hielt, Pferde schnaubten und schüttelten sich das Regenwasser aus den Mähnen. Aus dem dichten Winterfell stieg Dampf. Der Kutscher öffnete die Tür und klappte den kleinen Tritt aus. Friedrich stieg zuerst aus, Svantje überprüfte noch einmal ihr Aussehen in einem kleinen Taschenspiegel, dann ergriff sie die Hand ihres Mannes, fasste mit der anderen den weiten Rock und verließ das Gefährt. Sofort war die Luft angenehmer. Im leichten Nieselregen lag der Duft des vergilbten Rasens und der letzten welken Blätter. Es blühten sogar noch einige wenige Rosen, einsame rote und gelbe Tupfer in kahlen Büschen. Frau Falkenberg pflegte eine beachtliche Sammlung englischer und französischer Züchtungen und sprach gern darüber, wenn sie einmal für eine Weile vergessen konnte, dass ihr Sohn die Tochter eines landlosen, verarmten Bauern geheiratet hatte.
Friedrich drückte ihre Hand, lächelte ihr zu, und schon öffnete sich die Tür. Das Hausmädchen, die helle Tracht faltenfrei und makellos, begrüßte sie mit einem Knicks. Ihr blondes Haar war streng zurückgebunden, und obenauf saß eine Haube. Sie war einige Jahre jünger als Svantje, ihr Gesicht, etwas zu kantig, um hübsch zu sein, wirkte älter, als sei sie stets müde. »Herzlich willkommen, die Herrschaften erwarten Sie bereits.«
Das sagte sie immer. Ganz gleich, wie früh sie kamen, Friedrichs Eltern schienen immer bereits auf sie zu warten.
Wie bei ihrer allerersten Begegnung war eine Kaffeetafel im Wintergarten gedeckt. Die Fenster des gläsernen Anbaus waren frisch geputzt und glänzten in der niedrig stehenden Nachmittagssonne. Es war, als beträten sie einen funkelnden Kristall. Der Tisch war mit weißem Leinen und Spitze gedeckt. Darauf chinesisches Porzellan und drei verschiedene Torten. Neu waren schlanke Stühle aus Kirschholz oder Mahagoni, auch sie muteten asiatisch an. Friedrich liebte es ebenso wie sein Vater, Bilder und Möbel aufzustellen, die ihnen von ausländischen Geschäftspartnern geschickt wurden. Svantje gefielen die Sachen meist, doch sie konnte sich nie merken, was woher kam und wie alt es war. Ihr Gedächtnis schien eher dafür ausgelegt, sich lateinische Bezeichnungen und Rezepte für Arzneien einzuprägen.
Friedrichs Mutter, groß gewachsen und schlank, mit nur wenig Grau im blonden Haar, reichte ihr die Hand. Zu einer Umarmung hatte sie sich nur an einem Tag durchringen können. Nicht dem ihrer Hochzeit, sondern jenem, an dem ihr klar wurde, dass Svantje ihrem Sohn das Leben gerettet hatte.
»Vielen Dank für die Einladung«, sagte Svantje und lobte gleich darauf das zitronengelbe Kleid der Gastgeberin. Sie verhaspelte sich beinahe, so aufgeregt war sie. Frau Falkenberg ignorierte ihre Unsicherheit mit mildem Blick, als habe sie es mit einer Einfältigen zu tun, die es einfach nicht besser verstand, Konversation zu betreiben.
Friedrichs Vater war ein Bär von einem Mann, dem sofort anzusehen war, dass er gutes Essen liebte und gern scherzte. Er begrüßte Svantje wie immer gut gelaunt und erkundigte sich nach ihrem Wohlbefinden. Mit ihm fiel ihr das Reden leichter. Vielleicht, weil er längst akzeptiert hatte, wer und wie sie war.
