12
Florian Harkenfeld war dreizehn Jahre alt und hatte neben den Gesichtszügen und der hohen Stirn auch den starren Blick des Vaters geerbt, der Hilde und Richard schon in frühen Kindertagen das Fürchten gelehrt hatte. Noch wirkte er eher wie ein verzogener, gelangweilter Junge, doch er hatte Potenzial, das wussten seine Lehrer zu berichten. Florian wurde in dem Bewusstsein großgezogen, eines Tages das Schiffsimperium des Vaters zu übernehmen, und der sorgte dafür, dass sein Jüngster das richtige Rüstzeug für diese Aufgabe besaß. Hatten anfangs Privatlehrer seine Ausbildung übernommen, verbrachte Florian nun die meiste Zeit in einem Internat.
Richard hatte seinen kleinen Bruder zuletzt vor sieben Jahren gesehen. Er erkannte die familiäre Ähnlichkeit, doch in Wahrheit saß dort ein Fremder. Als er selbst in Florians Alter gewesen war, war auch er selten zu Hause gewesen und sein Interesse am kindlichen Bruder daher gering.
Florian musterte ihn unverhohlen in einer Mischung aus Neugier und Abscheu.
Richard kannte von Hilde zumindest einige der Schauermärchen, die der Vater Florian aufgetischt hatte, um die Abwesenheit des Bruders zu erklären. Es mochte alles sein, nur eines war es ganz bestimmt nicht: die Wahrheit.
Heute war der dritte Tag, den Richard in seinem Geburtshaus verbrachte, doch der erste, an dem fast alle Familienmitglieder anwesend waren. Hilde hatte sie alle nur eine Woche nach ihrer Niederkunft mit Töchterchen Beatrix zu einem gemeinsamen Mittagessen gebeten, und da saßen sie nun.
Vaters Platz am Kopf der Tafel war verwaist. Richard hockte neben Hilde, der die Mütterlichkeit aus dem Gesicht strahlte, gegenüber Mutter und Florian. Der Vater würde nicht kommen. Er lag in seinem Krankenbett und rang um sein Leben. Zu seiner Herzschwäche hatte
sich eine Lungenkrankheit gesellt. Er bekam keine Luft mehr, und seine Atmung klang, als wäre Wasser hineingeraten.
»Und nun, Bruder?«, brach Florian das unangenehme Schweigen. »Wirst du dich über Vaters Willen hinwegsetzen und, noch bevor seine Leiche kalt ist, die Firma an dich reißen?«
Richard sah ihn fassungslos an. Langsam, seinen aufkeimenden Zorn bezähmend, erhob er sich, beugte sich über den Tisch. Florian stierte ihn an, in den Augen blitzte Kampfeslust. Früher hätte Richard vermutlich versucht, die Wogen zu glätten. Doch er war nicht mehr der schüchterne Harkenfeld-Junge, getrieben von Versagensangst, angesteckt von seiner Mutter, die stets einen leisen, friedlichen Ausweg aus jedem Konflikt suchte, viel zu oft auf ihre eigenen Kosten.
Er war Rittmeister der Dragoner, und er ließ sich nicht von einem verzogenen Jungen beleidigen.
Mit einer schallenden Ohrfeige beendete er den verbalen Schlagabtausch, bevor er begonnen hatte. Florian hatte nicht einmal versucht auszuweichen. Der Schlag traf ihn auf die Wange, und er fiel mitsamt dem Stuhl zu Boden.
»Florian! Richard!«, keuchte Mutter kreideweiß.
Richard strich seine Kleidung glatt und setzte sich, während sein Bruder verdattert auf die Beine kam. Hilde unterdrückte vergeblich ein Grinsen. Offensichtlich war sie der Meinung, dass es längst überfällig gewesen war, Florian eine Lektion zu erteilen.
»Wie konntest du nur«, grollte der. Er presste eine Hand auf die gerötete Wange und stellte den Stuhl wieder auf.
