6
Mai 1899
Morgens war ihr immer übel, darum hatte Svantje heute nicht mit Friedrich gefrühstückt, denn allein beim Duft von Kaffee und Brot drehte sich ihr der Magen um. Meist bekam sie erst gegen elf etwas herunter, und sie hatte es aufgegeben, sich vorher zu zwingen. Deshalb besuchte sie zurzeit auch nicht die Vorlesungen. Eine Frau, die ständig aus dem Saal stürzte, um sich zu übergeben, es vielleicht nicht einmal rechtzeitig hinausschaffte, wollten sie dort nicht sehen. Und Svantje fühlte sich auch nicht danach, obwohl sie sich in den vergangenen Jahren durch Fleiß und Sachkunde den Respekt der Referenten und Zuhörer erarbeitet hatte und viele Wissenslücken hatte schließen können, die sie bereits seit der Ausbildung störten.
Die zweite Schwangerschaft war in vielen Belangen schwieriger als die erste. Svantje verlor stark an Gewicht, und schon in den ersten Wochen war ihr so unwohl, dass sie sich häufig hinlegen musste.
Eigentlich war es sogar ihre dritte Schwangerschaft, doch darüber wollte Svantje nicht nachdenken. Sie war ein halbes Jahr nach dem Abstillen von Karoline wieder schwanger geworden, hatte nach vier Monaten aber eine Fehlgeburt erlitten. Es war ein Kindchen gewesen, das sich kaum bemerkbar machte, außer dass ihre Regel ausblieb und der Bauch ein wenig wuchs. Sie verlor es in der Nacht. Eine Weile hatten Friedrich und sie getrauert, waren schließlich aber gemeinsam mit der kleinen Karoline ans Meer gefahren, um auf andere Gedanken zu kommen. Und dort musste sie wieder empfangen haben.
Svantje hatte sofort gewusst, dass dieses Kind bleiben würde, denn es versetzte ihren Körper in heillosen Aufruhr. Sie bekam fürchterliche Launen, die durch die beständige Übelkeit nicht besser wurden. Die erste Regung war energisch, als habe sie einen kleinen
Ziegenbock in sich. Es war gar nicht genug Zeit, auch nur darüber nachzudenken, ins Klinikum zurückzukehren. Svantje sah sich schon ein Kind nach dem anderen austragen, bis sie alt und faltig war. Sie war erst sechsundzwanzig und hatte noch viele fruchtbare Jahre vor sich. Obwohl sie die kleine Karoline über alles liebte und sich auf deren Geschwisterchen freute, verfolgte sie dieser Albtraum.
Ihren Förderer Doktor Schawacht traf sie dennoch hin und wieder auf einen Kaffee. Er brachte ihr oft Bücher aus seiner privaten Sammlung und neu erschienene wissenschaftliche Zeitungen.
Hin und wieder waren sie auch zu viert ausgegangen, Friedrich, Doktor Schawacht, seine Frau und sie. Bei einem dieser Treffen hatte sich Svantje davon überzeugen lassen, ihre Zeit dafür zu nutzen, ein Buch zu schreiben. Der Doktor hatte sie in den Monaten zuvor vermehrt in die Arbeiten an seinen Publikationen einbezogen. Sie hatte von zu Hause aus Material gesichtet und zusammengefasst und auch einige kleinere Passagen verfasst. So fiel es ihr nicht schwer, den endgültigen Schritt zu tun und selbst zu schreiben. Tag für Tag saß sie nun am Schreibtisch, sobald die morgendliche Übelkeit vorüber war. In das Buch sollte viel aus ihrer Berufspraxis einfließen, vor allem leicht zu behandelnde Krankheiten, dazu noch Erste Hilfe und allgemeine Gesundheitsratschläge. Sie hoffte, dass nach der Lektüre keine Frau mehr auf die Idee kommen würde, sich mit dem Mieder beinahe zu Tode zu schnüren.
Gegen diese Art von Arbeit hatte sogar ihre Schwiegermutter nichts einzuwenden, und so hatte Svantje mit ihr eine Art Frieden geschlossen, vielleicht auch nur einen Waffenstillstand. Hin und wieder brachte sie Karoline für einen Nachmittag zu den Falkenbergs, die ihr einziges Enkelkind mit Geschenken und Zuneigung überhäuften.
Svantje nutzte die Zeit für ihre Schreibarbeiten. Auch jetzt legte sie sich Notizen zurecht, um beginnen zu können, sobald Friedrich aus dem Haus war.
