11
Svantje hatte Kittel und Haube zurückgegeben und saß nun als einfache Besucherin an Irinas Bett. Hin und wieder nahm sie deren Hand, überprüfte aus Gewohnheit den Puls. Sie scheute sich davor, nach Hause zu gehen, ohne eine gute Nachricht mitbringen zu können.
Das Zimmer war winzig, aber die Patientin hatte es für sich allein, ein Luxus, den sie wohl ohne ihre Begleiterin nicht kennengelernt hätte. Svantje trat an das schmale, hohe Fenster und zog den Vorhang auf. Es ging zum Innenhof hinaus. Sie beobachtete das vertraute, stets emsige Treiben. Eine Schwester und ein Helfer schoben ein Krankenbett in eine andere Station. Männer und Frauen mit Krücken, andere, die sich auf ihre Begleitung stützten, drehten in dem kleinen Park ihre Runden. Eine ältere Schwester mit einem Medikamentenwagen nahm die Abkürzung zwischen den Trakten und überquerte den Hof. Mit einer unwirschen Geste scheuchte sie einen kleinen Taubenschwarm auf.
Svantje sah Spaziergängern und Wäschewagen nach, bis ihr Blick an einer kleinen Familie hängen blieb. Erwachsene und Kinder trugen dunkle Kleidung. Ein Mann weinte, und eine ältere Frau stierte ins Leere. Die Kinder sahen ratlos zu den trauernden Erwachsenen auf. Jene, die sonst ihr Fels und Halt waren, brauchten nun selbst Trost. Nicht weit von ihnen trug eine junge Wöchnerin ihren winzigen Säugling zu einer Bank, wo ihr Ehemann wartete.
In diesem Hof spielte sich das gesamte Leben ab. Es war wie ein Spiegel, ein Ausschnitt von Glück und Tragödien, wie sie sich jeden Tag Tausende Male wiederholten. Leben und Tod berührten einander. Auch Irina Alfjorow war von der Hand des Todes gestreift worden. Habe ich sie wirklich gerettet?,
dachte Svantje. Es fühlte sich nicht besonders an. Sie hatte einfach nur getan, was richtig war. Was sie am besten konnte.
Ein leises Klopfen an der Tür.
Als sie sich umwandte, war Doktor Schawacht bereits eingetreten.
»Ich wollte einmal nach unserer Patientin schauen, auch wenn ich sicher bin, dass Sie alles im Griff haben.«
Die Untersuchung ging schnell vonstatten, dann trat er neben Svantje und folgte ihrem Blick in den Hof und über das Tor hinweg auf die Silhouette der Stadt. Einzelne hohe Wolken krochen über die Dächer, schwer wie Gebirge. Am Abend würde es vermutlich Regen geben.
»Kann ich Irinas Mann sagen, dass sie wieder gesund wird?«, fragte sie. »Es ist wichtig, dass ich ihm etwas sagen kann, falls …« Sie rang die Hände. »Falls er wieder aus dem Gefängnis zurück ist.«
»Dem Gefängnis? Ich glaube, Sie schulden mir eine Geschichte, Schwester.«
»Nicht nur eine.« Sie lächelte gequält und erzählte, was sie am Morgen nach der Rückkehr vorgefunden hatte. Schawacht hörte schweigend zu und runzelte die Stirn. »Und ihm wird Spionage und Homosexualität zum Vorwurf gemacht? Das ist in der Tat eine seltsame Mischung. Sie kennen diesen Mann. Können Sie sich eines von beidem vorstellen?«
Svantje schüttelte den Kopf. »Alfjorow ist seit Jahren mit meinem Mann befreundet, sein bester Mitarbeiter … und hier liegt seine Ehefrau.«
»Die Spannungen zwischen Deutschland und Russland wachsen seit Jahren, da ist es kein weiter Weg zu solchen Verleumdungen, falls jemand einen missliebigen Konkurrenten loswerden will. Jemand muss den Gatten Ihrer Freundin beschuldigt haben.«
»Er ist auf dem Rückweg vom Treffen einer Gesellschaft russischer Emigranten verhaftet worden. Aber das sind alles angesehene Händler, soweit ich weiß.«
Doktor Schawacht legte Svantje eine Hand auf die Schulter. »Es tut mir leid. Wenn Alfjorow nicht freigelassen wird, dann könnte ich Erkundigungen einholen.«
»Aber wie?« Svantje drehte sich erstaunt zu ihm um.
»Erinnern Sie sich an den jungen Doktor Grahmer?«
»Natürlich, ein wirklich talentierter Mann. Und er ist jetzt Arzt hier?«
»Ja, das auch. Einen Tag in der Woche nimmt er sich kranker Gefangener an. Er geht im Gefängnis und auf den Polizeistationen ein
und aus. Er könnte sich umhören.«
»Das wäre großartig! Doch erst einmal hoffen wir, dass Wassili längst wieder freigekommen ist und alles nur ein furchtbarer Irrtum war.«
Irina stöhnte. Schnell trat Svantje mit dem Arzt ans Bett. »Irina, können Sie mich hören? Wie geht es Ihnen?« Sie nahm die Hand der Kranken in ihre.
»Svantje?«, flüsterte Irina schwach und versuchte, den Kopf zu drehen, was ihr offenbar Schmerzen bereitete.
»Ich bin hier, bleiben Sie ruhig, Sie sind im Krankenhaus.«
Das schien Irina zu überraschen. Sie öffnete die Augen zur Gänze, um sich umzuschauen.
»Können Sie sich erinnern, was passiert ist, Frau Alfjorow?«, fragte Doktor Schawacht, nachdem er sich vorgestellt hatte.
