8
Mai 1900
Friedrich blickte ernst auf sie hinab, während sie Clemens mit Brei fütterte. Er war mittlerweile neun Monate alt und hatte sich gut entwickelt, auch wenn er noch immer etwas zu dünn für sein Alter war. Svantje war vor allem froh, dass sie nun nicht mehr so oft stillen musste und wieder mehr Freiheiten hatte.
Ihr war Friedrichs Stimmung nicht entgangen. »Du bist doch nicht nur hergekommen, um grimmig vor dich hin zu schauen, Ehemann.«
Er fuhr sich durchs Haar. »Nein. Ich war beim letzten Verlag, der mir noch eingefallen ist. Sie wollen dein Buch nicht herausbringen. Es tut mir leid.«
Svantje senkte den Blick. Sie hatte so viel Hoffnung in das Buch gesetzt. Sollte denn ihre ganze Arbeit umsonst gewesen sein? Tränen brannten in ihren Augen. Sie war wütend und enttäuscht. Clemens fing an zu quengeln. Er wollte mehr Brei und verstand nicht, warum seine Mutter ihm nicht mehr ihre volle Aufmerksamkeit schenkte.
»Svantje.« Friedrich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es war ein Traum, ein schöner Traum, aber du musst einsehen, dass es einer bleiben wird.«
»Ein Traum?«, fuhr sie ihn an.
»Es tut mir leid.«
»Ich will dein Mitleid nicht!« Sie wischte seine Hand von ihrer Schulter wie ein lästiges Insekt.
Er trat von ihr zurück. Sein Blick war düster, als sei sie undankbar. Und vielleicht war sie das ja auch. Andere Frauen, vermutlich die meisten, wären damit zufrieden gewesen, einen Mann wie Friedrich zu heiraten und gesunde Kinder auf die Welt zu bringen. Aber nicht so Svantje. Geistesabwesend fütterte sie Clemens weiter, bis er den Brei wieder ausspuckte und dabei zu quengeln begann. »Magda!«, rief sie.
Die Haushälterin, die sich zugleich auch regelmäßig um die Kinder kümmerte, kam nur wenige Augenblicke später und holte den kleinen Jungen ab, um ihn ins Bett zu bringen. Svantje bestand darauf, viel Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, statt wie andere Frauen ihrer Position gleich mehrere Ammen und Kinderfrauen zu beschäftigen. Doch nun war sie ausnahmsweise einmal froh, die Verantwortung abgeben zu können, denn sie war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Clemens musste dem nicht ausgesetzt sein.
Sobald Magda das Zimmer verlassen hatte, konnte sie ihre Tränen nicht länger zurückhalten. »Nicht einmal Doktor Schawachts Vorwort und seine Empfehlung konnten sie überzeugen?« Sie wischte sich mit den Händen über die Wangen.
Friedrich lief im Raum auf und ab. Seine Füße trommelten einen unharmonischen Rhythmus auf das schimmernde Parkett. In einer hilflosen Geste hob er die Hände und ließ sie wieder sinken. »Du warst ja nicht da, du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir alles anhören musste. Die freundlichsten Absagen waren die, dass niemand das Buch einer Frau kaufen würde.«
»Ich möchte schreien vor lauter Ungerechtigkeit, Friedrich! Ich möchte fluchen wie ein Seemann! Es gibt doch mittlerweile auch praktizierende Ärztinnen.«
»Eine oder zwei vielleicht«, murmelte er entmutigt.
»Sie behandeln uns wie dumme Tiere.«
Er fasste sie an den Schultern und zog sie auf die Beine. Dann schloss er sie in die Arme. »Wenn sie nur wüssten, was sie verpassen.«
Dieses Mal ließ sie die Nähe zu. Svantje legte den Kopf an seine Brust und lauschte seinem Herzschlag. Ihr Zorn verkroch sich in einen Winkel tief in ihrem Inneren. Friedrich hatte ihn nicht verdient. »Danke, für alles, was du getan hast. Deine Hilfe bedeutet mir viel.«
»Aber?«
»Aber ich würde es am liebsten selbst schaffen. Selbst mit diesen Sturköpfen reden.«
»Die stellen sich taub, und du bist eine Frau. Das Einzige, was sie verstehen, ist die Sprache des Geldes. Für sie ist ein medizinisches Buch von dir ein nicht zu kalkulierendes Risiko. Wenn du sie wirklich überzeugen willst, musst du ihnen einen Beweis liefern.«
»Und wie?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin Fernhändler und ratlos. Dir wird etwas einfallen. Meiner gewitzten Frau schlägt man nicht so einfach die Tür vor der Nase zu. Sie werden es bereuen.«
»O ja«, sagte Svantje, doch so ganz überzeugt war sie noch nicht.
