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10. August 1900
Sie kehrten einen Tag eher als geplant zurück. Am Bahnhof trennten sich Svantje und Hilde mit einer langen Umarmung. Die Vortragsreise war ein voller Erfolg gewesen.
Mit dem schlafenden Clemens auf dem Arm saß Svantje nun in einem kleinen Einspänner. Das für die Reise angestellte Kindermädchen hatte sie mit dem Gepäck nach Hause geschickt. Sie waren sehr früh aufgebrochen und hatten den ersten Zug genommen. Nun, um kurz vor zehn, konnte Svantje bereits das Schild mit der Aufschrift »Falkenberg & Sohn« an dem vertrauten Gebäude sehen.
»Halten Sie dort, bitte!«, rief sie dem Kutscher zu, und er brachte das Pferd zum Stehen. »Vielen Dank, einen schönen Tag noch.« Svantje bezahlte und wartete, bis er abgefahren war, dann drückte sie mit der Schulter die Flügeltür auf.
Leise ging sie die wenigen Stufen zum Eingang des Büros hinauf. Es war eine hölzerne, weiß gestrichene Flügeltür, flankiert von zwei indischen Statuen, die schlanke Tänzerinnen darstellten, welche mit kunstvoller Pose je eine Schale hielten. Fast jede Woche änderte sich deren Inhalt. Mal war es Kaffee, dann wieder duftete es daraus nach Kakaobohnen, Zimtstangen oder Sandelholz. Wassili war auf diese Idee gekommen, und Svantje fand es überaus entzückend. Kurz fuhr sie mit den Fingern durch Nelkensterne und roch daran, dann drückte sie die Klinke hinunter. Ohne ein Geräusch zu machen, trat sie ein. Die Sekretärin bemerkte sie und lächelte. Svantje schlich auf Zehenspitzen zu ihr. »Ist mein Strohwitwer da?«, flüsterte sie.
»Vor ein paar Minuten von einem geschäftlichen Frühstück zurück. Soll ich den Kleinen nehmen?«
»Ja, bitte.« Ganz vorsichtig ließ sie Clemens in den Arm der
Sekretärin gleiten. Er wurde kurz unruhig, und Svantje legte ihre Hand mit sanftem Druck über Stirn und Wange. Binnen Augenblicken war er wieder eingeschlafen.
»Sie können zaubern«, flüsterte die Sekretärin und lächelte.
»Das musste ich auf der Reise lernen. Mein Kindermädchen hat mir den Trick gezeigt«, gab Svantje zurück und lief auf leisen Sohlen an zwei verwaisten Schreibtischen vorbei. Friedrichs Vater zog sich nach und nach aus dem Geschäft zurück und begann seinen halben Arbeitstag selten vor Mittag, doch dass Wassili nicht an seinem Platz war, verwunderte sie. Der Russe war ein Inbegriff von Arbeitseifer, daran hatte auch seine junge Ehe nichts ändern können.
Svantje klopfte an die Bürotür. Die Vorfreude ließ ihr Herz schneller schlagen. Friedrich so nah bei sich zu wissen hatte noch immer dieselbe Wirkung auf sie wie vor all den Jahren. »Ja?«, rief er ein wenig unwirsch.
Svantje trat ein. »Ja, willst du denn deine Frau nicht begrüßen?«
Er sah sie ungläubig an, als hätte sich eine Fata Morgana hereingeschlichen. »Du kommst erst morgen an.«
»Ich habe dich so vermisst, ich konnte es nicht länger aushalten.« Sie warf sich in seine Arme, und er zog sie ganz fest an sich. Wie sehr hatte es ihr gefehlt, den Duft seiner Haut einzuatmen, an seiner Brust geborgen seinem Herzschlag zu lauschen.
»Du hast mir auch gefehlt, Weib«, erwiderte er lachend. »Jetzt lasse ich dich nie wieder fort.«
Svantje erwiderte seine Umarmung mit gleicher Heftigkeit. Diese eine Reise reichte ihr erst einmal für lange Zeit. »Wie geht es meiner kleinen Karoline?«
Friedrich löste sich von ihr, um sie anzusehen. »Die Wahrheit?«
Svantje schluckte und nickte nur.
»In den ersten Tagen hat sie sehr viel geweint. Sie vermisst ihre Mutter. Ich musste abends oft lange bei ihr sitzen, bis sie eingeschlafen war.«
Svantje kämpfte erfolgreich gegen die Tränen an. »Jetzt bin ich ja wieder zurück. Wenigstens hat sich die Reise gelohnt.«
Friedrich hob fragend die linke Braue, genau wissend, welche Wirkung diese kleine Eigenart auf Svantje hatte. Mit diesem Gesicht konnte er ihr jedes Geheimnis entlocken. Doch die Aufforderung
brauchte sie gar nicht. Sie war so glücklich, dass sie es am liebsten herausgeschrien hätte.
Sie ergriff Friedrichs Hände. »Vorgestern in Berlin war ein besonderer Gast im Publikum, er …«
Der Gastraum des kleinen Lokals war voll besetzt gewesen. Sechzig Frauen und vielleicht zehn Männer saßen dicht an dicht und lauschten Svantjes Vortrag aufmerksam. Auch dahinter drängten sich noch Zuhörer. Zum allerersten Mal war eine Veranstaltung nicht nur voll besetzt, sondern platzte buchstäblich aus allen Nähten. Angeblich hatten die Veranstalter sogar einige Besucher wieder wegschicken müssen.
An der Decke strahlten elektrifizierte Kronleuchter, warfen glitzernden Lichtschein auf aufmerksame Gesichter.
Svantje war allein auf der Bühne und fühlte sich mittlerweile recht wohl dabei, während sie verschiedenste Themen ansprach und dabei zur Erläuterung Schautafeln benutzte.