Als sie nun Schritte auf der Treppe vernahm, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihren Ehemann beim Frühstück wieder einmal allein gelassen und die vergangene halbe Stunde an ihrem Schreibtisch zugebracht. Das Buch nahm Formen an. Stapelweise türmte sich eng beschriebenes Papier. Das Tintenfässchen wartete
frisch befüllt auf seine Aufgabe. Seit Monaten arbeitete sie an dem Werk, und mittlerweile tat ihr schon nach kurzer Zeit mit dem Füllfederhalter die Hand weh.
Als Friedrich klopfte, massierte sie sich geistesabwesend die Finger. »Komm herein!«
Er drückte die Tür auf und trat leise ein. »Ist meine kleine Prinzessin bei dir?«, flüsterte er.
»Nein, Karoline schläft noch.« Friedrich trat zu ihr und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Wie geht es euch beiden?«
»Mir ist wieder übel, aber das Kleine ist putzmunter. Und da heißt es immer, das zweite Kind sei einfacher auszutragen als das erste.« Svantje hoffte, dass der unangenehme Teil der Schwangerschaft bald vorüber war. Friedrich beugte sich zu ihr herab und küsste sie sacht auf die Schläfe. »Wie kommst du mit deinem Buch voran?«
»Mühsam, seit zwei Wochen fast krampft mir die Hand vom Schreiben, und die Abhandlungen zu lesen, die mir Doktor Schawacht zukommen lässt, führt mir zu oft vor Augen, wie sehr ich meinen Beruf vermisse.«
Friedrich seufzte. Sie wusste, dass er durchaus nichts dagegen gehabt hätte, wenn sie niemals wieder arbeitete, doch er sagte es nicht, weil er ihren Wunsch respektierte. »Wenn du dich gut genug fühlst, dann begleite mich doch heute ins Büro. Vielleicht habe ich eine Überraschung für dich.«
Erstaunt legte sie den Kopf in den Nacken, lehnte sich gegen Friedrichs flachen Bauch und sah zu ihm auf. »Eine Überraschung? Aber ich trage noch mein Hauskleid. Wann willst du aufbrechen?«
Er kniete sich neben sie und nahm ihre Hände in seine. »Sobald du fertig bist.«
»Und Karolinchen?«
»Bleibt hier, bei der Haushälterin.«
»Du hast das geplant!«
»Ich bin Fernhändler. Selbstverständlich habe ich es geplant, so wie ich alles
plane.« Er lächelte verschmitzt, und ihr Herz tat einen aufgeregten Satz. Zwischen ihnen hatte sich in den Jahren ihrer Ehe nichts verändert. Sein Charme wirkte wie am ersten Tag, sie war ihm hoffnungslos ausgeliefert, und das gern.
»Ich beeile mich«, flüsterte sie dicht an sein Ohr gebeugt, sodass ihr
Atem über seinen Hals strich, und eilte davon.
Die Fahrt in der Droschke war kurz, so kurz, dass die Übelkeit sich nicht verstärkte. Svantje hatte das Büro schon seit einer Weile nicht mehr betreten. Friedrich hatte seines mit dem seines Vaters zusammengelegt. Gemeinsam unterhielten sie nun ein Lagerhaus in der neu errichteten Erweiterung der Speicherstadt. Die Backsteine leuchteten noch in frischem Rotorange, während ältere Gebäude schon vom Schmutz der Holzkohlefeuer und dem Ruß der Dampfschiffe ergraut waren. In dem neuen Bau war nun nicht nur das Büro, sondern auch das Warenlager untergebracht. Durch Tore und Seilwinden zur Wasserseite konnte direkt vom Schiff entladen werden.
Svantje betrat das Gebäude und wurde von einer wilden Mischung exotischer Düfte empfangen. Friedrichs Vater handelte vor allem mit Kaffee, Kakaobohnen, Zimt, Nelken und anderen Gewürzen, während sich ihr Mann Tuch und Rauchwaren verschrieben hatte. Svantje wurde klar, dass sie es vermisst hatte, hier zu sein. Die letzten Wochen hatte sie fast ausschließlich an ihrem Schreibtisch oder mit der kleinen Tochter verbracht und sich immer mehr zurückgezogen.
Friedrich stieg vor ihr die Treppe hinauf und öffnete die Tür.
Svantje trat an ihm vorbei. »Guten Morgen«, sagte sie etwas lauter. Die Sekretärin des Seniors lächelte und erwiderte ihren Gruß, ebenso ein junger Kaufmann, der, soweit sie wusste, einen Teil der Inlandsgeschäfte führte. Ihr Schwiegervater war noch nicht da.