»Mein Mann ist nicht nach Hause gekommen, und dann … die Polizei, ich bin gestürzt. Ich erinnere mich nicht mehr.«
»Was Sie noch wissen, reicht mir, um Ihnen zu versichern, dass Sie wieder gesund werden. Sie dürfen sich nicht ruckartig bewegen und werden eine Weile ans Bett gefesselt sein, aber seien Sie guter Hoffnung.« Er sah sie aufmunternd an und tätschelte ihre Hand.
Svantje nahm kurz darauf Abschied, nachdem sie versprochen hatte, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Wassili zu finden.
Eine Woche später
Als das Telegramm Richard erreichte, war er im ersten Moment so überrascht, dass er nichts fühlte. Als sei sein Körper ein leeres Gefäß. Vater auf dem Sterbebett, Wassili im Gefängnis, er solle sofort kommen.
Die Nachricht stammte von Hilde, sonst hätte es den zweiten Satz nicht gegeben.
Richard hatte bei seinem Vorgesetzten um Freistellung gebeten, um familiäre Angelegenheiten in Hamburg zu regeln. Ausnahmsweise kam ihm sein Name zugute. Die meisten kannten Harkenfeld in Verbindung mit den Flottengesetzen. Die Werft baute Panzerboote, es war von nationalem Interesse, dass die Firma reibungslos lief. So manch einer
ging davon aus, dass Richard demnächst die Leitung der Werft übernahm. Dass er vom Erbe ausgeschlossen war, war ein Familiengeheimnis.
Er nahm den nächstmöglichen Zug nach Hamburg und schenkte der Fahrt kaum Beachtung. Seine Gedanken kreisten um den Vater und Wassili. Zwei Unglücke auf einmal.
Er konnte nicht glauben, dass er so unvorsichtig gewesen war. Weder er noch Wassili hatten in den vergangenen Jahren einen der geheimen Treffpunkte aufgesucht, an denen sich Männer wie sie trafen. Sicherer als Wassili, der sogar geheiratet hatte, konnte man nicht sein. Zwar hatte Richard sich zwei Tage nach dem Opernbesuch noch einmal mit ihm getroffen, doch sie waren unter sich gewesen, in einem Sommerhaus außerhalb Hamburgs, das nur von Wald umgeben war.
Jemand musste sie verraten haben, und dafür kamen nur drei Menschen infrage. Vater, Mutter und Hilde. Seiner Schwester hatte Richard keinen Grund gegeben, ihn zu hassen. Ganz im Gegenteil, sie näherten sich einander an, und das auf eine Weise, wie es sie früher nicht gegeben hatte. Die kindische Rivalität ihrer Jugend war vorüber. Hilde war eine andere, eine stärkere Frau geworden.
Sie erwartete ihn, als der Zug in die große Bahnhofshalle einfuhr und den Bahnsteig für eine Weile in Rauch und Dampf hüllte. Menschengewirr, Taubenschwärme erhoben sich mit klatschenden Flügeln. Ein Schaffner blies in eine Trillerpfeife, um sich Gehör zu verschaffen.
Richard hatte einen großen Koffer dabei, nicht wissend, wie lang sein Aufenthalt dauern müsste. Hilde war ein Stück zurückgetreten und drückte sich ein weißes Spitzentaschentuch über den Mund, um den Rauch der Dampflok nicht einzuatmen. Trotzdem erkannte er sie sofort. Ihre Haltung war aufrecht, das rostrote Kleid entsprach der neusten Mode, breit in den Schultern, mit üppigen Puffärmeln. Die so beliebte Sanduhrsilhouette, geformt von bauschigen Ärmeln und weitem Rockschoß, litt unter ihrem wachsenden Kindsbauch. Richard fand, dass die Schwangerschaft Frauen schöner machte. Auch Hildes eher kantige Züge, so typisch für die Harkenfelds, hatten sich gerundet, und ihre Augen funkelten, sprühten förmlich vor Leben.
Er küsste sie auf die Wange. »Du holst mich ab? Womit verdiene ich
diese Ehre?«, fragte er.
»Ich wollte mit dir reden. Zu Hause werden wir dazu kaum Gelegenheit bekommen«, erwiderte sie ernst. Ernüchtert bot er ihr den Arm, und sie verließen den Bahnsteig. Draußen wartete Vaters Kutsche, ein geschlossenes Gefährt. Als Junge war Richard gern außen mitgefahren und wusste daher, dass Gespräche nicht durch die gepolsterten Wände drangen. »Meine schlaue Schwester«, flüsterte er und begrüßte den alten Kutscher. Der Mann ließ sich nicht anmerken, ob er die Anwesenheit des verstoßenen Sohns guthieß. Sein Gesicht war wie ein Felsen, alt und verwittert und genauso starr.
Er schloss die Tür hinter ihnen und stieg auf den Kutschbock. Richard musterte seine Schwester. Hilde schwieg mit ernster Miene, beide Hände um den prallen Bauch gelegt, der sich selbst unter dem weitesten Kleid nicht mehr verstecken ließ. Sie sah aus dem Fenster, als warte sie auf etwas. Als sie schließlich in den gedrängten Verkehr auf einer Allee einbogen, wo sich Reiter, Eisenbahnen, Automobile und Karren dicht an dicht drängten, sagte Richard leise ihren Namen.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, Bruder. Ich wollte nie Teil des Krieges zwischen Vater und dir werden, und doch finde ich mich nun auf einer Seite wieder. Auf deiner. Dabei hast du diesen Zwist ausgelöst.«
»Glaubst du das wirklich? Denkst du, dass Vater und ich je hätten gut miteinander auskommen, gar über Jahre gemeinsam die Firma leiten können, ohne dass es zu einem Zerwürfnis gekommen wäre?«
Sie zuckte wenig damenhaft mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, und wir werden es auch niemals herausfinden, nicht wahr? Was geschehen ist, ist deine Schuld. Wenn du und dieser Wassili Alfjorow nicht …«
Richard schnitt ihr mit einer raschen Handbewegung das Wort ab, doch Hilde war längst kein unsicheres Mädchen mehr, das sich den Mund verbieten ließ. »Deine Verfehlung widert mich an, Richard.«
»Mich auch«, sagte er, ohne darüber nachzudenken.