Hin und wieder lauschte sie einen Augenblick lang. Clemens war mit seiner Amme direkt hinter der Bühne. Meist schlief er um diese Zeit. Sie stillte ihn immer direkt vor dem Auftritt und erkaufte sich so diesen Frieden.
Zum Schluss wandte sie sich wie immer der Ersten Hilfe zu. Eine Freiwillige war auch in diesem Publikum schnell gefunden. Es war eine Frau ihres Alters, mit dunkelbraunen Locken, einem zarten Gesicht und intelligentem Blick aus hellbraunen Augen. Svantje meinte, die Dame schon einmal irgendwo gesehen zu haben, spulte aber dennoch ihr Programm ab, ohne weiter nachzufragen. Die Dame ließ sich einen provisorischen Verband anlegen, erst für einen gebrochenen Unterarm, dann einen Wickel, um den gesamten Arm angewinkelt ruhig zu stellen.
Applaus brandete auf.
Svantje verbeugte sich mit geröteten Wangen. Das Herz galoppierte ihr nur so in der Brust. An all die Aufmerksamkeit würde sie sich wohl niemals gewöhnen. Einzelne Frauen riefen Bravo,
und ein Mann warf ihr eine Kusshand zu. »Du meine Güte«, murmelte Svantje in sich hinein. Sie war erleichtert und zugleich etwas traurig, dass dies ihr letzter Auftritt war.
Dann sagte sie an die Dame gewandt: »Einen Augenblick, ich werde Sie befreien, vielen Dank für Ihre Hilfe.« Sie begann die Armschlinge ihrer Freiwilligen zu entknoten.
»Ganz großartig, Frau Falkenberg«, lobte diese. »Ich war vor einer Woche schon einmal bei einem Ihrer Vorträge und möchte mich noch bedanken, dass Sie sich so viel Zeit genommen haben, um all meine Fragen zu beantworten.«
»Aber gern doch.« Svantje wickelte routiniert die Bandage auf, während vor der Bühne Stühle herumgerückt wurden und die ersten Zuschauer den Salon verließen. Daher also kannte sie die junge Frau!
»Hätten Sie vielleicht einen Moment Zeit? Ich würde Ihnen gern meinen Mann vorstellen.«
Svantje sah kurz zum Bühnenabgang, doch wenn das Kindermädchen dort nicht stand und ihr ein Zeichen gab, war alles in Ordnung. »Mein Sohn schläft hinten«, sagte sie zur Erklärung, »aber einen Moment habe ich.«
Sie gingen gemeinsam die Stufen hinab. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Isabella Jäger. Und dies ist mein Mann Gustav.« Die Frau blieb vor einem fülligen Mittvierziger stehen, dessen blondes Haar eine Halbglatze kränzte. Er trug eine Brille, schob sie aber nun auf die Nasenspitze, um Svantje darüber aus wasserblauen Augen zu mustern.
»Das ist also die Dame, von der du so viel erzählt hast, Isabella. Sehr angenehm. Ich habe offen gestanden erst nicht so viel darauf gegeben, doch sie hat mir so lange in den Ohren gelegen …«
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht gelangweilt«, sagte Svantje schnell und fragte sich unterdessen, was sie hier denn eigentlich sollte.
»Ganz im Gegenteil, meine Liebe, ich habe mich bestens unterhalten gefühlt.«
Seine Frau hatte sich bei ihm untergehakt, lächelte stolz und drückte auffordernd seinen Arm. »Mein Mann ist Verleger«, sagte sie.
»Verleger?«, Svantjes Stimme wurde dünn, und es fühlte sich an, als sei der Boden unter ihren Füßen plötzlich ein Stückchen zur Seite gerückt. Ihr schwindelte.
»Na, na, Sie werden ja ganz blass.«
»Es ist nichts«, sagte Svantje schnell und starrte ihn an wie eine Maus die Katze.
»Ihr Publikum scheint Ihnen sehr zugetan, sie haben eine Gabe, komplizierte Sachverhalte einfach und verständlich zu erklären. Isabella sagte, Sie hätten beiläufig erwähnt, an einem Ratgeber zu arbeiten.«
»Ja, das stimmt.«
»Und haben Sie schon einen Verleger für Ihr Werk?«
»Nein.« Svantje schalt sich eine Idiotin. Was war nur mit ihr los? Da präsentierte sich hier die Chance ihres Lebens, und sie verhielt sich wie ein schüchternes, maulfaules Mädchen. Sie räusperte sich. »Es ist bereits fertig. Das Buch, meine ich.«
»Umso besser. Sie können es mir gern an diese Adresse senden, wenn Sie möchten.« Er zückte ein Silberetui und reichte ihr eine Visitenkarte. »Wenn es Ihnen gelingt, einen Arzt aufzutreiben, der ihre Sachkunde bestätigt, ist es so gut wie verlegt.« Er streckte ihr die Hand hin.
Und Svantje hatte mit fiebriger Aufregung eingeschlagen.
Friedrich küsste sie überschwänglich auf die Wange und rief seiner Sekretärin zu, Champagner aus dem Keller zu holen.
»Wann soll es erscheinen?«
»Er hat ja das Manuskript noch gar nicht gelesen«, protestierte sie. Noch immer war der Zweifel groß, ob sich ihr Traum tatsächlich erfüllen würde. »Er sagte, er verstehe nicht, warum es ein Hindernis sein sollte, dass ich eine Frau bin. Die Hälfte seiner Kundschaft bestünde aus Frauen. Friedrich, ich denke, es ist ihm ernst damit. Er wird meinen Ratgeber veröffentlichen!«
»Ich kann dich nur erneut beglückwünschen, meine wunderbare Frau. Du würdest es schaffen, das wusste ich.«
Svantje ließ sich küssen und herzen und versuchte, nicht daran zu denken, dass er ihren Traum noch vor wenigen Wochen zum Scheitern verurteilt hatte. Aber war sie nicht selbst kurz davor gewesen aufzugeben?