Zwei Wochen später war es so weit. Der Einfall war Svantje bei einem Spaziergang mit den Kindern gekommen, als sie an einer Litfaßsäule Plakate für einen Vortrag gesehen hatte. Nun würde sie das erste Mal vor einer Gruppe Frauen sprechen. Es waren allesamt wissenschaftlich interessierte Damen, die ihre Freundin Hilde durch die Vorlesungen kennengelernt hatte, die sie nach wie vor mit großer Begeisterung als Gasthörerin besuchte.
Sie sollten ein Urteil abgeben, ob Svantjes Vorhaben eine Zukunft hatte, und eine weibliche Sicht beisteuern. Durch die Kenntnisse, die sie sich während der Vorträge angeeignet hatten, waren sie sicherlich kritischer als die meisten Frauen, die Svantje mit ihrem Buch erreichen wollte.
Sie trafen sich im Stadthaus der Degens, da es dort mehr als genug Platz gab und Svantje sich in einer fremden Umgebung beweisen wollte.
Ihre Freundin Hilde hatte den Salon mit Stühlen ausstatten lassen. Von ihrem Mann Walter stammte eine Tafel, auf der er sonst in seinem Büro Rechnungen und Pläne erstellte. Ob er wohl wusste, dass Hilde sie ausgeborgt hatte, während er auf der Arbeit war?
Svantje war fürchterlich aufgeregt. Sie hatte ihre Zuhörerinnen vorher nicht begrüßt, sondern war in dem Wirtschaftszimmer geblieben, das an den Salon anschloss.
Erneut ging sie ihre Notizen durch, während durch die Tür leise Gesprächsfetzen zu ihr drangen. Zwei Frauen lachten, und Svantje fühlte sofort einen Stich, dabei war es sicher nicht gegen sie gerichtet.
Ein Blick auf ihre kleine Taschenuhr. Es war zehn. Zeit, ihren Vortrag zu beginnen. Ihre Knie waren weich wie Pudding. Sie musste wieder an eine Begebenheit denken, die mittlerweile Jahre zurücklag. Während der Choleraepidemie war Doktor Robert Koch nach Hamburg gekommen, und ausgerechnet Svantje hatte der Koryphäe und seiner Entourage aus Ärzten die Lebenssituation der Arbeiter in den Gängevierteln zeigen sollen. Sie hatte es gemeistert, sogar persönlichen Dank erhalten. Dann sollte es ihr doch leichtfallen, vor einer Gruppe wohlwollender Laien zu sprechen!
Svantje atmete tief durch, dann betrat sie den Salon. Die acht Frauen unterbrachen ihre Gespräche und applaudierten gut gelaunt. Röte schoss Svantje in die Wangen, dann war die Nervosität plötzlich fort. »Meine lieben Damen, ich freue mich, dass Sie hergefunden haben und mich mit Ihrer Aufmerksamkeit beehren. In meinem Vortrag soll es über häufige medizinische Probleme, die Frau betreffend, gehen. Im Anschluss stehe ich Ihnen für Fragen zur Verfügung. Falls Sie etwas nicht verstehen, geben Sie mir bitte sofort Bescheid.«
»Bravo, Svantje«, rief Hilde und prostete ihr mit einer Porzellantasse zu.
Hilde referierte über einfache Fragen. Sie begann mit allerlei Empfehlungen zur Gesunderhaltung des Leibes wie Ertüchtigungsübungen und gesunde Speisen. Dann wandte sie sich ernsteren Dingen zu. Leiden, die durch Gebären entstanden, Kinderkrankheiten, die Behandlung einfacher Wunden und die Pflege von kranken Familienangehörigen. Besonders auf ihr heutiges Publikum zugeschnitten, warnte sie vor den Folgen zu eng geschnürter Mieder und gab als leichte Note zum Abschluss noch einige Schönheitsempfehlungen für Haut und Haar.
