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Raik war betrunken. In jedem Arm eine hübsche Fabrikarbeiterin, sang er aus vollem Halse. Die politischen Debatten und Weihnachtsansprachen waren vorüber. Nun wurde getrunken, gegessen und gelacht. Eine kleine Kapelle, bestehend aus Blasinstrumenten und Trommeln, stimmte eine Arbeiterhymne nach der nächsten an. Sie hatten etwas zu feiern, und zwar mehr als Weihnachten und die paar Festtage, an denen es in den Fabriken weniger zu tun gab. Im vergangenen Jahr hatte die Sozialistische Partei viele neue Mitglieder gewonnen. Die Choleraepidemie hatte die Menschen wachgerüttelt und ihnen vor Augen geführt, wie wenig die einfachen Leute den Oberen bedeuteten.
Der Rat der Stadt war so versessen auf seine Macht und den Reichtum, dass man die Warnungen der Ärzte anfangs ignoriert hatte. Um die florierende Wirtschaft und den Handel nicht zu gefährden, hatten sie die Seuche totgeschwiegen. Sie fürchteten die Abriegelung des Hafens mehr als den Tod Hunderter Arbeiter, auf deren Schultern die Wirtschaft ruhte.
Nun waren die Proletarier aus ihrem Schlaf erwacht. Sie würden sich nicht mehr knechten, nicht mehr opfern lassen wie tumbes Vieh. Wenn sie aufbegehrten, Schulter an Schulter zusammenstanden, waren sie stark genug, um den Mächtigsten die Stirn zu bieten. Sie waren Zehntausende! Zehntausende gegen einige Hundert. Wenn sie nun auch noch Soldaten in ihre Reihen brachten, dann würde sogar Kaiser Wilhelm II . zittern müssen.
Raik blickte über die Bankreihen hinweg zu einem Mann, der halb verborgen hinter einer Säule stand. Es war kein Geringerer als Richard Harkenfeld, verkleidet als einfacher Mann. Wenn sogar einer wie er die Sozialisten beehrte, dann konnten sie sich Großes erhoffen. Harkenfeld junior hatte sich von seiner Familie abgewandt. Raik wusste nicht genau, warum, doch er vermutete, hoffte, dass politische Differenzen dahintersteckten. Wenn er den Gerüchten glauben konnte, dann war der Junior jetzt Rittmeister. Militärs wie er wären der Schlüssel, sollte es eines Tages hart auf hart kommen.
Die Überlegungen hatten ihn ein wenig ernüchtert. Er sang noch immer, schunkelte und musterte zugleich die Männer und Frauen, die an langen Bänken saßen. Der große Festsaal beherbergte sicher fast dreihundert Menschen. Und im Gegensatz zu früher mussten sie in diesem Jahr nicht fürchten, dass die Versammlung von der Polizei gestürmt und aufgelöst wurde. Raik war bereits einmal mit den Gendarmen aneinandergeraten. Sie hatten ihm nichts nachweisen können, doch der bloße Verdacht, er habe an einer Demonstration teilgenommen, reichte ihnen, um ihm die Nase zu brechen und ihn halb totzuschlagen.
Raik küsste beide Frauen auf die Wange und erhob sich. Berta hielt seine Hand fest. »Geh nicht, Raik, wir haben noch gar keinen Spaß miteinander gehabt.«
Sie war viel betrunkener, als er gedacht hatte. Eigentlich gefielen ihm die Frauen, die zu den Parteiversammlungen kamen. Sie waren meist selbstbewusster und energischer als ihre Geschlechtsgenossinnen, und manche von ihnen nutzten die Zusammenkünfte für einen Flirt. Raik hatte schon die ein oder andere Liebschaft hinter sich, doch betrunkene Frauen verloren in seinen Augen ihren Reiz. Er lächelte beiden noch einmal zu, dann wandte er sich ab und ging, das halb volle Bierglas in der Hand, durch die Reihen. Er schlenderte, blieb hier oder da für ein kurzes Gespräch stehen, doch sein Ziel behielt er stets vor Augen. Harkenfeld schien tief in Gedanken versunken. Seitdem Raik ihn entdeckt hatte, stand er still wie eine Statue halb hinter einer Säule verborgen, als wolle er nicht gesehen werden, und hielt sich an seinem fast leeren Glas fest. Sein Blick wanderte über die Bühne mit der kleinen Kapelle und immer wieder über die Bankreihen feiernder Menschen.
»Moin«, sagte Raik, als er neben ihm stehen blieb.