Die Sekretärin kam herein, den schlafenden Clemens in einem Arm, eine Champagnerflasche im anderen.
»Du meine Güte«, entwich es Svantje, als sie die Frau mit der doppelten Last sah, und nahm ihr den Kleinen ab. Seine Fäustchen krallten sich in ihre Bluse, und er öffnete die Augen.
Friedrich beugte sich über ihn und wurde mit einem Lächeln belohnt. »Bist du groß geworden.«
»Aber Friedrich, wir waren keine zwei Wochen unterwegs.«
»Dennoch, er ist ein prächtiger Junge.« Er nahm drei Gläser aus einem Schränkchen, in dem auch andere Spirituosen ihren Platz gefunden hatten, öffnete die Champagnerflasche mit einem vernehmlichen Knall und goss die blassgelbe Flüssigkeit in die Schalen.
»Für mich?«, fragte die Sekretärin irritiert.
Sie stießen an, die Gläser klirrten hell, und Friedrich brachte einen Toast auf zukünftige Erfolge aus. Mit einem euphorischen Gefühl nippte Svantje an dem kühlen Getränk. Herbe Süße füllte ihren Mund. Nach wenigen Schlucken fühlte sie sich leicht und ein wenig beschwipst. »Ich habe noch kein richtiges Frühstück gehabt und trinke schon Champagner«, kicherte sie. »Das hätte ich mir vor einigen Jahren auch noch nicht träumen lassen.«
Während sie sprach, betrat jemand das Büro.
»Das wird Wassili sein, ich hoffe, er hat eine gute Erklärung. Bei dem Termin heute Morgen hätte er mich eigentlich begleiten sollen«, sagte Friedrich. Es war ungewöhnlich, dass Wassili sich verspätete oder wichtige Termine vergaß, und Svantje hörte leise Sorge aus Friedrichs Tonfall heraus.
»Guten Morgen?«, sagte eine Frau, die Stimme so hoch, dass sie panisch klang. Zu dritt verließen sie Friedrichs Büro.
Irina Alfjorow stand neben dem verwaisten Schreibtisch ihres Mannes, eine Hand auf dem glatt polierten Holz, als müsse sie sich abstützen. »Ist Wassili hier?«
»Nein«, erwiderte Friedrich knapp. Sie versammelten sich um Irina, deren Augen bereits vom vielen Weinen gerötet waren.
»Was ist passiert? Haben Sie sich gestritten?«, fragte Svantje und führte die junge Frau zu einem Stuhl.
»Nein, wir streiten niemals. Er ist gestern Abend zum Treffen der Russischen Gesellschaft gegangen, allein, da ich bereits mit meiner Schwester verabredet war. Als ich nach Hause kam, war er noch nicht da, aber ich machte mir keine Sorgen. Diese Abende dauern lang, manchmal bis in die frühen Morgenstunden. Aber auch heute Morgen war er nicht zurück.«
»Und da haben Sie gehofft, er sei direkt hierhergekommen«, schloss Friedrich.
»Ja, aber … ich weiß nicht, ich habe ein schreckliches Gefühl. Etwas muss passiert sein. Vielleicht ist er überfallen worden und liegt nun verletzt in einer Gasse!«
Svantje überließ es Friedrich und der Sekretärin, Irina zu beruhigen, denn Clemens war wach geworden und verlangte lautstark nach Aufmerksamkeit.
Svantje hörte noch, wie Friedrich versprach, Wassilis Frau auf die Polizeiwache zu begleiten, dann schloss sie die Tür des Hinterzimmers, um Clemens in Ruhe zu stillen. Hier hatte sie auch einen kleinen Vorrat an Windeln untergebracht.
Während sie Clemens die Brust gab, lauschte sie auf die traurigen Schluchzer Irina Alfjorows. Sie liebte ihren Mann sehr, das war Svantje vom ersten Moment an klar gewesen, als sie einander vorgestellt wurden. Wassili dagegen wusste seine Gefühle gut zu verbergen. Ein Verdacht schlich sich ein. Betrog er seine Frau etwa? Tat er es so dreist, dass er sogar bei der anderen übernachtete?
Nein, so schätzte sie ihn nicht ein. Hoffentlich war ihm nicht tatsächlich etwas zugestoßen. Hoffentlich stellte sich alles als harmlos heraus.
Sie wusch und wickelte Clemens schnell. Er quengelte, bis sie ihm seine Rassel gab. Als sie fertig war, schlief er fast schon wieder.
Als sie gerade das Hinterzimmer verließ, wurde mit Fäusten gegen die Eingangstür geschlagen. Gleich darauf stürmten sechs Uniformierte herein. Clemens begann wie am Spieß zu schreien.
Friedrich gestikulierte ihr, sich im Hintergrund zu halten, während er dem ersten Wachtmeister entgegentrat.
Eben noch hatten sie auf ihren Erfolg getrunken, und nun standen sie sechs finster dreinblickenden Gendarmen gegenüber. Es war, als sei plötzlich die gesamte Welt aus den Fugen geraten.
Friedrich blieb ruhig und hob beschwichtigend die Hände. »Sie können hier nicht einfach so eindringen, Falkenberg & Sohn haben sich nichts zuschulden kommen lassen.«
»Was wir können und was nicht, lassen Sie doch bitte unsere Sache sein, Herr …?«, knurrte der Polizist, der offenbar das Sagen hatte, und legte mit deutlicher Geste eine Hand auf den Griff seines Schlagstocks.