Friedrich legte eine Hand um ihre Mitte und schob sie sacht vorwärts. »Komm, dein Geschenk wartet in meinem Büro.«
»Du machst es spannend.«
»Selbstverständlich.« Er lachte.
Sein Büro war durch eine breite Flügeltür von den anderen Räumlichkeiten getrennt. Wie meist stand sie auch jetzt offen. Im Inneren gab es drei großformatige Schreibtische sowie viele Regale, in denen Warenmuster lagen. Die Wände wurden von mehreren prächtigen Ölgemälden geschmückt, die ferne Landschaften und einen bunten Basar zeigten. Hier und da waren kleinere Exotika aufgestellt.
Friedrichs persönlicher Assistent, der Russe Wassili Alfjorow, kehrte mit einigen Akten von einem Schrank zurück und deutete eine Verbeugung an. »Meine liebe Svantje, welch eine Freude, Sie hier zu sehen.«
Er nahm ihre Hand in seine beiden und musterte sie wohlwollend. Wassili war ein langjähriger Freund ihres Mannes, der regelmäßig mit ihnen zu Abend aß und, da er so weit weg von seiner Heimat war, auch hin und wieder an Familienfesten teilnahm. »Wie geht es Ihnen?«, fragte Svantje.
»Das sollte ich eigentlich Sie fragen, Verehrteste. Ich kann nicht klagen, wenngleich sich meine arme russische Seele nach der Heimat verzehrt.«
»Dann unternehmen Sie doch eine Reise.«
»Oh, das werde ich auch! Ihr Mann hat große Pläne, was den Seidenimport über das Zarenreich angeht, und er hat mich auserkoren, die Verträge persönlich vor Ort auszuhandeln. In drei Wochen breche ich auf.«
»Das freut mich.« Sie meinte es aus ganzem Herzen. Sich vorzustellen, allein in einem fremden Land zu leben, wenn auch unter Freunden, war ihr unerträglich. Obwohl sie nicht gebürtig aus Hamburg stammte, war sie so fest mit dem Ort verwurzelt, dass sie ihn mit vollkommener Selbstverständlichkeit ihre Heimat nannte.
»Ich denke, dort drüben wartet etwas auf Sie«, sagte Wassili und deutete mit einem Kopfnicken zu einem Tisch, auf dem eine hölzerne Seekiste stand. Friedrich wartete dort bereits auf sie, in seiner Hand Hammer und Beitel, um den vernagelten Deckel zu öffnen.
Nun war Svantjes Neugier zurück. »Was ist es?« Sie berührte das Holz und suchte den Absender. »Aus Amerika? Treibst du denn Handel mit Amerika?«, fragte sie an Friedrich gerichtet.
»Nein, für gewöhnlich nicht, die Bestellung war eine gesonderte Angelegenheit. Soll ich aufmachen?«
Sie nickte aufgeregt, und Friedrich hebelte mit einigen geübten Handgriffen den Deckel auf und stellte ihn zur Seite. Im Inneren befand sich ein Polster aus Sägespänen. Svantje versuchte, die dicke, duftende Schicht zur Seite zu schieben, und fühlte darunter einen kantigen Gegenstand, der in Leinen eingewickelt war. Sie hatte keine Vorstellung, was der Inhalt sein mochte. Friedrich machte ihr oft Geschenke, doch meist handelte es sich um erlesene Tuche oder Schmuck. Dies war keines von beiden.
Gemeinsam schaufelten sie bergeweise Späne in einen kleinen Papierkorb, dann hob Friedrich den umwickelten Gegenstand heraus,
und Wassili räumte Box und Deckel zur Seite.
Svantje schlug das Leinen zurück und blickte auf eine seltsame Gerätschaft. Es gab Tasten mit Buchstaben darauf, doch sie waren nicht in alphabetischer Reihenfolge. Hebel, Bänder und weitere Tasten vervollkommneten das Bild. »Das ist doch nicht etwa …«, stotterte Svantje und wagte kaum, die Maschine zu berühren.
»Damit wirst du leichter und schneller schreiben können. Es ist eine Underwood No. 1 aus Amerika.«
»Aber wie soll ich denn … damit kann ich doch nicht …«
Svantje berührte verdattert einen Buchstaben und zuckte erschrocken zurück, als sich ein dünner Hebel löste, der sie allzu sehr an ein Spinnenbein erinnerte. Ihr unterdrückter Schrei sorgte für Gelächter, und prompt stieg ihr das Blut in die Wangen.