Der Applaus dauerte mehrere Minuten, bis es Svantje unangenehm wurde. »Vielen Dank, gibt es Fragen?«
Fast eine Stunde lang beantwortete sie alles, was Hildes Freundinnen wissen wollten. Sie war in Hochstimmung: Endlich konnte sie wieder ihrer Bestimmung nachgehen!
Als es Nachmittag wurde, hatten sie gemeinsam Pläne geschmiedet. Svantje würde in den kommenden Wochen noch weitere Auftritte folgen lassen.
Mittlerweile war ihr auch klar, dass Hilde ihr einen gewaltigen Gefallen getan hatte. Denn diese Frauen waren nicht irgendwelche Freundinnen aus ihrem Studienkreis, sondern mit Bedacht ausgewählt. Eine jede von ihnen war in einem oder mehreren Vereinen und Zirkeln aktiv, in Literaturclubs, Fördervereinen für Kunst oder Frauenrechtsgruppen.
Die Frauenrechtlerin Julia wollte Svantje sogar in die Spinnerei ihrer Familie einladen, damit sie sich speziell den Problemen der einfachen Arbeiterinnen widmete. Schon jetzt wirbelten in ihrem Kopf Pläne durcheinander, wie sie die Themen den Anforderungen anpassen konnte.
»Svantje? Liebe Freundin, hörst du mir überhaupt zu?« Hilde berührte sie am Arm, und Svantje zuckte überrascht zusammen. »Ja, ja natürlich.«
»Unsinn, kein Wort hast du mitbekommen, ich kenne doch diesen verträumten Blick.«
»Entschuldige, was hast du gesagt?« Die anderen waren mittlerweile aufgebrochen, und nun saßen sie zu zweit auf einem Sofa und schmiedeten Pläne.
»Ich sagte, du solltest Geld verlangen.«
Svantje wollte protestieren, doch Hilde gebot ihr mit einer Handbewegung Einhalt. »Nicht von allen. Nur von denen, die es sich leisten können. Und mit dem, was du verdienst, kaufst du, was du für nötig hältst, um die Mittellosen versorgen zu können. Ich würde etwas dazutun, Walter hat mehr als genug Geld, und wenn ich von allem, was er mir zur Verfügung stellt, Kleidung kaufen würde, bräuchte ich ein drittes Ankleidezimmer. Dass er es auf den krumm geschufteten Rücken der Werftarbeiter verdient, ist schlimm genug. Ich möchte etwas zurückgeben. Tun wir uns zusammen.«
»Deine Idee ist fabelhaft. Seit wann bist du unter die guten Samariterinnen gegangen, liebe Freundin?«
»Seitdem du und Raik mir die Augen geöffnet habt.« Bei der Erwähnung ihres heimlichen Geliebten berührte sie ihren schwellenden Leib und lächelte versonnen.
»Raik wieder«, murmelte Svantje wissend und umarmte ihre Freundin. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie akzeptieren konnte, dass ihre Freundin eine Ehebrecherin war und anscheinend vorhatte, es auch zu bleiben. Andererseits hätte Hilde auch jedes Recht vor Gott gehabt, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen, und tat es nicht. Offenbar hatten die beiden einen Weg zu leben gefunden, mit dem sie sich arrangieren konnten: Walter bekam eine wunderbare Frau und Familie, Hilde ihre Freiheit.
Flensburg
Juli 1900
Ich habe Mutter von Dir erzählt, sie will Dich sehen, hatte in dem Brief gestanden. Richard war hin- und hergerissen. Eigentlich hatte er mit dem Kapitel abgeschlossen und sich damit abgefunden, dass seine Familie nur noch aus der Schwester bestand.
Doch nun wollte Mutter ihn also sehen.
Er saß im Zug, auf seinem Schoß eine aufgeschlagene Zeitung. Doch er las nicht. Sein Blick war auf den Abdruck einer Fotografie gerichtet. Sie zeigte neue Wohnquartiere, die als Ersatz für die Gängeviertel angelegt worden waren. Doch die Stadt kam mit dem Bauen kaum hinterher. Allein im Hafen und auf den Werften schufteten täglich fünfundzwanzigtausend Menschen, und sie alle hatten Familien, die Obdach brauchten. Das Wachstum der Industrie lockte täglich mehr Menschen an. Nun überlegte der Senat, neue Gebiete für den Wohnungsbau zu erschließen.