»Wirklich?«, fragte sie irritiert.
»Ja … nein … Damals zumindest hat es das. Wenn du die Wahrheit von mir hören willst … Ich weiß es nicht. Ich weiß seit Jahren nicht mehr, was richtig und falsch ist, was ich fühle und was nicht. Sicher ist nur, was die Gesellschaft gutheißt und was meine Familie von mir
erwartet. Und daran versuche ich mich zu halten.«
»Du versuchst es«, wiederholte Hilde leise und musterte ihn. Ihre Augen waren tief wie Bergseen und ebenso unergründlich.
»Was willst du von mir hören?«
»Das wiederum weiß ich
nicht, Richard. Ich bin zu deiner Komplizin geworden, dabei ist das Letzte, was ich will, dich in deinem widernatürlichen Treiben zu unterstützen. Gib doch zu, dass du dich noch immer mit diesem Mann getroffen hast. Du spuckst große Töne, dich anständig zu benehmen, wagst es, mir einfach ins Gesicht zu lügen!«
Richard hob abwehrend die Hände. »Ich sagte, ich versuche
es.«
»Also ist wahr, was Vater sagt. Du hast dich mit Wassili Alfjorow getroffen.«
»Vater weiß …«
»Richard!«, keuchte sie wütend. »Unser Vater mag vieles sein, aber dumm ist er nicht. Wenn du zu wissen glaubst, wo er überall seine Fäden gesponnen hat, dann kannst du deine Annahmen getrost verdoppeln. Walter ist jedes Mal beeindruckt, wenn er ein weiteres Teil in dem Puzzle entdeckt, das das Machtgespinst unseres Vaters ergibt. Er weiß alles. Vater weiß von deinem Treffen mit dem Russen, und er weiß auch, dass ich und Mutter ihn hintergangen haben, indem wir dich in der Opernloge besuchten. Und es bringt ihn um, zu wissen, dass seine eigene Familie ihn hintergeht.«
Richard war beeindruckt. Seine Schwester kam mehr nach dem Vater, als sie ahnte. Sie hatte mehr geerbt als die herbe Kantigkeit der Harkenfelds, die zwar einem Mann gut zu Gesicht stand, nicht aber einer Frau. Auch ihre füchsische Schläue stammte eindeutig vom Senior. »Wärst du ein Sohn, würde Vater wohl dich als seinen Nachfolger wählen, auch wenn du nicht sein machthungriges Naturell geerbt hast.«
»Pah!« Hilde funkelte ihn zornig an.
»Seinen Zorn hast du auch.«
»Mach nur weiter, Bruder. Verspotte mich und verlier auch noch deine letzte Verbündete. Mutter hast du nicht auf deiner Seite.«
»Ich habe den Krieg, der in unserer Familie geführt wird, längst verlassen. Für mich muss niemand Partei ergreifen.«
»Dann willst du deinen … Freund
Alfjorow also einfach im Gefängnis
verrotten lassen? Einen anderen für deine Sünden büßen lassen?«
Richard schluckte. Plötzlich wurde seine Brust eng, als habe jemand eine Eisenkette darumgelegt, die sich mit jedem Atemzug fester zusammenzog. Er fühlte sich so hilflos, als sei er wieder ein Kind, dem jegliche Entscheidungskraft abgesprochen wurde. »Wenn ich versuche, ihn freizubekommen, reite ich uns beide nur noch tiefer ins Verderben. Ich würde dem Verdacht, der gegen ihn vorgebracht wird, mehr Gewicht verleihen. Noch ist Wassili ein verheirateter, angesehener Mann, der nie auffällig geworden ist. Oder wurde er bei …« Scham ließ seine Worte versiegen.
Hilde musterte ihn nüchtern. Sie hatte tagelang Zeit gehabt, dieses Gespräch in all seinen Facetten durchzuspielen. »Nein. Sie haben ihn, soweit ich weiß, von der Straße weg verhaftet. Er war allein, aber es gab einen anonymen Hinweis. Mehr hat Friedrich dem Polizisten nicht entlocken können.«
»Vater«, schloss Richard.
»Wer sonst! Indirekt hat er es sogar zugegeben, indem er Mutter sagte, er habe dafür gesorgt, dass du der Familie keine Schande mehr machst.«
Richard spannte jeden Muskel an und hätte am liebsten mit der Faust gegen die gepolsterte Kutschenwand geschlagen. Doch er tat es nicht, beherrschte sich. Vater hatte ihn nicht ohne Grund zum Militär geschickt. Der Drill hatte ihn geschliffen, ihm die Kontrolle über die Harkenfeld’sche Energie gegeben. Er schluckte das heiße Brennen in seiner Kehle hinunter, während Hilde berichtete, was sie wusste. Dass der Vater der Mutter auf dem Krankenbett gesagt habe, er plane, die Schande, die Richard über die Familie gebracht hatte, mit Stumpf und Stiel auszumerzen, und wenn es das Letzte sei, was er in seinem Leben tue.
Der Kutscher trieb die Pferde an. Das Zentrum mit seinen überfüllten Straßen und Gassen lag nun hinter ihnen. Richard sah vertraute Alleebäume vorbeiziehen. Erste Villen reckten sich hinter ihren breiten Kronen.