Harkenfeld blinzelte wie ein Träumender, der von einem Geräusch im Schlaf gestört wurde. Er musterte ihn, erst dann huschte Erkennen über sein Gesicht. »Sie, Alberts?«
Raik nickte. »Ich bin über Ihre Anwesenheit wohl mehr erstaunt als Sie über meine.«
»Wohl wahr. Bei Ihren gewerkschaftlichen Aktivitäten ist es nur ein logischer Schluss.« Harkenfeld musterte ihn ernst, und in diesem einen Blick war eine deutliche Botschaft zu erkennen. Sein Besuch der Veranstaltung war zwar kein Zufall, aber es sollte besser nicht bekannt werden, dass er hier gewesen war.
»Ich schweige wie ein Grab«, versicherte Raik und stieß sein Bierglas gegen Harkenfelds.
Der nickte nur und nahm einen Schluck von der schalen blassgelben Brühe, die einst ein Bier gewesen war. Der Industriellensohn verzog angewidert den Mund. »Wie läuft es in der Fabrik? Konnten Sie einige Ihrer Ziele durchsetzen?«
Raik versuchte, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Es stimmte also wirklich. Der Junior hatte mit der Familie und vor allem mit seinem Vater gebrochen, denn sonst wäre er besser im Bilde gewesen.
Kurz vor der Choleraepidemie hatte Richard Harkenfeld für einige Monate in der Werft gearbeitet und versucht, zwischen den Gewerkschaftern, zu deren gewählten Anführern Raik zählte, und der Konzernspitze zu verhandeln. Der Junior hatte seine Sache gut gemacht, abgewogen, Kompromisse gefunden. Die Arbeiter setzten ihre Hoffnung in ihn, denn wäre er seinem Vater eines Tages nachgefolgt, wären die Angestellten fein raus gewesen. Doch es war anders gekommen. Harkenfeld senior hatte den Vertrag abgeschmettert, und die Arbeiter waren auf die Barrikaden gegangen. Dann war die Cholera ausgebrochen und hatte den Protest erstickt. Die Werften lagen still, der Hafen wurde abgeriegelt, und die Menschen waren vor allem damit beschäftigt zu überleben.
Raik hatte Richard Harkenfeld seitdem nicht mehr auf der Werft gesehen und nur gehört, dass er der Familie den Rücken gekehrt hatte und zum Militär gegangen war. Eine Schande, aber Raik konnte es verstehen. Es war schon für ihn schwer, dem Werfteigner die Stirn zu bieten. Doch sie waren nicht verwandt, hatten keine gemeinsame Geschichte. Er wusste zwar nicht, wie es war, einen Vater zu haben, doch lieber hatte er keinen als einen Tyrannen wie Harkenfeld senior.
»Es gibt einige Neuerungen«, sagte Raik schließlich, »doch längst nicht so viele wie in Ihrem Papier damals. Dennoch machen wir Fortschritte. Da sich die Arbeiders unterschiedlichster Werften und Fabriken verbünden, gehen der Führung die Alternativen aus. Es gibt kaum jemanden, der sich als Streikbrecher anhüren lässt, und wenn, dann tut er es nur ein einziges Mal, für einen Dach. « Er sprach nicht aus, was mit solchen Leuten geschah, war es doch ein offenes Geheimnis, dass sie mindestens mit einer Tracht Prügel zu rechnen hatten.
»Also geht es voran, wenn auch langsam?«
Raik nickte. »Die Betriebsversicherung für schwere Unfälle und Tod ist durch. Der Stundenlohn um drei Prozent angehoben.« Er zählte noch einige andere Punkte auf, dann leerte er sein Bier. »Drinken Sie een Glas mit mir?«
Richard Harkenfeld sah sich gehetzt um. »Sind noch andere aus der Werft hier?«
»Die Anführer unserer kleinen Revolte sünd al gan. Es könnten noch einfache Arbeiders hier sein, aber die meisten sind so steernhagelduun, dass sie Sie nicht erkennen werden. Auf ein Beer? «
»Ja, warum nicht.«
Richard hatte nicht nur ein Bier getrunken, sondern drei, und außerdem noch einen Schnaps. Seine Gedanken fühlten sich schwammig an, als trieben sie wie Ölschlieren auf dem Wasser. Jeder Windhauch kräuselte sie, ließ sie in allen Farben tanzen. Raik Alberts hatte geredet und geredet. Erst über die Arbeiterbewegung, dann über sein Handwerk als Schiffszimmerer. Nach dem Schnaps begann er abzuschweifen und machte Richard immer wieder Komplimente für seine schöne Schwester Hilde. War zwischen den beiden mehr geschehen als die vielen Tänze auf Friedrichs und Svantjes Hochzeit? Richard hakte nach, doch Alberts behauptete mit ernster Miene, sie danach nie wiedergesehen zu haben. Richard konnte ihn schlecht einschätzen, dafür kannten sie sich zu wenig, und der Alkohol machte ihm ein klares Denken unmöglich. Er würde Hilde nicht darauf ansprechen. Wahrscheinlich hatte sie Alberts einfach nur schöne Augen gemacht, und der machte sich in seinem berauschten Zustand nun Hoffnungen, die sich niemals erfüllen würden.