»Setz dich, kleiner Bruder. Wenn du dich nicht wie ein Erwachsener benehmen kannst, dann werde ich dich auch nicht wie einen behandeln. Und wage es nicht noch einmal, meine Ehre infrage zu stellen, nur weil du selbst keine besitzt.«
»Mutter! Nun sagen Sie doch etwas!«, protestierte Florian.
Sie schüttelte den Kopf. »Setz dich, Sohn.«
Florian ließ sich auf den Stuhl fallen. In seinen geröteten Augen schimmerten Tränen. Ob sie vom Zorn oder Schmerz herrührten, würde sein Geheimnis bleiben.
Richard seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Seine Handfläche brannte. Er rieb sie gedankenversunken über seinen Oberschenkel. Vermutlich sollte er Florians vorgebrachte Anklage
beantworten, um ihm und auch Hildes Mann keinen Anlass zur Sorge zu geben. Richard brauchte während seiner Zeit in Hamburg nicht noch weitere Probleme. Es war auch so schon schwierig genug, mit einem sterbenden Vater und dem Menschen, der ihm außer Hilde und Mutter am meisten bedeutete, im Gefängnis.
»Ich habe keinerlei Interesse an der Werft. Falls Vater tatsächlich etwas zustoßen sollte, stünde ich noch nicht einmal für eine Übergangsphase zur Verfügung.« Er hatte ein für alle Mal mit dieser Sache abgeschlossen. Seine Zukunft hatte er nie mit ganzem Herzen in der Werft gesehen, selbst zu der Zeit nicht, als der Vater ihn noch auf dem Posten haben wollte. Mittlerweile fühlte Richard sich wohler bei den Dragonern, als er je erwartet hätte. Er genoss die viele freie Luft, die Reiterei und sogar das Leben in der Kaserne. Hamburg kam ihm inzwischen zu eng und schmutzig vor. Nur einige wenige Menschen vermisste er.
Florian musterte ihn. Ihm lag eine Erwiderung auf den Lippen, doch er öffnete und schloss den Mund nur und schluckte sie hinunter. Eine weise Entscheidung.
»Was hat der Arzt gesagt, Mutter? Er war doch heute da. Sollten wir Vater in ein Krankenhaus bringen?«, fragte Richard.
Hilde ergriff das Wort. »Ich habe mit dem Doktor geredet. Er sagt, es mache keinen Unterschied, ob der Vater hier oder in einer Klinik untergebracht ist. Der Transport könnte seinen Zustand allenfalls verschlechtern.«
»Also können sie Vater nicht helfen.«
»Nur Gott kann ihm noch helfen und sein eiserner Wille, mit dem er sich ans Leben klammert. Die Schwester, die ihn pflegt, ist sehr erfahren. Sie weiß, welche Medikamente er wann zu sich nehmen muss.«
»Dann können wir also nur warten und hoffen«, seufzte Mutter.
»Ich muss mit Vater sprechen«, sagte Richard. »Ich werde versuchen, ihn nicht aufzuregen. Aber wenn ich jetzt nicht mit ihm rede, habe ich vielleicht niemals wieder die Chance dazu.«
»Richard! Er weiß doch gar nicht, dass du hier bist!«, protestierte seine Mutter. Hilde dagegen sah ihn nur wissend an. Der Sterbenskranke besaß wahrscheinlich den Schlüssel zu Wassili Alfjorows Freiheit und würde ihn womöglich mit ins Grab nehmen.
Richard ging zu seiner Mutter und küsste ihre Wange. »Wollen Sie denn nicht, dass wir uns versöhnen?«
»Natürlich, mein Junge.«
»Dann muss ich das Risiko eingehen.«
Er wartete nicht auf eine Reaktion seines jüngeren Bruders und blickte sich auch nicht noch einmal um, als er den Weg ins elterliche Schlafzimmer antrat. Seit seiner Abreise aus Flensburg hatte er versucht, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Waren der Hass und die Enttäuschung seines Vaters so groß, dass er nicht einmal auf dem Sterbebett verzeihen konnte?
Richard trat leise ein. Schon mehrere Male hatte er in den vergangenen Tagen durch die offen stehende Tür gelugt, wenn Mutter bei Vater war, sich aber nie näher herangewagt.