»Was erwartest du von mir, Schwester? Was erwartet Mutter von mir?«
»Es wäre zu viel von dir verlangt, Frieden zu schließen, das ist mir bewusst. Doch der Arzt sagt, es sei ernst. Den nächsten Anfall überlebt
Vater nicht. Er wird nicht mehr in die Fabrik zurückkehren. Wenn er überlebt, dann als ein anderer. Er wird womöglich ans Bett gefesselt sein, auf jeden Fall aber an einen Rollstuhl. Laufen können wird er nie wieder. Um ehrlich zu sein, bin ich mir also selbst nicht sicher, warum ich dich hergebeten habe. Du hast keinen Grund, ihm zu verzeihen, und er ist zu stur, um auch nur einen Schritt auf dich zuzugehen.«
Richard beugte sich vor und nahm Hildes Hand, während unter den Kutschenrädern der Kies der Auffahrt knirschte. »Es war richtig zu telegrafieren, Hilde. Danke!«
Berlin
Anfang September 1900
»Dann unterschreiben Sie bitte hier«, sagte der Mann nüchtern. Für ihn mochte es eine alltägliche Angelegenheit sein, mit einem Autor oder einer Autorin einen Vertrag zu machen, doch für Svantje war es einer der bedeutendsten Augenblicke ihres Lebens. Sie war so aufgeregt, dass ihr der Füller aus der Hand fiel. Er rollte über den Tisch und hinterließ einen großen Fleck auf ihrem Kleid, das sie extra für diesen Anlass hatte schneidern lassen.
Friedrich hob den Füller mit einem Schmunzeln auf und reichte ihn ihr. Nur er ahnte wohl, wie es um ihr Gemüt bestellt war. Er sagte jedoch nichts, und dafür war sie ihm dankbar.
Ihre Finger waren feucht, als sie schließlich ihren Namen unter den Vertrag setzte. Auch Friedrich unterschrieb, wenngleich er eigentlich nichts mit der Angelegenheit zu tun hatte. Aber so standen die Dinge nun einmal. Ohne seine Zustimmung konnte sie keine derart weitreichenden Verträge abschließen.
Der schmale Mann, der sich als Sekretär Maienboom vorgestellt hatte, sah die Papiere durch und zeichnete sie gegen. Neben ihm lag ihr Manuskript, sorgfältig getippt. Kurz huschten Svantjes Gedanken zu Wassili Alfjorow, der sie in die Benutzung der Schreibmaschine eingeweiht und, wenn es einmal besonders schnell gehen sollte, auch selbst einige Seiten getippt hatte. Während sie hier ihren Traum
verwirklichte, saß er in einer dunklen Gefängniszelle ein. Friedrich hatte versucht, ihn ausfindig zu machen, doch der verantwortliche Polizist schwieg sich aus. So hatten sie nur in Erfahrung bringen können, dass er inzwischen von der Wache in ein Gefängnis verlegt worden war. Nun ruhte alle Hoffnung auf Doktor Grahmer, der sich vorsichtig umhörte.
»Das wäre es dann, Frau Falkenberg, Herr Falkenberg. Da uns das Manuskript bereits vorliegt, gibt es ihrerseits nichts mehr zu tun. Sobald der Probedruck da ist, wird er Ihnen nach Hamburg zugesandt. In zehn Monaten wird Ihr Buch vorliegen, bis zur Auslieferung kann es dann noch etwas dauern.«
»Vielen Dank«, sagte Svantje mit brechender Stimme. Sie erhob sich. Friedrichs Arm lag um ihre Mitte, als wisse er genau, wie weich ihre Knie waren.
Sie verabschiedeten sich mit wenigen Worten und fanden sich im weiß gestrichenen Flur wieder. An den Wänden hingen nichtssagende Drucke und einige Urkunden. »Deine Wangen glühen«, sagte Friedrich amüsiert und küsste ihre Stirn. »Wollen wir aufbrechen?«
Sie nickte. »Ich kann es noch gar nicht fassen.«
»Aber es ist wahr, meine liebe Frau, und es ist ganz und gar dein Verdienst.«
»Es fühlt sich unwirklich an, wie eine Nebensächlichkeit. Dabei …« Sie lächelte verlegen. »Ich möchte singen und tanzen, so sehr freue ich mich.«
»Und ich möchte dich herumwirbeln.«
»Aber nicht hier.«
»Nein, nicht hier«, stimmte er verschmitzt zu, und sein Blick verriet, dass er noch viel mehr wollte, als sie nur im Kreis zu schwingen. Svantje hakte sich bei ihm ein und fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als sie frisch verliebt waren.
Schnellen Schrittes liefen sie den Gang hinunter und stiegen in den Paternoster. Die einzelnen Kabinen wackelten ein wenig, und Svantje fand die Fahrt in diesen Vorrichtungen meist ein wenig aufregend, doch heute hatte sie anderes im Kopf.
Als sie schließlich draußen vor dem Verlagsgebäude standen, atmete sie auf. Menschen eilten an ihnen vorbei. Berlin war eine betriebsame Stadt, noch mehr als Hamburg. Die Mundart der
einfachen Leute klang fremd, aber sympathisch.
»Und jetzt?«, fragte Svantje ratlos. Sie hatte den ganzen Tag für den Verlagsbesuch eingeplant, nun war es schon nach zwanzig Minuten vorüber. »Wir könnten einen frühen Zug nehmen und heute schon heimfahren.«
»Gott bewahre!«, stieß Friedrich überrascht hervor. »Ich habe einen Tisch im besten Restaurant der Stadt reserviert! Wir essen, trinken Wein und Champagner, bis du nur noch kicherst, und dann unternehmen wir etwas. Wie wäre es mit einem Konzert?«
»Konzerte gibt es in Hamburg zur Genüge.«
»In den Tierpark?«
»Ohne die Kinder?« Es kam ihr ungerecht vor. Tochter und Sohn waren zu Hause beim Kindermädchen zurückgeblieben.