Kurz darauf saßen sie an der üppigen Tafel, und Svantje kämpfte mit einem sahnigen Törtchen, dessen knuspriger, harter Boden sich kaum mit der Gabel zerteilen ließ. Die Männer unterhielten sich angeregt über eine neue Warenlieferung, die Friedrich binnen der nächsten Woche bekommen sollte. Svantje hörte aufmerksam zu. Eigentlich wurde erwartet, dass sie sich nicht für die Geschäfte ihres Mannes interessierte, sondern sich mit der Gastgeberin unterhielt. Nur wollte ihr einfach nichts einfallen. Sie hatte den Kuchen und die hübsche Tischdekoration gelobt und auch alles andere, was ihr positiv aufgefallen war. Danach hatte sie Frau Falkenberg gebeten, ihr bei der Einrichtung ihres neuen Heims zu helfen, was diese erfreut zugesagt hatte. Sie waren für kommenden Samstag verabredet. Seitdem wusste sie nichts mehr zu sagen. Nun drifteten ihre Gedanken davon, sie konnte sie nicht aufhalten, wie Wasser, das zwischen den Fingern hindurchfloss, ganz gleich, wie fest man sie auch aneinanderpresste. Ihr Beruf war stets präsent, und auch jetzt musste sie wieder an ihren Tag im Klinikum zurückdenken. Eine Patientin war ihr besonders in Erinnerung geblieben. Die junge Bürgerliche hatte sich mit ihrem eigenen Mieder beinahe zu Tode gebracht. Jede Frau schien bestrebt, ihrem Körper eine Sanduhr-Silhouette zu verleihen. Wo die meisten zu diesem Zweck vor allem auf Puffärmel und einen weiten Rock setzten, schnürte diese Frau sich aber enger und enger ein, um dem Ideal zu entsprechen. Ein anderer Arzt hatte Svantje hinzugerufen, damit sie der Frau ins Gewissen redete. Der Anblick war schockierend, ein Extrem, wie Svantje es nie zuvor gesehen hatte. Womöglich hätte ein Mann mit großen Händen die Mitte der Patientin vollständig umfassen können. Das war nicht mehr schön, sondern krankhaft. Selbst nachdem sie sich ausgekleidet hatte, blieb die Taille der jungen Frau erschreckend schmal. Die Rippen hatten sich verformt, das Becken ebenfalls. Sie klagte über Atemnot, Ohnmacht und häufig wiederkehrende Koliken, die darauf hindeuteten, dass auch die Organe Schaden genommen hatten. Die junge Frau hatte sich durch Unwissenheit und Eitelkeit für immer deformiert. Vielleicht hatte Doktor Schawacht recht, und was die Menschen brauchten, war eine Möglichkeit, sich über Ernährung und Gesundheit zu informieren. Kürzlich hatte er sogar davon gesprochen, dass es sinnvoll sein könnte, ein Buch zu verfassen, einen einfachen Ratgeber für jeden, der des Lesens mächtig war. Die Armen aber konnten nicht lesen und sich vermutlich auch kein Buch leisten. Svantje überlegte, wie man ihnen die Informationen dennoch zukommen lassen könnte. Vielleicht waren Schautafeln das Richtige oder Beratungsstellen bei Armenspeisungen.
Jemand sagte ihren Namen und riss sie aus den Gedanken. Hatte sie beim ersten Mal reagiert oder beim zweiten oder dritten? Sie fluchte innerlich, ihre Unachtsamkeit war peinlich.
Ihre Schwiegermutter hatte die Hand auf Svantjes gelegt und sah sie tadelnd an. »Nachdenklichkeit steht keiner Frau gut zu Gesicht, Svantje. Davon bekommen Sie nur Falten. Und Sie möchten doch wohl nicht hässlich werden!«
»Mutter!«, keuchte Friedrich. Sein Blick sagte alles. Eigentlich wollte er unter allen Umständen den Frieden wahren, doch die Worte seiner Mutter beschämten ihn offenbar. Seine Augen sagten, Svantje solle es sich nicht nahegehen lassen. »Mir gefällt meine Frau so, wie sie ist. Nachdenklich, intelligent und mit dem Herz am rechten Fleck. Und wenn sie irgendwann Falten bekommt, dann habe ich längst selbst welche. Das bedeutet es doch, gemeinsam alt zu werden und die Höhen und Tiefen des Lebens zu teilen.« Er nahm Svantjes Hand und hätte ihr in diesem Augenblick kein schöneres Geschenk machen können als diese Geste. Sie würden zusammenhalten, ganz gleich, was für Steine ihnen das Leben in den Weg legte.
»Ich bin stolz auf meine Frau«, schloss Friedrich. »Auf alles, was sie erreicht hat. Jeden Tag hilft sie Kranken und jenen, die sich keine Behandlung leisten können.« Er schien seinen Eltern von Svantjes Beförderung erzählen zu wollen, doch als sich ihre Blicke begegneten, schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Der Graben, der sich zwischen ihm und seiner Mutter aufgetan hatte, war bereits tief genug, er musste nicht weiter darin herumwühlen.