Richard hatte den Artikel wohl zum dritten Mal begonnen und dann immer wieder den Faden verloren. Das bevorstehende Wiedersehen mit der Mutter hatte alte Wunden aufgerissen.
Er fragte sich, wie es wohl seinem kleinen Bruder ging, der nun bald elf Jahre alt sein würde. Sie waren einander mehr als die Hälfte seines jungen Lebens fremd gewesen, und Florian war schon als kleiner Junge mit Lügen über das Verschwinden seines älteren Bruders gefüttert worden.
Eine Stunde später erreichte Richard Hamburg in einem Sommergewitter. Hilde hatte arrangiert, dass er bei den Falkenbergs unterkam, auch wenn er ein Hotel vorgezogen hätte. Die Freunde wussten nichts von seiner Verbindung zu Wassili Alfjorow und dass er eigentlich alles daransetzte, ihm nicht zu begegnen.
Vom kurzen Weg durchnässt, erreichte er das Anwesen. Weder Svantje noch Friedrich waren zu Hause, doch die Haushälterin war auf den Besuch vorbereitet. Sie brachte ihn ins Gästezimmer, wo bereits ein kleiner Imbiss auf ihn wartete, und ließ ihm Badewasser ein.
Am Abend war ein gemeinsamer Opernbesuch geplant, bei dem er wie durch Zufall auch Hilde und Mutter begegnen sollte. Vater ging niemals in die Oper, und so war Richard dort vor einer Begegnung sicher. In den Augen des Seniors waren das Gekreisch und der Radau unnützer Zeitvertreib.
Am heutigen Abend stand eine außergewöhnliche Veranstaltung an. Im Schauspielhaus an der Dammtorstraße dirigierte Gustav Mahler persönlich Puccinis La Bohème.
Richard trug seine Ausgehuniform, als sie schließlich aufbrachen. Er hatte bereits viel von Svantjes ehrgeizigen Plänen erfahren, während sein Jugendfreund Friedrich sich ruhig zurückhielt und seine Frau mit leisem Stolz beobachtete. Mit einer Mietsdroschke fuhren sie nun zu einem Restaurant, in dem sie vor dem Opernbesuch essen wollten.
Der Kellner begrüßte sie mit einem Bückling. Während Friedrich seiner Frau aus dem dünnen, regenbenetzten Sommermantel half, ließ Richard seinen Blick schweifen. Das Lokal war gut gefüllt, fast alle Tische waren besetzt. Die Düfte, die durch den Raum schwebten, machten Lust auf vorzügliches Essen, und er wusste schon jetzt, dass er etwas mit Trüffeln wählen würde. Kristallgläser wurden aneinandergestoßen. Er wandte den Blick – und glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
»Das andere Paar ist bereits eingetroffen.« Der Kellner machte eine einladende Geste und übernahm die Führung. Hastig, mit einem flauen Gefühl im Magen, wandte sich Richard Friedrich zu. »Ist das etwa Wassili Alfjorow?«
»Mit seiner reizenden Ehefrau«, erklärte Friedrich.
»Ehefrau?«, keuchte Richard.
»Ja, es kam für uns alle etwas überraschend, aber Irina ist wirklich eine zauberhafte Person.«
»Weiß er, dass ich hier bin?«
»Nein. Nun schau doch nicht so. Ich dachte, es sei eine schöne Freude, wenn wir alle gemeinsam etwas unternehmen, wie in alten Tagen.«
Richard fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Doch weder Flucht noch Angriff waren eine Option. Es blieb nur ein kurzer Moment, Wassili unbemerkt zu betrachten. Er wirkte unverändert. Vielleicht waren die Fältchen um seine Augen etwas tiefer geworden. Er lachte viel und gern. Die Frau an seiner Seite hatte braunes, lockiges Haar, ihr Gesicht war trotz der prominenten Wangenknochen rundlich. Ein herzförmiger Mund und dunkle Augen mit ungewöhnlich langen Wimpern verliehen ihr eine puppenhafte Weiblichkeit. Sie war klein und zart, und ihr Anblick schmerzte Richard wie ein Dolchstich.
Beide sahen zugleich auf. Wassili wurde blass und zog wie ertappt die Hand aus der seiner Frau. Sichtlich darum bemüht, die Fassung zu wahren, erhob er sich mit einem falschen Lächeln, das wohl jeder der Anwesenden als solches erkannte. Friedrich stellte sie einander vor. Die Ehefrau Irina stammte wie Wassili aus dem Zarenreich.