»Natürlich ohne die Kinder, nur du und ich. Wir werden uns einen schönen Tag machen und ein paar Elefanten füttern. Na, was sagst du?«
Sie beugte sich ganz nah zu ihm und flüsterte: »Und heute Nacht kannst du mich so viel herumwirbeln, wie du möchtest.«
Am nächsten Morgen nahmen sie den Zug nach Hamburg. Zu Hause erwartete Svantje ein kurzer Brief von Doktor Schawacht.
Sehr geehrte Frau Falkenberg,
mein Kollege hat Ihren Bekannten ausfindig gemacht. Wenn Ihrerseits Interesse an einem Treffen besteht, finden Sie sich am Mittwoch um acht Uhr in meinem Büro ein.
Mit besten Grüßen
Doktor Johann Schawacht
Svantje überlegte, Wassili Alfjorows Frau Bescheid zu geben. Sie war vor drei Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden und wurde nun zu Hause gepflegt. Jede Aufregung würde ihr schaden, und Svantje wollte ihr keine falsche Hoffnung machen. Friedrich war ihrer
Meinung. Erst einmal musste sie herausfinden, wie es um Wassili stand.
Bereits um kurz vor acht am nächsten Tag wartete sie im Eppendorfer Klinikum. Eine junge Frau brachte ihr eine Schwesterntracht, die sie anlegen sollte.
Svantje glaubte erst, man habe sie verwechselt, doch die Schwesternschülerin hatte entsprechende Anweisung von Doktor Schawacht erhalten, auch wenn sie die Frage nach dem Warum nicht beantworten konnte. Als Svantje schließlich fertig umgezogen das Büro ihres Mentors betrat, saß der Arzt hinter seinem großen Schreibtisch aus poliertem, dunklem Holz.
»Frau Falkenberg, schön, Sie zu sehen.« Er erhob sich und reichte ihr die Hand. »Mein Kollege wird gleich hier sein. Setzen Sie sich doch.«
Svantje strich die vertraute Uniform glatt und nahm in dem angebotenen Stuhl Platz. »Ich denke, es gibt einen Grund für das alles?«
Er nickte. »Wir werden Sie als Krankenschwester ausgeben, die Sie von der Profession her ja auch sind. Doktor Grahmer macht heute wieder seine Runde durch die Gefängnisse. Es gibt genug zu tun, um Ihre Gegenwart plausibel zu erklären. Sie werden den gesamten Tag nicht von seiner Seite weichen. Am frühen Nachmittag treffen Sie dann vermutlich auf Ihren Bekannten. Aber lassen Sie sich nichts anmerken, wenn es nicht vermeidbar ist. Wir könnten hier alle Probleme bekommen, wenn jemand anfängt, die falschen Fragen zu stellen.«
»Zum Beispiel, ob ich hier arbeite.«
Er atmete langsam und gedehnt aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich sehe, wir verstehen uns.«
Jemand klopfte an der Tür und trat gleich darauf ein. Doktor Grahmer war ein großer, ungewöhnlich hagerer Mann. Er hatte hellbraunes Haar, das an den Schläfen bereits ergraute, obwohl er kaum älter als dreißig sein konnte. »Schwester Falkenberg, ich erinnere mich.« Er lächelte schmal und zwinkerte verschmitzt. »Wir werden Herrn Alfjorow finden. Ich konnte herausfinden, wo er untergebracht ist.«
»Oh, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Haben Sie in
Erfahrung bringen können, wie es ihm geht?«
»Nein, bislang habe ich mich nur vorsichtig umgehört, und dann tauchte sein Name auf der Liste der Männer auf, die ich mir ansehen sollte.«
Svantje erhielt eine eigene Tasche mit Verbandszeug, Medikamenten und Salben. Angeblich verfügten die Gefängnisse und Polizeistationen über eigene Ausstattung, zögerten aber damit, sie für die Inhaftierten zu verwenden. Als sie schließlich auf dem Weg waren und in einem kleinen Einspänner saßen, schwand Svantjes Anspannung langsam. Die erste Tageshälfte würde sie damit verbringen, Unbekannte zu versorgen. Menschen helfen, das konnte sie. Auch die vier Jahre, die sie nicht mehr im Klinikum gearbeitet hatte, änderten daran nichts.
Grahmer musterte sie unauffällig. »Ich muss gestehen, bei jeder anderen Schwester hätte ich Bedenken gehabt, sie mitzunehmen. Doch Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus.«
Das ließ Svantje aufhorchen. »Ich wüsste nicht, was mich von meinen Kolleginnen unterscheidet.«
»Sie haben mit Schawacht eine der Cholerabaracken geleitet, soweit ich weiß. Sie haben Elend gesehen.«
»Ich denke, Sie unterschätzen uns Frauen. Wir sind Leid gewohnt, vielleicht mehr als Männer. Natürlich würde sich eine feine Dame nicht in ein heruntergekommenes Viertel wagen und Obdachlose versorgen. Aber das würde wohl auch kein Händler oder Kaufmann.«
Der junge Arzt erwiderte nichts. Sie versuchte, in seinem Gesicht abzulesen, ob er schwieg, um sie nicht zu brüskieren, oder weil er um eine Antwort verlegen war.
Doch der Grahmer, der nun vor ihr saß, war nicht mehr der Student, den sie vor Jahren kennengelernt hatte. In seiner Zeit als Arzt hatte er gelernt, eine Maske zu tragen, die seine wahren Gefühle verbarg. Um dahinterzublicken, kannte sie ihn nicht gut genug.
Sobald sie auf den Innenhof des ersten Gefängnisses fuhren, begann Svantje zu frieren. Es war, als läge ein Schatten über dem Komplex.