Doch seine Mutter schien es anders zu sehen. Sie räusperte sich, bis die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihr ruhte, dann tupfte sie sich mit einer Serviette den Mund und faltete sie sorgfältig. »Mit der Arbeit im Krankenhaus wird es ohnehin bald vorbei sein, sobald Svantje endlich guter Hoffnung ist.«
Svantje errötete, dann gewann ihr Zorn die Oberhand. Sie hatte sich so fest vorgenommen, alles von sich abprallen zu lassen, jeden spitzen Kommentar mit einem Lächeln hinzunehmen. Doch Frau Falkenberg schien einfach nicht genug bekommen zu können. Sie wollte ihr wehtun. Sie so lange vor den Kopf stoßen und sticheln, bis Svantje aufgab und sich den Konventionen fügte. Dass sie der Ehe mit Friedrich zugestimmt hatte, bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht versuchen würde, aus Svantje eine perfekte Ehefrau zu formen. Vielleicht, weil sie wirklich nur das Beste für Friedrich wollte. Vielleicht aber auch, weil sie einfach nicht verstand, warum Svantje so widerspenstig war.
»Nun lass sie doch«, sagte der Hausherr und versuchte, beruhigend seine Hand auf ihre zu legen. Doch Frau Falkenberg wies ihn mit einer hastigen Bewegung zurück. Friedrichs Schultern waren angespannt. Auch ihm, der selten aus der Fassung geriet, reichte es jetzt.
Svantje nahm es als Ermunterung, ihre Meinung zu sagen. Sie konnte nicht anders. »Viele der anderen Krankenschwestern haben noch bis in den siebten oder achten Monat hinein gearbeitet. Und wo wäre ich als schwangere Frau auch besser aufgehoben als im Krankenhaus?«
»Im Haus, dort, wo eine anständige Ehegattin hingehört. Nicht an einem Ort, an dem Dreck und Seuchen und Tod vorherrschen.«
»Aber auch Medizin, Aufopferung und Wissen. Ich bin Krankenschwester, das ist es, was ich im tiefsten Herzen bin!« Sie war nicht laut geworden, zumindest nicht sehr.
Frau Falkenberg sah sie ungläubig an. »Und wenn Sie eine Krankheit mit nach Hause bringen, zu Ihrem Mann, Ihren Kindern? Sind Ihnen Fremde denn so viel wichtiger?«
In Svantjes Brust schwoll ein Schrei heran wie eine Flut, kurz davor, einen Damm zu sprengen. Sie setzte zu einer Antwort an, presste dann die Zähne aufeinander und atmete, atmete, als gäbe es in diesem Augenblick nichts Wichtigeres. Schrie nicht, sondern erstickte, was so dringend hinauswollte, dass es schmerzte. Dann erwiderte sie ruhig: »Nein, Fremde sind mir nicht wichtiger, verehrte Schwiegermutter. Aber im Gegensatz zu den meisten Menschen Hamburgs weiß ich mich vor Krankheiten zu schützen und achte peinlichst darauf, die Hygieneregeln einzuhalten. Der beste Beweis ist doch wohl, dass ich Hunderte Cholerapatienten behandelt habe, ohne mich zu infizieren. Unter anderem Ihren Sohn.« Sie starrte Frau Falkenberg an, bis diese mit einem blasierten Geräusch den Kopf abwandte. Svantjes Erwiderung hatte sie aus dem Konzept gebracht. Womöglich überlegte sie auch gerade, was für Hygieneregeln Svantje wohl genau meinen mochte.
»Kinder haben noch Zeit«, sagte Friedrich in das Schweigen hinein. »Wir genießen unsere Zweisamkeit, es ist alles noch so neu.«
»Genau deshalb sollte sich deine Frau auch vor allem darum kümmern, euer Heim einzurichten, es behaglich zu machen und dich nach einem anstrengenden Tag zu umsorgen, wenn du von der Arbeit nach Hause kommst.«
Friedrich begegnete seiner Mutter mit sturem Blick. »Ich sitze meist nur im Büro, Svantje arbeitet viel härter als ich.«
Frau Falkenberg wollte etwas erwidern, doch er hob nur die Hand. »Es ist unser Leben, Mutter, unseres! «
»Aber die Leute reden. Noch tun sie es hinter vorgehaltener Hand, doch täusche dich nicht, mein Sohn, ihr macht euch zum Gespött, du und deine widerspenstige Frau. Und ihr zieht uns mit in den Dreck.«
Svantje schwieg. Diese Diskussion kannte sie schon zur Genüge. Sie wusste auch, warum sie seit der Hochzeit noch zu keinem einzigen Fest der höheren Gesellschaft gegangen waren: Erst wollte sie ihre neue Rolle perfektionieren.