»Friedrich Falkenberg. Weshalb sind Sie hier?«
»Wassili Alfjorow ist Ihr Sekretär, wenn ich richtig verstehe. Wo ist sein Schreibtisch?«
Friedrich wies darauf, und der Polizist wartete nicht länger. »Alles einpacken«, kommandierte er. Wie ein Schwarm Heuschrecken fielen die übrigen Gendarmen über den Tisch und die zugehörigen Aktenschränke her.
»Das geht nicht!«, protestierte Friedrich.
»Sie erhalten eine Liste der Dinge, die wir mitgenommen haben«, erwiderte der Mann ungerührt.
»Ich möchte Ihren Namen erfahren und den Grund für all das hier.«
»Dietz«, sagte der Gendarm. Er war ein drahtiger Mann von Mitte vierzig. In sein blondes Haar mischte sich erstes Grau. Große Sommersprossen ließen seine Haut fleckig erscheinen. Er wippte auf den Fersen und schien seine Machtposition zu genießen. »Offenbar beherbergen Sie einen Spion unter Ihrem Dach.«
»Wassili Alfjorow ein Spion? Dass ich nicht lache. Er ist mein bester Mitarbeiter, Sie müssen ihn mit jemandem verwechseln.«
»Ein Spion arbeitet im Geheimen«, sagte der Mann belehrend.
»Man wirft ihm Spionage vor?«, fragte Irina dünn.
»Und wer sind Sie?«, blaffte der Polizist.
»Irina Alfjorow, seine Frau.«
»Dann interessiert es Sie sicher besonders, dass er auch wegen homosexueller Umtriebe und sittenwidrigen Verhaltens angezeigt wurde.«
Svantje traute ihren Ohren nicht. Irina wurde weiß wie Schnee, und noch ehe jemand bei ihr war, brach sie ohnmächtig zusammen und schlug im Fall mit dem Hinterkopf auf eine Stuhlkante.
Da Walter arbeitete und sie ohnehin ein verwaistes Haus vorfinden würde, fuhr Hilde auf direktem Weg zu ihrer Mutter. Ihr Sohn Heinrich hatte die Zeit ihrer Reise bei seinen Großeltern verbracht und ihnen hoffentlich wenig Scherereien bereitet.
Als Erstgeborener hatte er bei seinen Eltern in vielen Dingen Narrenfreiheit, und besonders Walter verwöhnte ihn nach Strich und
Faden. Wo er in seinem Beruf Korrektheit und sofortiges Umsetzen seiner Anordnungen erwartete, ließ er bei Heinrich alles durchgehen. Hilde schmunzelte, als sie wieder vor sich sah, wie Walter vergeblich versucht hatte, die kleinen Zinnfiguren seines Sohnes zu einer Schlachtordnung aufzustellen, während dieser in regelmäßigen Abständen mit seinem hölzernen Nachziehpferdchen alles umwalzte und dabei aus vollem Herzen lachte, wie nur Kinder es vermochten. Seine Fröhlichkeit war ansteckend, und bald lachten sie alle, bis ihnen die Bäuche wehtaten und Hilde ihren sonst oft so ernsten, nachdenklichen Mann kaum noch wiedererkannte.
Auch wenn sie ihn nicht liebte, es vielleicht niemals tun würde, freute sie sich darauf, ihn wiederzusehen. Auf ihn würde sie noch bis zum Abend warten müssen, doch bis zu ihrem Wiedersehen mit Heinrich dauerte es nur noch wenige Minuten.
Schon bog die Kutsche in die Auffahrt ein. Die Wachleute hatten sie durchgewunken, sobald Hilde den Kopf aus dem Fenster gestreckt hatte.
Sie war überrascht, Mutter an der offen stehenden Eingangstür zu sehen. Ihr Gesicht war blass und sehr ernst. Sie rang die Hände in Ungeduld. Als die Kutsche anhielt und der Fahrer die Tür öffnete, rief die Mutter erleichtert Hildes Namen, doch die Sorge schwand nicht aus ihrem Gesicht.
Schnell erfuhr Hilde, was geschehen war. »Ich habe den Doktor erwartet, er will nach deinem Vater sehen. Aber komm erst einmal herein, Liebes.«
»Ist er krank?«
»Das Herz wieder. Etwas setzt ihm zu. Doch es ist nicht die Werft, ich habe ihn gefragt und auch deinen Ehemann ausgehorcht. Offenbar hat sich nichts ereignet, was ihn derart erschüttern könnte. Du kennst deinen Vater, er ist ein sehr …« Sie suchte nach Worten. »… ein sehr energischer, lauter Mann. Und nun erkenne ich ihn kaum wieder. Er zieht sich in sich zurück. Seine Brust schmerzt bis in den Arm hinein, und er will weder mich noch seinen Enkel sehen.«
»Und Heinrich?«
»Es geht ihm gut, das Wetter ist so schön, da habe ich ihn mit dem Küchenmädchen in den Garten geschickt.« Ihr Sohn würde also noch etwas auf das Wiedersehen warten müssen. »Ist Vater in seinem
Arbeitszimmer?«
»Nein, er liegt in unserem Bett. Ich habe dir doch gesagt, es ist ernst.«
Wenn der Vater am Tag im Bett lag, war es das wirklich. Sämtliche Vorfreude war aus Hilde gewichen. Ihre Schritte waren wie Blei, als sie die Stufen zum Obergeschoss hinaufstieg, wo das elterliche Schlafzimmer lag. Der Mann, der hinter dieser Tür ans Bett gefesselt war, war zweifelsohne ein Tyrann, doch er war gleichzeitig noch immer ihr Vater.
Sie klopfte leise. Als sie keine Antwort bekam, trat sie einfach ein.
Mehrere Kissen sorgten für eine aufgerichtete Position, die beinahe darüber hinwegtäuschte, dass der Vater schlief.