Schließlich entdeckte Alberts einige Bekannte und verabschiedete sich. Richard sah ihm einen Moment lang nach. Auch für ihn war es Zeit zu gehen.
Richard erhob sich und lief zwischen den Tischen hindurch, die sich merklich geleert hatten. Er wusste selbst nicht, warum er hergekommen war. Natürlich war da der offensichtliche Grund, dass er Hildes Gastfreundschaft nicht überstrapazieren wollte. Aber wo sollte er hin, wenn er auf keinen Fall Bekannten und Freunden seiner Eltern begegnen wollte? In gewisser Weise war Hamburg klein wie ein Dorf. Bei den Sozialisten würde er sicherlich keinem von Vaters Geschäftspartnern über den Weg laufen. Außerdem war er neugierig gewesen, die Weihnachtsfeier war seine erste Parteiversammlung.
Und dann war da noch ein Grund, auch wenn sich alles in ihm dagegen sträubte, ihn sich einzugestehen. Doch sein stilles Hoffen hatte sich ohnehin nicht erfüllt. Jener, nach dem er klammheimlich Ausschau gehalten hatte, war nicht da, und das war sicherlich auch gut so. Wassili war wenige Tage vor Svantjes Hochzeit ebenfalls in die Partei eingetreten, sodass es nicht ganz unwahrscheinlich gewesen war, dass auch er heute anwesend sein würde. Richard hätte ihn zumindest gern aus der Ferne gesehen. Nur gesehen!
Er war wie ein Opiumsüchtiger, der immer wieder zum Kern seines Leidens zurückkehrte, wie sehr er sich auch wehrte.
Richard hatte den Saal hinter sich gelassen. Sein Gang war besser geworden, es fühlte sich nicht mehr an, als bewege sich der Boden unter seinen Füßen. Die kalte Luft würde ihm guttun. Er holte Mantel, Hut und Spazierstock an der Garderobe ab, zog sich an und schlug den Kragen hoch. Vor dem Lokal stand eine Menschentraube. Offenbar hatten viele ihre Unterhaltung ins Freie verlegt. Es wurde gelacht und gescherzt. In der Luft standen Atemwolken und Tabakgeruch. Die winzigen Schneeflocken, die geräuschlos aus dem Himmel segelten, tauten, bevor sie Mäntel und Hüte erreicht hatten.
Dann hörte er ihn. Wassilis Stimme war wie Musik, gefärbt vom russischen Akzent, der jedes Wort besonders klingen ließ. Richards Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Zurück war die vertraute Mischung aus Sehnsucht und Ekel, und plötzlich bekam er es mit der Angst. Nichts hatte sich geändert, die Entfernung ihn nicht geheilt. Die Wunden reichten tief, und nur Wassilis Stimme zu hören ließ frisches rotes Blut daraus hervorquellen.
Richard wandte sich ab und hetzte geduckt an den Menschen vorbei. Dass er die falsche Richtung eingeschlagen hatte, merkte er erst, als er mehrere Häuser weit gegangen war. Er drehte sich um – und sah ihn. Wassili stand auf halber Strecke zwischen ihm und dem Eingang des Festsaals. Er musste ihn erkannt haben und ihm gefolgt sein. Als sich Richard nun umdrehte, verwandelte sich Wassilis fragender Blick in ein breites Lächeln. »Richard!«
Er eilte auf ihn zu, während Richard nur dastand wie festgewachsen. »Nicht … komm mir nicht zu nahe«, stotterte er, doch Wassili schien ihn gar nicht zu hören, schüttelte seine Hand und zog ihn dann an sich. Was für die anderen aussehen musste wie eine kameradschaftliche Umarmung, raubte Richard jedweden Widerstand. Wassili klopfte ihm auf den Rücken, während er noch immer seine Hand hielt und sie mit dem Daumen streichelte. Der Duft seiner Haut, ihm endlich wieder nah zu sein, war wie süßes Gift.
Endlich und doch viel zu früh ließ Wassili ihn los.