Sie wollte aussteigen, doch Grahmer hielt sie kurz am Arm fest. Sobald sie innehielt, ließ er sie los. »Ignorieren Sie, was Sie gleich hören. Manche dieser Männer haben seit Jahren keine Frau mehr gesehen, erst recht keine hübsche wie Sie.«
»Suchen Sie keine Entschuldigung für diese Kerle. Nichts rechtfertigt es, eine Frau zu behandeln wie ein Stück Fleisch, auf das man Appetit hat. Gar nichts.«
»Sie haben ja recht. Ich hatte nicht vor, Ihre Gefühle zu verletzen, sondern Sie vorzuwarnen. Gehen wir.«
Sobald Svantje ausstieg, war es mit der Ruhe im Innenhof vorbei. Sie versuchte, die Ohren vor den widerlichen Rufen zu verschließen, vor Pfiffen und Angeboten, was die Männer mit ihr machen würden, wenn sie die Chance dazu bekämen.
Zwei Gefängniswärter eskortierten sie hinein, und erst nachdem sich die Tür schon eine Weile hinter ihnen geschlossen hatte, versiegten die Rufe und Pfiffe.
»Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich eingelassen haben«, brummte der kleinere der Wärter, ein ungepflegter, schmaler Mann, dem die Uniform um den Leib schlackerte, als sei sie zu groß. Svantje überließ es dem Doktor zu antworten. Der schwieg dazu und sagte nur: »Gehen Sie voraus, wir haben einen eng gesteckten Zeitplan.«
In den nächsten beiden Stunden liefen sie von Zelle zu Zelle und behandelten eine breite Palette von Krankheiten und Verletzungen. Es gab schwer Lungenkranke, deren Leiden Svantje allzu bekannt war von den Armen, die in schimmligen, nassen und überfüllten Häusern lebten. Zwei Männer litten unter Brüchen. Während der eine zugab, sich den gebrochenen Arm bei einer Schlägerei mit einem Mitgefangenen zugezogen zu haben, schwieg der andere über seinen zertrümmerten Fuß. Svantje riet dem Wärter, die Verletzung ganz genau zu beobachten, denn die Haut war verletzt, und es bestand die Gefahr, dass die Wunde brandig wurde. Das konnte den Mann das Körperteil und im schlimmsten Fall das Leben kosten.
Viele der Männer waren nur für die Behandlung in Einzelzellen untergebracht worden. Ihre Strafe verbüßten sie in Massenunterkünften, die auf Svantje wie Käfige wirkten. Auf drei Seiten Gitterwände, mehrere Eimer für die Notdurft. Eine Wand mit einem kleinen, vergitterten Fenster. Es stank erbärmlich.
Svantje schätzte, dass sich zwischen fünfzehn und dreißig Männer eine Zelle teilten. Die Glücklicheren hatten Stockbetten, für die anderen gab es strohgefüllte Säcke und Decken. Nichts davon schien in
ausreichender Menge vorhanden zu sein, sodass sich die Häftlinge beim Schlafen abwechseln mussten. Sie trugen die Kleidung, in der sie verhaftet worden waren, wohl auch noch Jahre danach. Es glich einem Wunder, dass keine Seuchen grassierten.
Ein alter Häftling hatte sich wund gelegen, andere zeigten schwere allergische Reaktionen auf Floh- oder Wanzenbisse.
Svantje verbrauchte fast sämtliche Arzneimittel, die in ihrer kleinen Tasche waren, und erst als sie wieder in die Kutsche stiegen, wurde ihr klar, dass sie nun womöglich nicht mehr genug hatte, um Wassili zu versorgen, falls er verletzt war.
Die Tasche auf dem Schoß, machte sie hektisch Inventur, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ihr Begleiter beobachtete sie genau bei ihrem Tun.
»Was fehlt Ihnen?«, seufzte er schließlich und schob mit dem Fuß eine Kiste zu ihr hinüber. Der Inhalt klirrte, und schon das Geräusch verriet Svantje, dass die Kiste randvoll mit Apothekerfläschchen sein musste. Sie schlug den Deckel zurück und sah fragend zu Doktor Grahmer.
»Bedienen Sie sich«, sagte er mit einer einladenden Handbewegung. »Aber gehen Sie sparsam damit um, mehr habe ich für diesen Monat nicht.«
»Diesen Monat?«
»Hat Doktor Schawacht Ihnen nicht erklärt, was ich mache?«
Als sie den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Ich sammle Spenden bei wohlhabenderen Patienten und bei dem ein oder anderen Apotheker. Die Kutsche stellt mir ein Kollege zur Verfügung. Dies ist mein freier Tag. Ich besuche die Gefängnisse ehrenamtlich einmal die Woche. Sie glauben doch nicht, dass irgendjemandem am Wohl der Gefangenen gelegen ist. Sie sind der Abschaum der Gesellschaft. Für die Armen hat mancher sicher noch ein Herz, aber für Verbrecher? Niemals. So manch ein rechtschaffener Bürger wünscht sicherlich heimlich, dass die Gefangenen einfach so verrecken, verschwinden oder zumindest nie wieder freigelassen würden.«
»Ich dachte, Sie würden dafür bezahlt«, sagte Svantje. »Sie haben meinen größten Respekt, und falls ich irgendwie helfen kann? Ich würde mich gerne revanchieren.«
»Ein Gefängnis ist doch kein Ort für eine Frau«, erwiderte Doktor
Grahmer im Brustton tiefster Überzeugung.