»Wie habt ihr euch kennengelernt?«, fragte Richard in gezwungen neutralem Ton, ohne Wassili anzusehen, und setzte sich dabei hin.
»Über ihren Vater. Es gibt einige russische Familien unter Hamburgs Geschäftsleuten. Wir treffen uns zweimal im Jahr, um uns auszutauschen.« Irina lächelte Wassili unentwegt an, während er sprach, als sei er das Licht ihres Lebens. Er hingegen wirkte unberührt, als spreche er über einen Geschäftsabschluss, dem er nicht viel Bedeutung beimaß.
Die Ehe war eine Farce. Richard atmete innerlich auf, Mitleid für Irina schlich sich hinzu. Sie ahnte nicht, dass sie eine Zweckehe eingegangen war.
Der Kellner kehrte zurück. Sie bestellten Wein und Wasser. Menükarten wurden gereicht. Während Richard die Gerichte überflog, kehrte er in Gedanken zu den beiden Dragonern zurück, die er nachts im Pferdestall ertappt hatte. Zu wissen, mit eigenen Augen zu sehen, dass er mit seinen Trieben nicht allein war, hatte ihn ein Stück weit mit sich und seinem Schicksal versöhnt. Vielleicht war er nicht mehr ganz so weit davon entfernt, es einfach anzunehmen, wie zuvor. Wassilis Hochzeit erschien ihm da ein klein wenig wie Verrat, als habe der andere sich genau im falschen Augenblick davongestohlen.
Aber nein, Richard würde nie mit sich Frieden schließen und sich regelmäßig mit einem Mann treffen können. Und seine aufwallende Eifersucht war nichts weiter als peinlich, Wassilis Hochzeit hingegen vernünftig. Es war sicher angenehmer, als für immer Junggeselle zu bleiben und zusehen zu müssen, wie Freunde und Bekannte Familien gründeten. Vor allem aber war es weniger auffällig.
Das Essen wurde gebracht, Kalbsbäckchen mit Trüffelsoße, Kartoffeln und Preiselbeeren, und sie plauderten über Nichtigkeiten. Friedrich und Wassili ergingen sich in Anekdoten über gemeinsame Geschäftsfreunde. Richard lachte hin und wieder über einen Scherz, doch er konnte sich auf keines der Gespräche konzentrieren. Svantje befragte Irina zu ihren Familienplänen, und die junge Frau antwortete zögerlich, nachdem ihr fragender Blick an Wassili keine Erwiderung fand. »Mein Mann möchte gern noch etwas warten, doch ich hoffe, Gottes Gnade segnet mich bald mit einem Kind.«
Gottes Gnade oder Wassilis?, dachte Richard bissig. Svantje lächelte mitfühlend. »Genießen Sie Ihre Zeit, solange Sie noch zu zweit sind. Die Kinder kommen früh genug. Ich liebe meine beiden sehr, aber ich muss gestehen, dass ich froh bin, nicht mehr zu haben. Clemens’ Geburt war schwierig. Ich weiß nicht, wie ich eine weitere durchstehen sollte. Doch der Arzt sagt ohnehin, dass ich keine Kinder mehr bekommen kann, und um ehrlich zu sein, erleichtert mich das. Wenn es nach Friedrich ginge, könnte ich wohl zehn haben, und es wäre ihm noch nicht genug.«
Irina lachte leise und gekünstelt und sah wieder zu Wassili. In ihrem Blick lag eine Mischung aus unerfüllter Sehnsucht und Liebe.
Richard kam ein schlimmer Verdacht. War Wassilis Hochzeit wirklich nur eine Scheinehe? Wenn Irina irgendwann die Geduld mit ihm verlöre, könnte sie sich scheiden lassen, und da sie einen Grund angeben musste, wäre der Skandal vorprogrammiert.
Svantje forderte Richard auf, von sich zu erzählen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten fiel es ihm immer leichter. Als sie beim Dessert angelangt waren, fühlte es sich endlich wieder an wie früher. Als hätte es die Jahre zwischen ihrem letzten Treffen und dem Wiedersehen nicht gegeben.