»Ich wollte gerade gehen.«
Wassilis Augen blitzten vor Glück. »Dann lass mich dich ein Stück begleiten.«
Richard schüttelte den Kopf, doch Wassili ließ sich nicht so einfach vertreiben. Und war er nicht auch mit dem heimlichen Wunsch hergekommen, ihn noch einmal wiederzusehen? Wassili nahm hastig Abschied von seinen Freunden und sagte, dass er und Richard einen Großteil des Heimwegs gemeinsam gehen könnten. Viel zu schnell war er wieder an seiner Seite. Sobald sie außer Hörweite waren, brach der Russe das Schweigen. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Richard. Es hat eine Woche gedauert, bis ich von Friedrich erfuhr, dass du sofort aus der Stadt getürmt bist und wieder Uniform trägst.«
»Ich habe ihm telegrafiert, in der Hoffnung, dass die Nachricht dich irgendwie erreicht. Ich hatte keine Wahl, ich musste fort, bevor mein Vater es sich anders überlegt und mich ins Zuchthaus steckt.«
»Es war eine riesengroße Dummheit, Richard. Es tut mir leid.«
Richard nickte, seufzte und versuchte, nicht in seinem Begleiter den Schuldigen zu suchen. »Es ist, wie es ist.«
»Tak ono i jest«, sagte Wassili, und Richard war es gleich, ob es sich dabei um eine Zustimmung handelte oder um einen seiner berüchtigten Trinksprüche.
»Wie ist es dir ergangen, Wassili?«
»Wie immer. Ich bin damals noch geblieben, hab so getan, als sei nichts, ein Küsschen hier, ein Küsschen da, während ich in mir drin am liebsten gestorben wäre. Die letzten Wochen …« Er hob die Hände zu einer Geste der Gleichgültigkeit. »Viel zu tun bei Falkenbergs, sonst nichts.«
Sie schlenderten über Pulverschnee. Die Gassen um sie herum eingehüllt in feierliche Stille, ihre Schritte geräuschlos, der feine, weiße Flaum knirschte nicht unter den Ledersohlen ihrer Stiefel.
Hin und wieder sah Richard zur Seite und musterte das markante, schöne Gesicht seines Begleiters. Hohe Wangenknochen, blaue Augen und eine leichte Hakennase, die seinem Gesicht Charakter verlieh. Er wusste noch genau, wie sich Wassilis Lippen anfühlten. Die geteilten Küsse hatten sich in seine Erinnerung gebrannt, unwiderruflich. Er wollte ihn wieder küssen, und dieser Wunsch weckte Abscheu in ihm. Eine Zeit lang hatte er seine Gefühle für Wassili mit diesem Ekel vor seinen eigenen widernatürlichen Trieben in die Schranken weisen können, doch auf lange Sicht hatte er seiner Zuneigung nichts entgegenzusetzen.
Vielleicht war es der Alkohol, der seinen Widerstand brach, denn am Ende begleitete nicht Wassili Richard, sondern Richard ihn. Längst hatten sie die Richtung zu dessen Wohnung eingeschlagen, und Richard ahnte, dass er heute nicht allein schlafen würde.
Sobald sie die Wohnung erreicht und die Tür geschlossen hatten, gab es kein Halten mehr. Sie küssten sich, und mit der ersten Berührung ihrer Lippen wusch die Leidenschaft über sie wie eine Flutwelle, die alles mit sich riss.
Arm in Arm lagen sie schließlich im Bett und tauschten Neuigkeiten aus, bis Richard klar wurde, dass er gehen musste. Seine Schwester würde Verdacht schöpfen, wenn er zu spät heimkäme. Er musste an das Versprechen denken, das er ihr gegeben und schon nach einem Tag gebrochen hatte, und damit war auch die Abscheu vor sich selbst wieder zurück. Der Ekel half ihm, sich anzuziehen und Wassili im Bett zurückzulassen.
»Wann sehen wir uns wieder?«, rief der mit Sehnsucht in der Stimme.
Richard konnte ihm plötzlich nicht mehr in die Augen schauen. »Ich weiß es nicht, kann nichts versprechen. Die Dreizehnte nimmt mich sehr in Anspruch.«
»Flensburg ist so weit weg.«
»Ja. Aber das lässt sich nicht ändern.« Er blieb kurz stehen, sah sich noch einmal um. Dann schob er nach: »Du hättest mich damals nicht küssen dürfen, Wassili.«
Er war bereits an der Tür, als Wassili ihm eine Frage nachrief. »Gibst du mir etwa die Schuld?«
»Ja«, sagte Richard, und mit diesem Wort war er im Flur. Während er die Treppe hinunterhetzte, wurde ihm klar, dass es stimmte. Er gab Wassili die Schuld an allem.
Richard, der sich von Beginn an vor seinen Gefühlen gescheut hatte, wäre niemals auf die Idee gekommen, einen anderen Mann unter freiem Himmel zu küssen. Wassili hatte ihn gedrängt, versprochen, dass man sie nicht sehen würde, und dann war es doch geschehen. Ja, es war seine Schuld.
Doch die Sünde, die sie auf sich luden, die wog für beide gleich schwer.