Svantje ignorierte seine Bemerkung. Dieser Mann war mit seiner Einstellung nicht allein, und sie hatte derlei Aussagen zur Genüge in den verschiedensten Ausführungen gehört. »Ich würde Sie dennoch begleiten, sooft es mir möglich ist. Und brauchen Sie Geld? Für Medikamente, meine ich?«
Er musterte sie irritiert. »Ich denke nicht, dass eine einfache Krankenschwester genug verdient …«
Sie hob die Hand, lächelte. »Meinem Mann gehört ein international tätiges Unternehmen, Doktor Grahmer, und ich habe einflussreiche Freunde. Ich möchte helfen.«
Seine Augen leuchteten auf. »Reden wir später darüber, in wenigen Minuten sind wir an unserem nächsten Ziel. Im Vergleich dazu war das erste Gefängnis ein Spaziergang. Bei den Wärtern hier sitzt der Schlagstock etwas lockerer.«
Svantje unterdrückte ihre aufwallenden Gefühle und sagte nur: »Dann weiß ich, mit welcher Art Wunden wir es zu tun bekommen werden.«
In den nächsten beiden Stunden schienten sie ein Bein, versorgten mehrfach wund geschlagene Fußsohlen und Schnitte. Dennoch nahm Svantje den Imbiss, den sie sich weit nach der Mittagsstunde gönnten, mit Appetit ein. Während der Choleraepidemie hatte sie gelernt, jede Gelegenheit zu nutzen, um sich auszuruhen oder zu stärken. Der Anblick von Elend schlug ihr nicht auf den Magen.
Während sie aßen, konkretisierte sie mit Grahmer ihre Pläne, seine Sache zu unterstützen. Svantje wusste, dass auch Hilde bereit sein würde, eine regelmäßige Summe zu spenden. Es interessierte Walter nicht, ob sie sich das zehnte neue Kleid in diesem Jahr kaufte oder das Geld in etwas anderes investierte, solange seine Frau nur zufrieden war.
Jedes Mal wieder, wenn Svantje an die Ehe ihrer Freundin dachte, musste sie bei dem Gedanken an die wundersamen Bande zwischen Hilde und Walter lächeln. Hilde liebte ihren Mann nicht, und doch lebten sie harmonisch miteinander, vereint durch die Liebe zu ihren Kindern, von denen Walter doch wusste, dass sie nicht von seinem Blut waren.
Zügig beendete Svantje ihre Mahlzeit. Der Gedanke an Hilde hatte sie
eine Weile abgelenkt, nun wurde sie wieder unruhig. Sie wollte endlich zu Wassili.
Grahmer zahlte, und schon saßen sie wieder in der Kutsche. Ihr Begleiter erkundigte sich noch einmal, ob sie wirklich Spenden auftreiben könne. Er schien wie trunken von der Aussicht, endlich genug Geld zu haben, um sein Ehrenamt zu finanzieren. Für ihn hatte es sich bereits jetzt gelohnt, das Wagnis einzugehen, Svantje mitzunehmen.
Am frühen Nachmittag erreichten sie eine Polizeistation, an die ein kleines Gefängnis angeschlossen war. Hier wurde zum ersten Mal Svantjes Anwesenheit infrage gestellt, doch Grahmer setzte schnell durch, dass sie mitkommen konnte.
Die Polizisten auf dieser Wache waren anders als jene, die sie bislang kennengelernt hatte. Nur wenige Gendarmen trugen Uniformen. Die meisten waren gekleidet wie der Durchschnitt von Hamburgs Bevölkerung. Während einige an einfache Bürger erinnerten, sahen andere aus wie Arbeiter. Einer trug sogar die Uniform eines Seemanns der Marine. Er schob einen Kerl in Handschellen vor sich her, dessen zugeschwollenes Auge darauf hinwies, dass er versucht hatte, sich der Verhaftung zu entziehen.
Svantje stieß Doktor Grahmer an und wies auf den Mann. »Warten Sie hier«, sagte er leise und verwickelte den Polizisten in Matrosenuniform in ein Gespräch. Dessen Gefangener schwankte, und Svantje musste sich zusammennehmen, nicht hinzulaufen und ihn zu stützen. Nach einer kurzen Diskussion bekam der junge Arzt die Erlaubnis, ihn zu untersuchen. Er führte den Mann zu einem Fenster und besah das Auge genau. Als er zu Svantje zurückkehrte, sah sie ihn fragend an. »Nichts, was der Körper nicht aus eigener Kraft heilen könnte. Die Iris schien nicht verletzt.«
Er fasste sie am Arm und führte sie in einen schlichten Flur. Die Backsteinwände waren in der oberen Hälfte weiß gestrichen, in der unteren grau. Es gab viele Türen mit schweren Riegeln. Alle waren geschlossen. Massenunterkünfte sah sie hier nicht. Hinter einer Tür hörte Svantje einen Mann stöhnen, und es lief ihr eisig den Rücken hinab. Wo war sie hier nur hineingeraten?
Sie spannte die Schultern an. Ganz gleich, was sie in diesem Gebäude zu sehen bekam, ihr Ziel würde sie nicht aus den Augen verlieren. Sie
musste Wassili Alfjorow aufspüren und schlussendlich einen Weg finden, seine Unschuld zu beweisen.
Wassili dämmerte vom Traum in die Ohnmacht und zurück. Die Ohnmacht war ihm lieber, denn dann konnten ihm weder Schmerz noch Verzweiflung etwas anhaben.
Seit diesem Morgen war die Erlösung in Form der Bewusstlosigkeit nicht gekommen. Sein Geist kreiste um den Schmerz. Längst wusste er nicht mehr, seit wie vielen Tagen er eingesperrt war, doch zwei Wochen waren mindestens verstrichen. Die Hoffnung freizukommen, hatte er aufgegeben. Er würde in dieser Zelle sterben.