Hilde trat nahe ans Bett und betrachtete das Familienoberhaupt. Auf sie wirkte er wie ein alternder König, der an seiner Macht festhielt. Er duldete keine Schwäche, von niemandem. Es rührte Hilde, zu sehen, dass er selbst im Schlaf die Hände zu Fäusten geballt hatte, als würde er kämpfen. Gegen die Unabwendbarkeit des Alters oder die Pein in seiner Brust? Sie wusste es nicht.
Doch auch sein kämpferischer Geist musste irgendwann einmal kapitulieren, und sie hatte den Eindruck, dass es bis dahin nicht mehr weit war. Erfüllt von plötzlicher Verlustangst, kamen ihr die Tränen. So oft, seit ihrer Kindheit, war sie an ihrem Vater verzweifelt. Ihr kindlicher Wunsch, ihm alles recht zu machen, war bald der Erkenntnis gewichen, dass sie seinen Ansprüchen niemals genügen würde. Sie hatte ihre Träume aufgegeben, für ihn. Hatte sich als Pfand seiner Wirtschaftsinteressen benutzen lassen. Hatte auf seinen Wunsch hin seinen Geschäftspartner geheiratet, weil dieser frisches Kapital mitbrachte. Wie viel davon der Vater für ihre Zukunft und ihr Wohl getan hatte und wie viel für seine egoistischen Ziele, würde sie wohl niemals herausfinden. Für die Ehe mit Walter war sie ihm mittlerweile allerdings dankbar.
Sie zupfte ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und tupfte sich die Tränen von den Wangen. Der Vater würde sie nicht weinen sehen wollen. Hilde musste an ihre Mutter denken, die niemals vor ihm weinte und jedes Gefühl in sich verschloss, wenn er zugegen war. Hilde kannte sie anders. Warm und gütig, natürlich auch streng, wenn es sein musste. Sie hätte die Mutter gern kennengelernt, bevor ihre
Eltern geheiratet hatten. Womöglich waren sie sich ähnlicher, als man heute meinen mochte.
Der Vater stieß ein tiefes Seufzen aus, als lastete ein Gewicht auf seiner Seele. Seine verkrampfte Linke öffnete sich, dann ballte er sie wieder zur Faust. Die Augenlider zitterten. Er wurde wach.
Hilde kämpfte gegen den plötzlichen Wunsch an, das Zimmer zu verlassen. Stattdessen zog sie sich einen Hocker heran. Lautlos glitten die Holzbeine über den dicken Teppichflor. Sie setzte sich.
Der Vater blinzelte, er sollte sich nicht erschrecken.
»Ich bin es. Hilde«, sagte sie leise und nahm seine Hand, weil es das Natürlichste war, wenn man am Bett eines Kranken saß. Doch er zog seine Hand unwirsch fort. »Hilde?« Seine Stimme war belegt.
»Möchten Sie etwas trinken?« Sie goss Wasser aus einer Karaffe und stand auf, um ihm das Glas an die Lippen zu halten.
»Ich bin noch nicht tot, gib her!« Er nahm ihr das Glas ab und versuchte zu überspielen, wie sehr seine Hand zitterte. »Was machst du hier?«
Hilde setzte sich. »Ich besuche Sie, Vater, und ich hole meinen Sohn ab.«
»Ah ja. Die Reise.«
Er würde sich nicht nach ihrer Fahrt erkundigen, da er es nicht gutgeheißen hatte, dass sie Svantje begleitete, das wusste sie von Walter. Doch er war nicht mehr ihr Vormund und hatte es ihr nicht verbieten können.
»Wie geht es Ihnen? Haben Sie starke Schmerzen?«
»Das verdammte Herz.« Er schlug sich mit bitterer Miene auf die Brust, bedauerte wohl, dass seine Macht nicht so weit reichte, dass er es kontrollieren konnte. »Du hast es gewusst«, fuhr er lauernd fort.
Die Wendung des Gesprächs kam unerwartet.
»Was gewusst, Vater?«, fragte Hilde vorsichtig. Aufregung war Gift für seine Gesundheit, und am Klang seiner Stimme erkannte sie, dass es sich um ein Reizthema handelte.
»Richard. Er war in Hamburg.«
Hilde zuckte zusammen, als hätte der Vater sie mit Eiswasser übergossen. »Er kann reisen, wohin er will.«
»Du hast ihn getroffen?«
Hilde nickte. Leugnen nutzte nichts. Der Vater würde sie
durchschauen, außerdem schien er die Antwort längst zu kennen. War Richards Besuch der Grund für die erneute Herzschwäche?
»Er ist nicht mehr mein Sohn, er ist eine Schande für den Namen Harkenfeld. Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?« Noch immer sprach der Vater ruhig, doch unter dem dichten Backenbart begann sich die Haut verdächtig zu röten.
»Sie haben sich sehr klar ausgedrückt, Vater. Sie können Richard enterben und niemals wieder seinen Namen aussprechen, aber Sie können mir meinen Bruder nicht nehmen. Wir sind Geschwister, und nichts in der Welt wird daran etwas ändern.«
»Dann bist du genauso verderbt wie er. Ja, ich weiß, dass er in deinem Haus gewesen ist, dein Mann hat sein Schweigen gebrochen. Du hast diesem Sünder Herberge gegeben, damit er in der Stadt seinen widernatürlichen Trieben nachgehen kann.«
»Er hat nicht …«, verteidigte sie Richard schwach, dann wurde ihr klar, dass sie nichts in seinem Namen versprechen konnte.
Der Vater stieß einen Laut aus, halb Schmerz, halb Wut. »Er zeigt sich öffentlich mit diesem anderen Lüstling. In der Oper …«
»In der Oper? Das kann nicht sein! Er war dort mit mir, wir haben uns getroffen. Mutter kann …« Hilde schlug sich die Hand vor den Mund. Das hätte ihr nicht herausrutschen dürfen.