»Gib mir einen Kuss, und dann überlasse ich dich Wassilis Fachkunde, dich in den Gebrauch des Ungetüms einzuweisen. Wenn du möchtest«, setzte er hinzu, weil ihm durch die ausbleibende Freude seiner Frau offenbar Zweifel kamen.
Svantje fasste sich. Energisch drückte sie ihrem Mann einen Kuss auf die Wange. »Danke«, sagte sie, auch wenn sie noch nicht so recht wusste, ob sie sich mit dieser neumodischen Erfindung würde anfreunden können. Sie wollte das Gerät hochheben und zu Wassilis Schreibtisch bringen, doch es war schwer und unhandlich und bewegte sich, sobald sie versehentlich einen der Spinnenbeinhebel berührte.
»Ich helfe dir.« Friedrich trug ihr die Schreibmaschine herüber, während Wassili einen Stuhl heranrückte.
Die nächsten Stunden flogen nur so dahin. Sie lernte, wie sie die Tasten benutzen, Papier einlegen und das Farbband wechseln musste. Tippte sie zunächst noch mit vielen Pausen und spitzen Fingern, so wurde es am Mittag bereits besser. Sie wusste jetzt, wo sich welche Taste befand, auch wenn sie hin und wieder noch die falsche erwischte. Ein Fehler, der nicht mehr zu beheben war.
»Wenn ich in diesem Tempo weiterschreibe, bekomme ich fünf Kinder, bevor mein Ratgeber fertig ist«, seufzte sie schließlich entmutigt.
»Das wird schon werden, meine Liebe«, versicherte Wassili ihr gut gelaunt. Er besaß eine ebensolche Maschine, doch seine Finger flitzten
eifrig über die Tastatur, wenn er Bestellungen und Listen tippte. Wollte er aber kyrillische Schrift verwenden, musste er es von Hand tun. »Bald habe ich die passenden Buchstaben, dann ist auch das Geschichte«, sagte er auf Svantjes interessierte Nachfrage hin. Sie mochte gar nicht glauben, dass er die Benutzung dieses Geräts als Verbesserung ansah.
Doch nach einiger Übung musste sie eingestehen, dass ihre Finger nicht schmerzten wie an anderen Tagen. »Wir werden uns schon noch aneinander gewöhnen«, sagte sie schließlich, sah über die Schulter zu Friedrich, der sie beobachtet hatte, und warf ihm eine Kusshand zu.
Sein Lächeln zeigte große Erleichterung.
August 1899
Svantje war im achten Monat schwanger, als sie ihre alte Abteilung im Klinikum betrat und geradewegs auf Doktor Schawachts Büro zuhielt. Sie war beinahe so aufgeregt wie bei ihrer Hochzeit. Die Euphorie, endlich ihr fertiges Werk vorzeigen zu können, ließ sie vergessen, dass es ihr schon seit dem Vorabend nicht gut ging. Sie hatte leichte Wehen, doch die waren seit einigen Wochen stete Begleiter und, soweit sie von anderen Frauen wusste, bei manchen Schwangerschaften üblich. Das Unwohlsein schob sie auf die neue Lage des Kindes, das ihr auf den Magen drückte und Taubheit bis in ihre Beine sandte.
Doktor Schawacht war nicht da. Svantje würde warten müssen. Sie setzte sich auf ein schmales Sofa, das zwischen zwei schwer beladenen Bücherregalen stand. Dass der Arzt wiederkommen würde, sah sie an seiner schwarzen Ledertasche und dem Ebenholzkästchen mit seinem persönlichen Operationsbesteck. Beides ließ er niemals in der Klinik, wenn er heimging.
Eine halbe Stunde verstrich, dann eine ganze. Mit der Zeit war auch ihre Aufregung dahingeschwunden. Man konnte nicht immer aufgeregt sein, das Gefühl nutzte sich ab, verschliss wie Leinen.
Der Schmerz, der irgendwo in ihrem Rücken begann, strahlte bis in die Beine aus. Svantje ging ein wenig herum, um sich Linderung zu verschaffen, doch auch das fiel ihr schwer. Sie fühlte sich nicht sicher
genug auf den Beinen. Schwindel kam und ging. Ihr Kreislauf strafte sie für ihre Nachlässigkeit, nicht gefrühstückt zu haben.
Sie setzte sich wieder, es war besser so, und nahm die Tasche mit ihrem Manuskript wieder auf den Schoß.
Vom Flur erklangen aufgeregte Stimmen, hastige Schritte eilten vorbei. Jemand stöhnte unablässig. Ein Notfall? Trotz ihres Zustands fühlte sich Svantje, als müsse sie sofort aufspringen und hineilen. Sie erstickte das Gefühl, indem sie ihre Hände um den Griff ihrer Tasche krampfte.