Im Anschluss fuhren sie zusammen zur Oper. Auf den Stufen ergriff Svantje seinen Arm, sodass Friedrich und er sie gemeinsam hinaufgeleiteten. Die Empfangshalle glomm festlich im Licht Dutzender Kronleuchter. Die Oper hatte Platz für siebenhundert Menschen, und ein jeder Platz schien gebucht.
Es war noch eine halbe Stunde bis zum Beginn. Damen in aufwendigen Kleidern von Seide, Brokat und feinstem Kaschmir flanierten mit ihren Galanen umher. Champagner wurde gereicht, dazu kleine, kunstvoll dekorierte Häppchen. »Auf ein Wort, alter Freund«, sagte Wassili plötzlich. Friedrich lächelte verständnisvoll. »Ich gehe mit den Damen, sie möchten das Fräulein Hilde suchen.«
Binnen Augenblicken waren sie fort und Richard allein mit Wassili. Nein, nicht allein, sondern in einem Meer von Hunderten. Und doch schrumpfte die Welt auf den Quadratmeter zusammen, auf dem sie beide standen.
Wassili musterte ihn mit intelligentem Blick, als würde er Richards Stimmung genau taxieren, bevor er das Gespräch begann. »Ich habe getan, was du von mir verlangt hast, Richard, und doch sehe ich dich unglücklich mit mir«, sagte er leise und kramte dabei seine Taschenuhr heraus, als sei er nach der Uhrzeit gefragt worden.
Richard antwortete ebenso leise: »Ich habe nicht gesagt, dass du heiraten sollst, Wassili. Die arme Frau liebt dich abgöttisch, und du?«
»Ich behandle sie mit Respekt. Von dir muss ich mir das nicht anhören. Ich soll mein Leben weiterleben, als sei nie etwas geschehen, und genau das mache ich.«
»Irina möchte Kinder«, sagte Richard anklagend.
»Und ich mühe mich nach Kräften, ihr welche zu machen«, erwiderte Wassili bissig und zerstreute damit Richards Verdacht. Wassili ließ die Uhr zuschnappen und schob sie zurück in seine Westentasche. Sehr, sehr leise setzte er hinzu: »Wenn es nach mir geht, hat sich zwischen uns nichts geändert.«
In Richards Innerem zog sich etwas zusammen, und er vergaß einen Moment lang zu atmen.
»Herr Harkenfeld? Sind Sie das wirklich?«, rief plötzlich jemand mit lautem, rumpelndem Bass, und Richard bereute sofort, sich auf diesen Opernbesuch eingelassen zu haben. Dass sein Vater Bühnenkunst verabscheute, bedeutete nicht, dass seine Geschäftspartner und Mitarbeiter diese Ansicht teilten.
Er zwang sich zu einem Lächeln und fuhr herum. Ein korpulenter, aber kleiner, vollbärtiger Mann schüttelte ihm mit einer Heftigkeit die Hand, als wolle er ihm den Arm ausreißen.
»Herr Wingert, welch Überraschung!«, begrüßte er einen von Vaters Geldgebern, dem er früher regelmäßig in Aufsichtsratssitzungen begegnet war. Von den dort anwesenden Männern hatte er ihn als einen der sympathischeren in Erinnerung. Wingert war ein ungewöhnlich bodenständiger Geschäftsmann, der durch den Holzhandel zu Wohlstand gekommen war.
»Sie sehen mich ebenso überrascht.« Er schüttelte auch Wassili die Hand. »Und wenn das nicht der Sekretär der Falkenbergs ist.«
»Der Junior ist auch hier«, sagte Wassili und sah sich suchend um.
»Nun sagen Sie, wie geht es Ihnen?«, polterte Wingert und schlug Richard kumpelhaft auf die Schulter. »Man hört ja nichts mehr. Ihr Vater tut bald, als hätte es Sie nie gegeben.«
Richard fühlte sich innerlich schrumpfen. Fieberhaft legte er sich die nächsten Worte zurecht. »Mein Vater hat meine Entscheidung, im Militär Karriere zu machen, nicht gut aufgenommen.«
Erst jetzt schien Wingert die Ausgehuniform wahrzunehmen. Er zog die Brauen zusammen, als versuche er vergeblich, aus Tressen und Spiegeln den Rang abzulesen.
»Rittmeister des 13. Dragonerregiments, in Flensburg stationiert«, half Richard seinem Gegenüber aus.
In diesem Moment erklang ein Gong.