Nun ging er zum Fuß des Bettes. Obwohl das Fenster offen stand, roch es nach Krankheit. Der Mann, der dort unter den Decken lag, besaß kaum Ähnlichkeit mit dem vertrauten Familienoberhaupt. Sein Gesicht war von gräulichem Ton und schmal, Nase und Ohren wirkten größer, als Richard sie in Erinnerung hatte. Unter den Augen lagen deutliche Schatten.
Es war bestürzend, den Vater so zu sehen. Richard setzte sich und lauschte dem rasselnden Atem, der so angestrengt klang, als würde sich die Brust bei jedem Heben gegen Bleigewichte stemmen. Ja, dieses Mal war es ernst. Richard konnte es nicht genau festmachen, aber er spürte, dass es keine Genesung geben würde. Vater starb.
In den vergangenen Jahren hatte er für diesen Mann nur schlechte Gefühle übriggehabt. Sie schwanden zwar nicht, doch sie zogen sich zurück, wurden dumpf wie der Schmerz einer alten, längst vernarbten Wunde. Und plötzlich wurde Richard klar, dass er sich wirklich versöhnen wollte. Das letzte Gespräch sollte nicht als jenes in Erinnerung bleiben, bei dem Vater ihn aus der Familie geworfen hatte.
Er musterte die starken, knotigen Hände, die auf der weißen Bettdecke ruhten, und berührte den Kranken schließlich an der Schulter.
»Vater«, sagte er leise. »Hören Sie mich?«
Der rasselnde Atem stockte kurz, dann wurde er schneller und verriet, dass der Kranke erwachte. Er stöhnte. »Wer ist da?«
»Ich bin es. Richard.«
»Richard?«
»Ihr ältester Sohn.«
»Ich habe nur einen Sohn, und der heißt Florian.« Die Stimme des Vaters klang fremd, doch die Schärfe seiner Worte war es nicht. Er blinzelte, rieb sich die verklebten Augen. Sie waren ein wenig trüb. Suchend irrte sein Blick umher. Aus seiner Position konnte er nur die Zimmerdecke und das Fenster neben sich sehen. Richard verspürte den Impuls, sich feige davonzustehlen, doch er blieb, rückte näher ans Bett und in Vaters Sichtfeld.
»Du wagst es …«
»Ich möchte nicht, dass wir im Streit auseinandergehen.«
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Ich … ich kenne dich nicht mehr!« Die letzten Worte waren laut. Der Vater begann zu husten, presste die Hände auf die Brust. Bekam keine Luft mehr. Richard sprang vom Stuhl und richtete seinen Vater auf. Dessen Kopf war hochrot, als er endlich wieder atmen konnte.
»Wasser«, sagte er pfeifend, und Richard hielt ihm das Glas an den Mund. Der Alte verschluckte sich mehrfach. Schließlich sank er mit einem Seufzen in die Kissen und schloss die Augen.
Richard wartete einen Moment lang, um sicherzugehen, dass Vater nur in einen Erschöpfungsschlaf sank und er nicht Zeuge von etwas Schlimmerem wurde, dann verließ er das Zimmer.
Hilde erwartete ihn im Flur und sah ihrem Bruder sofort an, dass er keinen Erfolg gehabt hatte. »Versuch es morgen noch einmal«, sagte sie leise.
»Er will mich nicht sehen.«
»Na und? Ob er will oder nicht, den Sturkopf haben wir doch alle von ihm geerbt.«
Richard legte ihr einen Arm um die Schulter und drückte sie kurz. »Wassili hat nicht verdient, dass Vater seine Enttäuschung über mich an ihm auslässt«, flüsterte er.
»Vielleicht gelingt es Svantje, ihn zu finden. Sie sagte, sie habe eine Spur«, warf Hilde ein.