Die Schreie ebbten ab. Wohl eine weitere halbe Stunde darauf zog Essensgeruch ins Zimmer. Die Patienten bekamen ihre Mahlzeiten. Es war fast immer Eintopf und Brot, einfache Gerichte, die von fast jedem vertragen wurden.
Doktor Schawacht und die anderen Ärzte würden nun ebenfalls zu Mittag essen, vermutlich auswärts, das würde dauern.
Svantje zuckte, als sie jemanden an der Tür hörte. Soeben schlug die Uhr drei. Sie musste eingeschlafen sein, vielleicht war sie auch ohnmächtig geworden. So oder so, nun war sie hellwach.
Doktor Schawacht betrat sein Büro, und Svantje erhob sich. Den Schwindel überspielte sie mit einem Lächeln. Der grauhaarige Arzt war mit wenigen Schritten bei ihr und begrüßte sie herzlich. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie hier sind, wäre ich schneller zurückgekommen. Warum haben Sie denn niemandem Bescheid gegeben?«
»Die Nöte der Patienten gehen vor.«
»Denkt niemals an sich, so ist sie, meine Schwester Falkenberg. Die angehenden Doktoren, denen ich unseren Operationssaal gezeigt habe, hätten gerne warten dürfen. Nun sagen Sie, wie geht es Ihnen?«
Er geleitete sie zu einem Stuhl und setzte sich ihr gegenüber, nachdem er eine Schwester gebeten hatte, Erfrischungen zu bringen.
»Mir geht es gut so weit, ich vermisse meine Arbeit, aber …« Ihr fiel keine gute Überleitung ein, und so zog sie schlichtweg den dicken Stapel Papier aus ihrer Tasche, legte ihn auf den Schreibtisch und schob ihn dem Arzt herüber.
»Ist es, was ich glaube?« Er setzte seine Brille auf und las: »Medizinischer Ratgeber für die Frau und Mutter. Von Svantje Falkenberg.
Ich gratuliere!«
»Gratulieren Sie nicht, bevor Sie es gelesen haben … wenn Sie
meinem Werk diese Ehre zuteilwerden ließen?«
»Aber selbstverständlich, habe ich Sie doch überhaupt erst dazu angestiftet.« Er stand auf, kam um den Tisch herum und schüttelte ihre Hand.
Svantjes Herz jagte nun wieder. Wie viele hatten sie belächelt, sie gar offen verspottet. Eine Frau, die schrieb, und dann auch noch wissenschaftlich. Das war skandalös und lächerlich, gestand man dem schwachen Geschlecht doch allenfalls zu, süßliche Novellen und Romane zu verfassen. Der Doktor traute ihr mehr zu. Sie erhob sich. »Danke, Ihr Glaube an mich bedeutet mir sehr viel, Sie wissen gar nicht, wie viel.«
Sie schwankte, der Schmerz raste aus ihrem Rücken die Beine hinab, raubte ihr den Atem. Dann sank sie.
Nein, sie fiel.
Schawacht schrie etwas, doch da war die Dunkelheit bereits über ihr und riss sie unerbittlich hinab.
Das Gespräch mit seinem Vorgesetzten hatte Richard beunruhigt, dabei hätte es ihn als Angehörigen seiner Zunft doch in Wohlwollen versetzen sollen. Der Kaiser trieb einen Ausbau der Streitkräfte voran, um dem Deutschen Reich endlich einen Platz unter den Großmächten zu sichern. Auch ihre Kaserne würde mehr Männer und Kriegsgerät erhalten. Vor allem aber betraf es die Flotte.
Großadmiral von Tirpitz, der seine Stellung als Staatssekretär des Reichsmarineamtes seit 1897 innehatte, sah in diesen Schritten auch ein Mittel, um drohende Spannungen im Reich zu befrieden, und nahm damit den Rechtskonservativen den Wind aus den Segeln.
Sie hatten eine Abschrift des neuen Flottengesetzes diskutiert und dabei Weinbrand getrunken. Noch immer lag Richard der Geschmack süßlich auf der Zunge. Er hoffte, dass die neuen Entwicklungen letztlich vor allem ein innenpolitisches Bestreben darstellten. Denn mit der Marine Großbritanniens und der anderen Großmächte konnten es die Deutschen nicht aufnehmen.