Noch mochte es vielleicht Gerede geben, aber blamiert hatte sie Friedrich sicherlich nicht. Dennoch mischten sich leise Zweifel in ihre Gedanken. Verdarb sie Friedrich womöglich die Geschäfte, weil seine Geschäftspartner ihn nicht ernst nahmen? Weil es aussah, als könne er nicht genug verdienen, um sich und seine Frau zu ernähren? Aber das war doch Unsinn! Sein Handel florierte, ihr Haus war ansehnlich, da konnte doch niemand bei Verstand glauben … nein, sicher nicht. Sie nahm sich vor, ihn beizeiten zur Rede zu stellen, um herauszufinden, ob er tatsächlich so stark unter ihren Entscheidungen zu leiden hatte, wie Frau Falkenberg behauptete.
Unterdessen war der Zank weitergegangen. Die Streithähne nahmen Svantje gar nicht mehr wahr. Ihr Schwiegervater versuchte zu vermitteln, doch seine Frau war jenseits von Ermahnungen und ruhigen Worten. Sie war überzeugt, das Richtige zu tun, wollte ihren Sohn vor allem Unbill beschützen. Sie liebte ihr einziges Kind über alle Maßen, vielleicht zu sehr. Zumindest billigte sie Friedrich nicht zu, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.
Svantje sah dem Tumult eine Weile lang schweigend zu, dann tupfte sie sich den Mund ab, legte die gestärkte Serviette sorgfältig neben den Teller und erhob sich. Die Streitenden verstummten, und die plötzliche Ruhe war so dicht, also könne man sie mit Händen greifen. Aller Augen waren auf Svantje gerichtet. »Ich gehe ein wenig frische Luft schnappen«, sagte sie mit dünner Stimme und wartete nicht auf eine Erwiderung. Sie fühlte sich etwas unsicher auf den Beinen, aber nichts konnte sie davon abhalten, zur Tür des Wintergartens zu gehen und in den Garten zu entfliehen.
Sobald sie auf die Terrasse hinausgetreten war, atmete es sich leichter. Kühle, erdige Winterluft umfing sie. Letzte gelbe Blätter trieben im Wind, und am Himmel flogen Tausende Stare in einem dichten Schwarm. Der Nieselregen machte ihr nichts aus. Nur kurz überlegte sie, ob er dem Stoff des neuen Kleides gefährlich werden konnte, doch das war ihr für dieses eine Mal gleichgültig.
Svantje schloss die Tür hinter sich und betrat den weitläufigen Garten. Ihre Augen brannten, doch sie würde jetzt nicht weinen. So viel Macht hatte Frau Falkenberg nicht über sie.
Als sie schließlich wieder ins Haus zurückgekehrt war, hatten sie alle sich für eine geschlagene halbe Stunde benommen wie vernünftige Menschen.
Sobald Svantje und Friedrich in der Kutsche saßen und sich ein wenig vom Anwesen der Falkenbergs entfernt hatten, brach Svantje das Schweigen. »Es tut mir leid, dass unser Besuch einen so unangenehmen Verlauf genommen hat, Friedrich. Wieder bist du für mich in die Bresche gesprungen. Du musst nicht all diese netten Sachen sagen, wenn … wenn …« Ihre Stimme brach, sie wandte den Blick aus dem Fenster. Es war stockfinster.
Bis auf das Klappern der Pferdehufe und Friedrichs tiefes Seufzen war es still.
»Ich habe jedes einzelne Wort genauso gemeint, wie ich es gesagt habe, Svantje. Ich bin wirklich stolz auf dich, und ich freue mich aufrichtig mit dir über deine Beförderung. Es gibt keinen Grund, warum du nicht ebenso das Recht haben solltest, die Ziele in deinem Leben zu verfolgen, wie ich.«
Sie schwieg, was er wohl als Aufforderung verstand weiterzureden. »Aber ich wünsche mir aus tiefstem Herzen Kinder, und wenn es dann so weit ist, erwarte ich von dir, dass du eine Weile zu Hause bleibst. Sie sollen gute, anständige Menschen werden, deren Erziehung ich nicht in den Händen irgendeiner Fremden wissen will.«
»Das will ich doch auch nicht.«
Er fasste sie an den Schultern, drehte sie, damit sie ihn ansah. Es war ihm ernst mit dieser Sache. »Versprochen?«
Sie nickte schnell. »Versprochen.«