»Hat mich gefreut, Herr Harkenfeld. Falls wir uns nicht mehr sehen, wünsche ich Ihnen alles Gute. Meine Frau wird sich bestimmt schon fragen, wo ich verloren gegangen bin.«
Richard erwiderte die Wünsche knapp. »Eine Katastrophe«, sagte er leise zu Wassili. »Mein Vater darf nicht wissen, dass ich in Hamburg bin. Ich dachte, nach acht Jahren und mit der Uniform wäre ich zumindest halbwegs sicher.«
Wassili warf ihm einen beschwichtigenden Blick zu. »Es ist ja nicht so, als würdest du polizeilich gesucht, Richard. Du hast es nur mit einem wütenden Vater zu tun. Einem einzelnen Narren. Du hast nichts zu verlieren, er hingegen … was kann er schon tun?«
Richard zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich hast du recht.«
»Viel Glück!«
Es war von vornherein abgemacht, dass sich ihre Wege in der Oper trennen würden. Richard sah auf seine Karte, dann machte er sich auf die Suche nach der Loge, in der Hilde und die Mutter auf ihn warteten.
Hilde strich ihr Kleid glatt. Der steife, glänzend dunkelblaue Stoff schien nicht zum Sitzen gedacht zu sein und erst recht nicht für einen Schwangerschaftsbauch. Der Rock bauschte sich vor ihren Schienbeinen absurd in die Höhe.
»Nun lass doch, Kind«, raunte ihre Mutter. Sie war noch viel nervöser als Hilde, doch wo ihre Tochter zu unruhigen Gesten neigte, zog sie sich mehr und mehr in sich zurück. Hilde hatte sich oft gefragt, ob es am Vater lag. Laut und herrisch und ein genauer Beobachter, reagierte er schnell auf die Stimmung anderer. Mutter hatte gelernt zu beschwichtigen. Stets ging sie den Weg des geringsten Widerstands. Dass sie sich heute hierhergetraut hatte, um gegen die deutliche Order ihres Mannes zu verstoßen, war wohl das Mutigste, was sie je gewagt hatte.
Warum ließ Richard sie jetzt auch noch warten? Verstand er denn gar nichts?
»Bist du sicher, dass er kommen wird?«, fragte Mutter nun. Im Opernsaal wurden bereits die Lichter gelöscht. Aus dem Orchestergraben klangen schiefe Töne, während die Musiker ihre Instrumente stimmten.
»Er hat es versprochen, Mutter. Ich habe auch schon die Falkenbergs getroffen, mit ihnen ist er hergekommen. Vielleicht wurde er aufgehalten.« Sie lächelte aufmunternd.
Und tatsächlich wurde Augenblicke später der schwere Samtvorhang zur Seite gezogen. Richard kam gebückt herein und ließ den Stoff hinter sich zurückfallen.
Er sah gut aus in seiner dunklen Uniform, wirkte, als sei er jetzt erst vollends hineingewachsen. Das Haar trug er etwas länger und zur Seite gekämmt, dazu kurze Koteletten. Er schien gehetzt, als fühle er sich verfolgt.
»Guten Abend, Schwesterherz«, sagte er und küsste sie auf die Wange. Hilde drehte ihn am Arm herum, sodass er direkt vor Mutter stand. Die erhob sich zögernd und blass.
Sie musterte ihren Sohn vom Gesicht an abwärts. Tränen schimmerten in ihren Augen, und auf Hilde wirkte sie plötzlich älter und tief verletzt.
»Mutter«, sagte Richard leise. Er zögerte, näher zu kommen, streckte eine Hand aus. Es war ein Angebot. Unendlich lang dehnten sich die Augenblicke, in der seine Geste unerwidert blieb. Hilde hielt es nicht mehr aus. Die Oper würde beginnen, bevor die beiden sich versöhnt hatten. Sie trat neben ihre Mutter, legte ihr einen Arm um die Schulter und schob sie näher.
Die Ältere schien wie aus einer Starre zu erwachen. »Mein Junge«, sagte sie und legte eine Hand an seine Wange. »Lass dich ansehen. Ein fescher Offizier bist du geworden. Geht es dir gut?«
»Ja, Mutter, Sie brauchen sich nicht um mich zu sorgen.«
Nun erklang der Gong dreimal. Richard setzte sich zwischen Hilde und Mutter, die fast die gesamte Vorstellung über die Hand ihres lang verschollenen Sohnes hielt.