Tief in Gedanken versunken querte er den Innenhof. Es war spät, und bis auf einige Gaslaternen gab es wenig Licht. Im Westen stand
noch ein wenig Helligkeit am Himmel, nicht mehr als ein samtiger Streifen Blaugrau in all der Schwärze. Hochnebel verdeckte die ersten Sterne und umgab den Mond mit einem milchig schimmernden Hof.
Der Platz war sauber gefegt, und Richards Stiefel hinterließen Spuren im feinen Kies. Er ging an den Kasernen vorbei, in denen die einfachen Soldaten lebten. Alte, kerzengerade Linden reckten sich beiderseits der breiten Zufahrt, auf der regelmäßig aufmarschiert wurde. Eine der vielen Katzen, die in den Ställen der Dragonerpferde hausten, huschte vorbei, den Körper an die Gebäudewand gepresst. Gab es einmal nicht genug Mäuse, konnten sie immer Reste in der Küche oder bei den Soldaten ergattern.
Richard wusste, dass er so schnell keine Ruhe finden würde. Als er auf Höhe der Ställe war, bog er ab. Er würde noch einmal nach seinem Pferd sehen. Der warme Tiergeruch und die friedvolle Stimmung des Stalls übten schon seit Kindertagen einen besonderen Zauber auf ihn aus.
Er grüßte eine aus zwei Mann bestehende Patrouille und betrat den Holzbau. Die rhythmischen Schritte der Männer waren schnell verklungen. Im Vorraum brannten zwei Lampen. Richard nahm eine davon und betrat den Stall. Es duftete nach Heu und Stroh. Hier waren die hochblütigen Rosse der Offiziere untergebracht, die nicht gut mit der Ständerhaltung zurechtkamen. Es waren auch Hengste darunter, die gern miteinander kämpften. Zu dieser Uhrzeit aber herrschte Frieden im Stall. Viele Tiere schliefen im Liegen, andere dösten, wenige, so auch Richards Rappe, fraßen. Er begrüßte das Tier, streichelte die warmen Nüstern, dann lehnte er sich gegen die Tür und sah ihm zu, wie es mit halb geschlossenen Augen kaute.
Richards Gedanken kehrten unterdessen zu den neuen Flottengesetzen zurück. Vermutlich würde Vater sich die Hände reiben. Nur wenige Werften waren groß genug für den Bau von Kriegsschiffen, wie sie Großadmiral von Tirpitz vorschwebten. Die Harkenfeld-Werft war eine von ihnen.
Walter Degen und Vater würden die Nächte durcharbeiten müssen, um Angebote vorzubereiten und Konkurrenten zu unterbieten. Der Preiswettkampf würde zum Nachteil der Arbeiter geführt werden, andererseits bedeutete die neue Entwicklung aber auch, dass sie weitere Männer einstellen konnten. Mehr und mehr Landbevölkerung
strömte in die Städte und füllte die Ränge der Armen und Ärmsten immer weiter auf. Eine Anstellung in einer Fabrik oder im Schiffbau war ihre Rettung, ganz gleich, wie lächerlich der Lohn ausfiel.
Wäre die Firma auf Richard übergegangen, hätte er sich weiterhin auf Handels- und Auswandererschiffe konzentriert, doch seine Meinung war nicht mehr gefragt, würde es nie wieder sein.
Er rieb sich über das Gesicht. Er wurde nun doch müde, und der Branntwein verfehlte seine Wirkung nicht. Zeit, ins Bett zu gehen. Er rief seinen Hengst mit einer lockenden Handbewegung zu sich und streichelte zum Abschied die breite Stirn mit dem münzgroßen weißen Stern, dann wandte er sich ab und hielt inne.
Ein Geräusch hatte ihn aufhorchen lassen. Konnte es sein? War er etwa nicht allein im Stall oder ihm sogar jemand gefolgt? Er hob die Laterne über den Kopf. »Heda!«, rief er und kam sich im selben Moment töricht vor. Dann fiel in der Futterkammer etwas um.
Mit wenigen Schritten war Richard an der Tür und riss sie auf.
Der Anblick, der sich ihm bot, erwischte ihn eiskalt. Zwei junge Dragoner, der eine vornübergebeugt, der andere in eindeutiger Pose hinter ihm. Beide hatten die Hosen heruntergelassen. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Richard registrierte die Erektion des einen Soldaten mit einer enervierenden Mischung aus Ekel und erwachender Lust. Beide blickten ihn an, starr vor Entsetzen, ihre jungen Gesichter blass bis auf ihre geröteten Münder. Geküsst hatten sie sich, so leidenschaftlich, dass die Haut gereizt war von den kurzen Bartstoppeln.