Sein Blick wurde starr, fühlte sich an wie glühende Kohlen auf ihrer Haut. »Was kann deine Mutter?«, fragte er kühl.
»Nichts, nichts … es … war ein Zufall.«
Seine Hand schnellte vor, er packte Hilde am Arm, riss sie vorwärts, sodass sie halb auf das Bett fiel, dann schlug er ihr mit der anderen Hand mehrmals ins Gesicht.
Ihre Wangen brannten wie Feuer. Zorn unterdrückte den Schmerz. Sie entwand sich seinem Griff, verdrehte ihm die Finger, stolperte zurück und fiel über den Saum ihres Rocks. Stoff riss, und sie fand sich auf dem Boden wieder, hatte sich gerade noch abfangen können.
Sitzend starrte sie den Mann an, der ihr Vater war, presste sich schützend beide Hände auf den Bauch, in dem sich das Kind protestierend regte. Ein Glück, dass sie nicht anders gefallen war.
In ihrem Inneren tobte Empörung. Nicht einmal auf ihr ungeborenes Kind nahm dieser alte Tyrann Rücksicht. »Willst du deinen Enkel umbringen?«, keuchte sie.
Doch der Vater antwortete nicht, war in die Kissen zurückgesunken. Seine Brust hob und senkte sich wie ein Blasebalg, das Gesicht war bis auf einige rote Flecken bleich geworden. Falls er gerade einen weiteren Anfall erlitt, war es Hilde in diesem Augenblick gleich. Mühsam rappelte sie sich auf und stürmte ohne einen Blick zurück zur Tür hinaus.
Im Flur hielt sie inne und versuchte, sich zu sammeln. Er hatte sie geschlagen wie ein ungezogenes Gör. Jetzt tat es auch weh.
Sie trat an einen goldgerahmten Spiegel. Der verwischte Abdruck einer Hand zeichnete sich dunkelrot auf ihrer Wange ab, auf der anderen Seite begann ihr Auge zuzuschwellen. Ihre Nase lief. Abwesend wischte sie mit dem Ärmel darüber und verschmierte ein wenig Blut. So fand Mutter sie vor, als sie in Begleitung des Arztes die Treppe heraufkam. Hilde bekam kaum mit, wie die Mutter den Doktor zu dem Kranken schickte. Sobald er die Tür hinter sich zugezogen hatte, nahm sie ihre Tochter in den Arm. »Hilde, Hilde, Hilde«, wisperte sie.
Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Er weiß es«, wisperte Hilde. »Er weiß, dass Sie sich mit Richard getroffen haben. Es ist mir herausgerutscht, es tut mir leid.«
»Nichts muss dir leidtun, Kind. Ich hätte mehr Mut beweisen sollen, habe mich immer nur geduckt vor ihm. Kleiner und kleiner habe ich mich gemacht, bis ich gar nicht mehr da war. Das muss nun aufhören.« Sie strich Hilde über die Wange, mit den Fingerspitzen nur.
»Ich habe Angst um Richard. Vater hasst ihn so sehr … Was, wenn er ihm etwas antut?«
»Er kann ihm nichts anhaben, Kind. Wer weiß, ob er sich je wieder erholt. Der Arzt hat nicht viel Hoffnung.«
Hilde musterte ihre Mutter. Erst jetzt fiel ihr auf, wie schmal sie geworden war. Als habe sie mehr als nur einige sorgenreiche Tage hinter sich. »Wie lange geht das schon so?«
»Seit mehr als zwei Wochen. Aber ich wollte dich vor deiner Abreise nicht beunruhigen. So schlecht wie jetzt geht es ihm erst seit einigen Tagen. Zu Anfang war es noch schleichend. Aber das entschuldigt nicht, wie er mit dir umgegangen ist.«
»Verzeihen Sie mir, Mutter, aber ich werde in den nächsten Wochen nicht mehr herkommen.«
Die Mutter seufzte schwer. »Das verstehe ich, Liebes, aber wenn er …«
»Wenn es zu Ende gehen sollte, dann komme ich. Und auch sonst jederzeit, wenn Sie mich brauchen und der Vater in seinem Bett liegt oder nicht im Haus ist. Doch er wird mich nicht mehr vor die Augen bekommen.«
Sie küsste Hilde auf die Wange. »Dein Mann wird wütend sein, wenn er dich sieht, und er hat jedes Recht …«
»Mutter!«, sagte Hilde ungläubig. »Er hat nicht Walter geschlagen, sondern mich. Nicht ihn gekränkt, sondern mir
wehgetan. Ich bin nicht das beschädigte Eigentum meines Mannes!«
Die Mutter hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Du hast ja recht, Kind. Komm, holen wir deinen Kleinen, und dann schnell nach Hause mit euch.«
Wassili erwachte in seinem eigenen Erbrochenen. Sie hatten ihm so oft in den Magen geschlagen, bis er meinte, den Schmerz nicht mehr aushalten zu können, dann hatte er das Bewusstsein verloren. In der Zeit mussten sie ihn in die Zelle geschafft haben.
Er wälzte sich auf den Rücken, um der stinkenden Lache zu entgehen. Dass er nicht daran erstickt war, war reines Glück, falls man in seiner Lage überhaupt von Glück sprechen konnte.