Die Männer, die ihn folterten, verhörten ihn nicht. Sie quälten ihn nur, als würde es ihnen Freude bereiten. Anfangs hatten sie versucht, ihm ein Geständnis abzuringen. Damals war er noch stark gewesen. Hatte geleugnet, sich mit Männern einzulassen, keinen einzigen Namen genannt. Ihnen war wohl schnell klar geworden, dass sie keinen russischen Spion gefangen hatten.
Mittlerweile hätte Wassili alles gestanden. Er wollte einfach, dass es vorbei war. Selbst für einen schnellen Tod wäre er bereit gewesen, alles zu unterschreiben, was sie wollten. Doch sie stellten keine Fragen mehr.
Sie schlugen ihn, auf den Kopf, auf die Finger und die Zehen. Sie verspotteten ihn, während sie ihn festhielten und sich mit einem Schlagstock an ihm vergingen. Er sollte lustvoll stöhnen, erst dann hörten sie auf. Irgendwie war es ihm gelungen, das gewünschte Geräusch hervorzubringen, oder seine Peiniger hatten Langeweile bekommen, weil der Schmerz ihrem Opfer die Besinnung geraubt hatte. Das geschah nun öfter, seitdem Wassili aufgehört hatte zu essen und seinem Leib nach und nach die Kraft verloren ging, die ihn ans Leben fesselte. Noch hatten seine Folterer nicht gemerkt, dass er die Suppe und die Grütze, die er täglich bekam, unter seine Ausscheidungen in dem Eimer mischte, der für seine Notdurft bereitstand. Für das harte, kaum essbare Brot hatte er einen dankbaren Abnehmer gefunden. Die Nebelkrähe, die seit seinem ersten Tag in dieser Zelle hin und wieder durch das vergitterte kleine
Fenster spähte, trug in ihrem kräftigen Schnabel ganze Scheiben davon. Das Tier bei seinem Treiben zu beobachten war die einzige angenehme Abwechslung, die Wassilis neuer Alltag bot.
Heute hatte er kaum die Kraft gefunden, aufzustehen und das Brot auf das Sims zu legen.
Mit einem schmerzvollen Seufzen ließ Wassili sich wieder auf seine Pritsche sinken, genoss den kurzen Schwindel und legte sich hin. Sobald ihm nicht mehr schwarz vor Augen war, richtete er seinen Blick auf das Fenster, wo jeden Moment sein gefiederter Freund und Komplize auftauchen sollte. Die Krähe kannte die Essenszeiten mittlerweile genau.
Wassilis Magen knurrte. Sein Körper verstand die Entscheidung nicht, die sein Geist getroffen hatte. Der Körper war wie ein Tier, das sich mit Klauen und Zähnen auch an den letzten Lebensfunken klammern würde. Ihm stand ein harter Kampf bevor.
Der Vogel kam, bedankte sich mit einem Krächzen und flog mit seiner Beute davon. Erleichtert schloss Wassili die Augen. Er schlief ein, träumte von seiner Frau, die er nicht liebte, und fragte sich, ob er ihr Unrecht getan hatte. Er war stets freundlich zu ihr, es war ihm sogar gelungen, wie Mann und Frau mit ihr zu liegen … wenn er betrunken war und dabei an Richard dachte. Ja, er war schlecht zu ihr gewesen. Wenn er starb, würde wenigstens sein Erbe bis ans Ende ihres Lebens für ein gutes Auskommen sorgen.
Nein, entschied er, so schlecht war er nicht zu ihr gewesen. Nicht schlecht genug, um das hier verdient zu haben.
Schritte auf dem Flur. Kalter Schweiß brach ihm aus. Schritte auf dem Flur, außerhalb der Zeiten, in denen Essen gebracht wurde, konnten nur eines bedeuten: Schmerz. Wassili hoffte, dass der bittere Kelch an ihm vorübergehen würde. Es gab noch andere Gefangene hier. Er hatte sie schreien, jammern und betteln hören. Einer hatte nachts nach seiner Mutter geweint wie ein kleines Kind. Ein anderes Mal hatte er jemanden beten hören.
Wassilis Atem stockte, und er war schlagartig hellwach. Die Schritte waren lauter geworden und dann abrupt abgebrochen.
Sie standen vor seiner Tür. Sein Atem wurde schnell und flach. Er hatte den dringenden Wunsch, sich zu verstecken, winzig zu werden wie die Fliege an der Wand.
Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht, und die Metalltür schwang auf. »Der hier ist auch etwas mitgenommen«, sagte eine Stimme, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Beeilen Sie sich!« Schlurfende Schritte. Wassili kniff die Augenlider zusammen. Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht, bitte …
Die Stimme in seinem Kopf drehte sich im Kreis.
»Herr Alfjorow?«, fragte ein Mann und klang dabei beinahe freundlich. Hatten sie sich eine neue List einfallen lassen, um ihn zu quälen?
Die schwere, eisenbeschlagene Holztür fiel ins Schloss, der Schlüssel wurde herumgedreht, und Wassili öffnete zögernd die Augen. Fremde. Nein, vertraute Gesichter! Wie war das möglich?
Svantje Falkenberg kniete sich neben ihn. Eine Hand auf eine lederne Tasche gestützt, berührte sie ihn am Arm. Seine Instinkte übernahmen das Regiment, und er zuckte zurück, obwohl er nicht wollte. Von ihr drohte keine Gefahr. Sie war nur eine wundervolle Illusion. »Wassili, wie geht es Ihnen?«, flüsterte sie und blickte über die Schulter zur Tür, als habe sie Angst, gehört zu werden.
Er lächelte träge. Eine wirklich schöne Illusion. Lieber noch hätte er Richard gesehen, doch seinem Geliebten würde er erst in der Hölle wiederbegegnen.
Dieses Leben war verwirkt.
»Wassili? So sagen Sie doch etwas!«