»Was ist das hier?«, schrie Richard, sobald er einen Teil seiner Fassung wiedererlangt hatte.
Der Blonde riss seine Hosen hoch und stammelte etwas, sein braunhaariger Partner versuchte mit Tränen in den Augen, seine nur langsam schwindende Erektion zu verbergen.
»Bitte, bitte, Rittmeister, es war das erste Mal …«
»Ihr bringt Schande über mein Regiment! Widerwärtig«, spuckte Richard ihm entgegen.
»Es wird nie wieder vorkommen«, bettelte der Dunkelhaarige. »Wenn meine Familie das erfährt …«
Seine Panik versetzte Richard einen Stich. Er kannte diese Situation nur allzu genau. Bevor er entscheiden konnte, was zu tun war,
ertönten Schritte. »Was ist hier los?«, rief jemand. Licht erhellte den Stall. Pferde, aus dem Schlaf geweckt, sprangen auf. Die beiden wachhabenden Soldaten kamen mit hoch erhobenen Lampen durch die Gasse.
»Herr Rittmeister!« Der Ältere der beiden salutierte und sah sich um. Die jungen Soldaten waren längst vollständig bekleidet. Der Blonde strich seine Jacke glatt, straffte die Schultern.
»Abführen, in den Karzer mit den beiden!«, befahl Richard, wandte sich ab und marschierte davon. Er ging davon aus, dass seine Befehle anstandslos befolgt wurden.
Er musste hier hinaus, nur hinaus! Mit langen Schritten stürmte er aus den Stallungen, hetzte weiter, bis die Dunkelheit ihn verschlang, dann begann er zu rennen.
Er nahm einen Reitweg, der in die schier endlose Heide führte, riss seine Jacke auf und warf sie auf einen Wacholderstrauch. Richard lief, bis ihm die Beine brannten, lief und stürzte über eine Wurzel, sprang auf und rannte weiter. Doch er konnte seinen Gefühlen nicht davonlaufen. Der Anblick der beiden hatte sich in sein Gehirn gebrannt. Die Lust, die ihn augenblicklich ereilte, haftete an ihm wie ein Makel. Er war entsetzt, von den beiden jungen Soldaten ebenso wie von seiner eigenen Reaktion.
Sie waren wie er und wie Wassili, und er hatte diese Männer verraten!
Der Schmerz war wie ein Anker, der sie aus der Ohnmacht in die Welt zurückriss. Svantje fand sich im Kreißsaal des Hospitals wieder. Nur wenige Schritte von ihr lag eine Frau in den letzten Wehen. Mit einem beinahe unmenschlichen Schrei bäumte sie sich auf. Gleich darauf hielt eine Schwester einen rosigen, verschmierten Säugling hoch. Sie nahm den Kleinen an den Füßen, reinigte unsanft Nase und Mund, danach schwang sie ihn hin und her. Der kleine Kopf lief rot an, dann das ersehnte Husten, ein Rinnsal Fruchtwasser und ein erster Schrei.
Schmerz ließ Svantje den Kopf herumreißen. »Nein«, keuchte sie. »Es ist noch viel zu früh, viel zu früh.«
»Das schert das Kind nicht«, fuhr eine beleibte Schwester sie an. Es
war Cornelia Thomsen, ein Gesicht wie eine Fleischergehilfin, ein Nacken wie ein Stier. Svantje hatte nie verstanden, was diese Frau bei den werdenden Müttern verloren hatte, und nun war sie ausgerechnet ihr ausgeliefert. Andererseits hatte sie bislang weder mit Schwester Thomsen zusammengearbeitet noch Schlechtes über sie gehört.
»Sie sind in guten Händen«, sagte eine Männerstimme. Svantje reckte sich zwischen zwei Wehen und erkannte Doktor van Dullem in dem Sprecher. Ein junger Arzt, den Doktor Schawacht sehr schätzte. Er war schmal, mit kurzem, dunklem Haar und Schnäuzer und einer Brille als ständigem Begleiter. Svantje hätte sich ihren Förderer an ihrer Seite gewünscht, doch der Chirurg hatte andere Fachgebiete, Frauenheilkunde gehörte nicht dazu.
Eine neue Schmerzwelle. Sie presste die Arme an den Körper, die Hände krampften. Ihr Herz jagte, als wolle es der Pein entfliehen. Schwester Thomsen fasste sie unter der Schulter, zog sie mühelos in eine aufrechte Position. »Zum Geburtsstuhl, meine Liebe, lassen Sie die Schwerkraft helfen.«
»Ich kann nicht«, keuchte Svantje. Ihre Knie fühlten sich ganz weich an, die Beine, als würden sie ihren Körper nicht tragen können.