Stöhnend öffnete er die Augen. Es blieb recht dunkel. Nur durch einen winzigen Schacht, der die Bezeichnung Fenster nicht verdiente, fiel etwas Licht. Es reichte aus, um seine karge Umgebung einer kurzen Inspektion zu unterziehen. Er war allein in der Zelle. Die Wände bestanden aus Backsteinen, die vor vielen Jahren einmal gekalkt worden waren. Im Dämmerlicht schienen sie von fleckigem Braun und einem Gelb zweifelhafter Herkunft zu sein. Auf dem Boden klebte eine dicke Schicht Unrat. Es gab eine Decke zum Schlafen und einen Eimer für die Notdurft. In einer Holzschüssel befand sich Wasser zum Waschen und Trinken, das hoffte er zumindest. Die Tür, die aus der Zelle führte, bestand aus eisenbeschlagenen Bohlen. Wenngleich aus Holz gefügt, wirkte sie dennoch derart massiv, dass Wassili sämtliche Hoffnung auf eine Flucht fahren ließ. Und wie sollte er auch fliehen? Er
war sogar zu schwach, um aufzustehen.
Die Männer, die ihn zusammengeschlagen hatten, verstanden ihr Handwerk. Wassili horchte in sich hinein. Er hatte höllische Schmerzen, doch er bezweifelte, dass die Prügel bleibende Schäden hinterlassen würden. Die gesamte Zeit über, die sie ihn quälten, hatten sie nichts gesagt. In der Hoffnung, weiteres Leid umgehen zu können, hatte er auf Fragen gewartet, die er beantworten konnte, doch da kam nichts. Nur Schweigen und Schmerzen.
Anfangs, bei seiner Verhaftung, hatte er erwartet, dass sie ihn schnell aburteilen und in eine Nervenheilanstalt stecken würden. Eine von der Sorte, aus der man nicht mehr lebend rauskam.
Die Zeit floss zäh dahin, während es ihm langsam besser ging. Auf allen vieren kroch er zu dem Platz mit der Rupfendecke und blieb dort liegen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, alles kreiste um den pochenden Schmerz in seinem Inneren. Es wurde zuerst schlimmer, und er hörte sich selber stöhnen.
Jemand brachte dünne Suppe und Brot. Sie kühlte aus, quälte ihn mit dem Geruch von Bohnen, Mehl und etwas Speck.
Schließlich ging es ihm so gut, dass er sich aufsetzen konnte. Auf der Suppe in der Schale schwammen erkaltete Fettaugen. Wassili aß sie trotzdem, behielt sie einen Moment bei sich, dann verkrampfte sich alles, und er gab sie wieder von sich.
Die Männer kamen zurück, und dieses Mal schlugen sie ihn mit der Begründung, dass er undankbar sei, weil er das Essen erbrochen hatte.
In diesem Augenblick begriff Wassili, dass sie immer einen Grund finden würden, ihm Schmerzen zuzufügen, solange sie Freude daran hatten, und etwas in ihm zerbrach.
Es war die Hoffnung.
»Aber ich habe doch nichts getan!«, wimmerte er.
Wie schon zuvor bekam er als Antwort nur einen Tritt.
So würde es also von nun an sein.
Niemand wusste, wo er war, niemand würde kommen, um ihn zu retten. Er war allein mit sich und seinem Schmerz.
Svantje hatte Irina Alfjorow stürzen sehen und schon in diesem
Augenblick gewusst, dass es nicht glimpflich mit einem kleinen Hämatom ausgehen würde. Das Geräusch, mit dem die junge Frau auf der Stuhlkante aufschlug, ließ Svantje das Mark in den Knochen gefrieren. Etwas war gebrochen.
Wassilis Frau blieb reglos liegen. Friedrich wollte ihr aufhelfen, doch Svantje stieß ihn weg und schrie: »Nicht berühren, niemand bewegt sie!« Sie war derart resolut, dass auch die Gendarmen auf Abstand gingen.
Sie überließ Clemens der Sekretärin und Friedrich das Unheil, das über seine Firma gekommen war. Ihre einzige Sorge galt nun Irina Alfjorow.
Sie untersuchte sie vorsichtig. Die Frau rührte sich nicht und war sehr blass. Ihr Rücken war leicht gekrümmt, die Arme und Beine angewinkelt, sodass sie an eine achtlos fallen gelassene Gliederpuppe erinnerten.
Svantje überprüfte Atmung und Herzschlag, dann tastete sie vorsichtig den Nacken entlang. Jeder Wirbel schien an seinem Platz, doch das konnte täuschen. Noch einmal wiederholte sie ihre Untersuchung mit höchster Konzentration. Erst dann machte sie am Kopf weiter. Blut verklebte das Haar am Hinterkopf und benetzte ihre Finger. Sie ertastete die Schwellung, und darunter bewegte sich etwas. Svantje hielt erschrocken den Atem an. »Sie muss sofort ins Krankenhaus«, sagte sie knapp. »Es ist ein Bruch im Schädel. Wenn sich zu viel Flüssigkeit ansammelt, könnte sie daran sterben.«
Svantje kümmerte sich nicht darum, wer den Transport organisierte. In ihrer kleinen Tasche war Verbandszeug, das sie auf ihren Vorträgen zu Demonstrationszwecken genutzt hatte. Das war ihr Glück, denn so konnte sie Irina einen strammen Verband anlegen, bevor sie Friedrich bat, dabei zu helfen, die bewusstlose junge Frau aufzurichten.
»Was jetzt?«, fragte er leise und sah sich mit gehetztem Blick um. Noch immer packten die Gendarmen Akten und Unterlagen in Kisten, zerrten Schubladen heraus und überprüften Wassilis Schreibtisch auf Geheimfächer. Irinas Unglück schien sie nicht zu kümmern.
»Wir müssen sie aufrecht transportieren. Denn wenn ich recht habe, dann blutet ihr Schädel ins Innere. Wenn sich zu viel Blut und Hirnflüssigkeit ansammeln, könnte Irina geistige oder motorische
Schäden davontragen oder …«
»Sterben?« Friedrich schien die Schwere der Verletzung erst jetzt bewusst zu werden. »Das lasse ich nicht zu. Du
darfst es nicht zulassen, hörst du?«
Svantje nickte und hätte ihn in diesem Moment so gern in die Arme geschlossen. Doch sie musste Irina festhalten, damit sie nicht zur Seite kippte.
Schließlich kam die gerufene Kutsche. Ein Arbeiter aus dem Lagerhaus half, die Ohnmächtige hineinzutragen, und würde bis zum Krankenhaus mitfahren. Friedrich blieb bei den Polizisten, und die Sekretärin seines Vaters musste auf Clemens achtgeben. Zum Glück habe ich ihn noch gestillt, bevor das Unheil seinen Lauf nahm,
dachte Svantje.
Der Lagerarbeiter Thomas Meuthen, den sie bis zu diesem Tag nicht gekannt hatte, hielt die Verletzte die ganze Fahrt über fest. Irina blieb ohnmächtig. Svantje umfasste ihre Hand, den Zeigefinger beständig auf dem schwachen, aber regelmäßigen Puls.
Die Kutsche rumpelte über Kopfsteinpflaster und schüttelte sie alle ordentlich durch. Svantje biss die Zähne aufeinander. Hoffentlich schafften sie es rechtzeitig ins Krankenhaus. Nicht auszudenken, wenn Wassili aus dem Gefängnis freikäme und seine Frau durch ein Unglück den Tod gefunden hätte. Sicher würden die Vorwürfe bald entkräftet und er wieder frei sein.
Hatte der Pulsschlag gerade ausgesetzt? »Irina, bleiben Sie bei uns«, beschwor Svantje die Ohnmächtige.
Endlich erklang ein Klopfen. Der Kutscher gab Bescheid, dass sie ihr Ziel fast erreicht hatten. Er hielt direkt vor dem Eingang. Friedrich hatte den Mann bereits bezahlt, daher musste sie sich damit nicht aufhalten. Gemeinsam mit dem schweigsamen Meuthen trug der Kutscher Irina in aufrechter Position ins Klinikum. Svantje lief voraus. »Wir brauchen einen Rollstuhl«, rief sie. Ein vertrautes Gesicht. »Schwester Burgert!«
Die blonde, auf den ersten Blick zarte Frau war sofort zur Stelle. Niemand sah ihr die Kraft und die schier unerschöpfliche Energie an, mit der sie Patienten versorgte. Doch es blieb keine Zeit für eine lange Begrüßung. »Wahrscheinlicher Schädelbruch durch einen Sturz, vielleicht muss eröffnet werden«, berichtete Svantje ihrer ehemaligen
Kollegin.
Der Kutscher und der Lagerarbeiter blieben zurück, sobald Irina Alfjorow im Rollstuhl saß. Schwester Burgert schob, während Svantje sie aufrecht hielt.
»Doktor Schawacht ist gerade aus dem Operationssaal zurück«, sagte Schwester Burgert. Sie wusste, wie viel Svantje auf ihren ehemaligen Vorgesetzten und Förderer hielt und dass sie ihre Bekannte am liebsten in seinen Händen wissen würde.
Eine Schwesternschülerin wurde vorausgeschickt, um ihn zu holen und einen Untersuchungsraum bereit zu machen.
Svantje war zwar schon seit Jahren nicht mehr im Beruf, doch bis auf einige fremde Gesichter hatte sich wenig verändert. Sie fiel schnell in die alte Routine zurück, wie ein Fisch im Wasser. Die vorbereitenden Handgriffe fielen ihr leicht, und als der Doktor schließlich eintraf und Irina Alfjorow untersuchte, gab sie wie in alten Tagen einen knappen, präzisen Bericht ab.
»Sie haben genau richtig gehandelt, Schwester Falken…, Frau Falkenberg«, korrigierte er sich mit einem ernsten Lächeln. »Liegend transportiert, wäre sie nicht mehr am Leben. Eine Penetration wird nötig sein, um den Druck auf das Gehirn zu mindern. Möchten Sie mir behilflich sein?«
Svantje nickte.
»Dann lassen Sie sich von Schwester Burgert einen Kittel und eine Haube geben.«
Schnell war Svantje umgezogen. Unterdessen hatte man die Patientin in aufrechter Haltung in einem Operationsstuhl festgeschnallt. Svantje half Schwester Burgert dabei, Irina Alfjorows Kopf an einer Stelle zu rasieren und mit Jod abzureiben. Doktor Schawacht machte einen kleinen Schnitt mit einem Skalpell, der die Patientin nicht aufwachen ließ. Svantje spülte mit Kochsalzlösung, während der Arzt kleine Knochensplitter entfernte, die Gefahr liefen, ins Gehirn einzudringen. Dann floss plötzlich sehr viel Blut. Es war das Hämatom, das nun einen Abfluss hatte. Irina Alfjorows Hände zuckten, doch sie war festgeschnallt.
»Alles wird gut, Irina«, flüsterte Svantje, während der Arzt sich beeilte, die Wunde wieder zu vernähen.
»Wir beobachten das in den nächsten Stunden genau. Wenn es nötig
ist, werde ich angesammeltes Blut mit einer Spritze entfernen«, schloss er, nachdem er die Patientin versorgt hatte.
»Sie wird wieder gesund?«
»Wie Sie wissen, gebe ich keine Garantien, Frau Falkenberg, aber ich bin mir sehr sicher. Ihre Freundin wird wieder gesund, und das verdankt sie Ihnen. Sie retten Leben, auch wenn Sie keine Schwester sind. Ich denke, es wird Zeit, dass Sie wieder zurückkommen. Das Klinikum braucht Sie.«
Trotz der dramatischen Situation hätte er nichts Schöneres sagen können.
»Mein Sohn ist noch sehr klein, ich muss darüber nachdenken«, erwiderte Svantje, doch ihr Herz kannte die Antwort bereits. Sie wollte, musste
so schnell wie möglich zurück.
Auch wenn es Friedrich nicht gefallen würde.