»O doch, Sie können.« Schwester Thomsen ließ keinen Zweifel zu. »Lise, fass mit an!«
Eine Schwesternhelferin unterstützte sie von der anderen Seite, und bevor die nächste Wehe einsetzte, saß Svantje auf dem Geburtsstuhl. Lise stellte die Rückenlehne in eine aufrechtere Position und machte es ihr so angenehm wie möglich. Dann kehrte der Schmerz zurück. Svantje krampfte die Hände um die Lehnen, presste mit den Füßen gegen die Stützen, bis der Stuhl hörbar ächzte.
»Mein Mann«, sagte sie, schwindelig vom abklingenden Schmerz.
»Es ist jemand zu ihm unterwegs«, beruhigte sie der junge Arzt, während er ihren Puls maß. »Sie müssen sich jetzt ganz auf sich und Ihr Kind konzentrieren.« Er tastete ihren Bauch ab, jede Berührung unangenehm.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Svantje. Der Mann legte die Stirn in Falten, schob sich in einer nervösen Geste die Brille höher auf den Nasenrücken, dann wandte er sich ab, ohne ihr zu antworten. Er trat zu Schwester Thomsen. Svantje versuchte, zu hören, was sie besprachen, doch die nächste Wehe kam, und sie ertrank in Schmerz.
Als es vorüber war, tropfte Schweiß von ihrer Stirn. Unter dem Stuhl breitete sich eine Lache von Fruchtwasser aus, und ihr Bauch hatte plötzlich eine andere Form. Fahrig, mit zitternder Hand, strich Svantje darüber. »Mach mir keine Angst, Kleines«, flüsterte sie.
Warum kam Friedrich nicht! Warum war keine Freundin, keine Verwandte bei ihr? Sie fühlte sich so alleingelassen mit all diesen fremden Menschen. Ihre Tränen fielen in dem verschwitzten Gesicht nicht auf.
»Das Kind liegt falsch«, erklärte die bullige Schwester Thomsen mit wenigen Worten. »Wenn wir es nicht drehen, kommt es nicht heraus.«
»Doktor!«, schrie Svantje verzweifelt und reckte den Arm nach van Dullem. Er trat zu ihr, das Gesicht blass unter dem dunklen Bart. Sie fasste sein Handgelenk und hielt es fest. »Versprechen Sie mir etwas.«
»Was?«
»Wenn Sie es nicht drehen können, schneiden Sie es heraus.«
»Aber Frau Falkenberg, nur zwei von zehn Frauen überleben eine Sectio caesarea.
«
»Schwören Sie es!«
»Ich schwöre nicht.«
Mit der nächsten Schmerzwelle war der Arzt verschwunden. Svantje spürte deutlich, wie sich ihre Leibesfrucht absenkte und nach dem Ende der Wehe sogleich wieder hob.
Die Rasten wurden verstellt, und die Lehne kippte zurück, bis sie beinahe lag, dann begann Schwester Thomsen, das Kind zu drehen. Es tat weh, so unendlich weh. Überall waren Hände, die quetschten, drückten, schoben. Wehen dazwischen, dann erneut Hände. Van Dullem hielt ihren Oberkörper fest. Svantje wurde immer wieder schwarz vor Augen, doch die Pein riss sie stets wieder aus der lockenden Umarmung der Ohnmacht. Sie wimmerte, merkte erst spät, dass die Geräusche aus ihrer eigenen Kehle kamen. »Bitte, bitte«, wiederholte sie, doch der Arzt erhörte sie nicht.
Als die Lehne wieder aufgerichtet wurde, war Svantje kaum noch bei Besinnung. Der Schmerz war allumfassend, brandete wie Sturmwogen gegen sie und über sie hinweg.
Sie rissen das Kind mit einer Zange aus ihr heraus. Es war klein und blau und ein Junge.
Svantje sah ihm nach, wie er von van Dullem davongebracht wurde.
Er schrie nicht. Ihr Kopf nickte nach vorn, und dann sah sie es. Blut, so viel Blut. Der Anblick von all dem Rot ließ sie seltsam ruhig werden.
Das war es also. Sie verblutete nach einer komplizierten Geburt, wie so viele Frauen vor ihr. Wenn es doch wenigstens das Kindchen geschafft hätte.
Ihr Kopf wurde ganz leicht. Sie hörte Friedrich nach ihr rufen, doch ihre Augen schlossen sich wie von allein.
Aus.