»Ich hoffe es.«
Wassili war dem Tode näher als dem Leben. Der Anblick des vertrauten Mannes hatte Svantje sprachlos gemacht. Er war kaum noch wiederzuerkennen. Die verdreckte Kleidung schlotterte um seinen mageren Leib. Die Nase war gebrochen und schief, ein Auge zugeschwollen. Wo sie auch hinsah, gab es Verletzungen, manche oberflächlich, doch viele bereiteten ihr Grund zur Sorge.
Wassili erkannte sie nicht. Sie nahm seine Temperatur. Er hatte Fieber, das vielleicht von einer Entzündung stammte, doch sie konnte noch nicht erkennen, von welcher der zahlreichen Wunden es ausging.
Gemeinsam mit Doktor Grahmer hatte sie als Erstes die Verletzung an seinem Hinterkopf untersucht, die ihr am schwerwiegendsten erschien. »Das muss genäht werden«, sagte der Arzt und schlug mit der Faust gegen die Tür.
Kurz darauf wurde sie aufgeschlossen, und ein bulliger Wärter lugte herein. »Was ist denn?«, knurrte er.
»Wir brauchen Wasser, einen sauberen Lappen und Seife. Schwester Falkenberg wird mit Ihnen gehen und alles herbringen.«
»Ich bin doch nicht Ihr Laufbursche.« Der Wärter wollte die Tür wieder schließen, doch Svantje stellte energisch ihren Fuß dagegen. »So wie dieser Mann aussieht, könnte ich bei Ihren Vorgesetzten eine Beschwerde einreichen«, sagte Grahmer ruhig. »Möchten Sie das?«
»So mall
kann es doch nicht sein.«
»Sehen Sie selbst«, forderte Svantje.
Widerwillig lugte der Mann um die Ecke und hob überrascht die Brauen. »Dunners!
Die haben es übertrieben«, brummte er kaum hörbar. Konnte es sein, dass einige Wächter die Gefangenen ohne das Wissen der anderen folterten? Der Mann hatte ehrlich überrascht gewirkt. Er nahm die Kappe vom Kopf, kratzte sich das dünne Haar und setzte sie wieder auf.
»Dann komm, Mädchen«, sagte er konsterniert. Svantje ließ die Herabwürdigung unkommentiert und folgte ihm in einen Wachraum, wo mehrere Wärter Karten spielten. Als Einsatz diente etwas Kleingeld.
Svantje bekam einen Blecheimer ausgehändigt, dazu ein neues Stück Seife, noch eingewickelt in Papier. »Water
gibt es da vorne.« Ihr Begleiter wies auf einen Hahn und setzte sich an den verwaisten Platz am Kartentisch. Svantje füllte den Eimer, während sie die Blicke der
Männer wie Messer im Rücken spürte. Einige von ihnen, vielleicht sogar alle, folterten die Gefangenen, und es blieb ohne Konsequenzen. Verletzungen wie in dieser Anstalt hatte sie in den anderen nicht gesehen. Wassili hatte es mit am schlimmsten getroffen.
»Von der würd ich mich ok
mal einseifen lassen«, feixte ein Wärter und stierte Svantje an, als könne er durch ihre Schwesterntracht bis auf die Haut schauen. Hoffentlich würde sie einem Mann wie ihm niemals allein oder im Dunkeln begegnen.
Svantje zerrte ein Handtuch von einem Stapel, und mit einem Gefühl, als würde ihr ein Stein im Magen liegen, eilte sie zu der Zelle zurück. Erst als sie Grahmer an ihrer Seite hatte, fühlte sie sich wieder sicher. »Ein schauriger Ort.«
»Ja, einer, den man am liebsten niemals von innen sehen möchte. Und doch sind wir hier …«
»… um zu helfen«, ergänzte Svantje. Grahmer hatte vorsichtig Wassilis Kopf rasiert. Nur eine kleine Stelle, damit sie die Platzwunde besser reinigen und nähen konnten. Sie arbeiteten gut zusammen. Das hatten sie schon früher, als Grahmer noch Doktor Schawachts Assistent gewesen war.
Wassili stöhnte leise, als der letzte Faden verknotet wurde. Svantje hockte sich augenblicklich so hin, dass er sie sehen konnte, und strich ihm über die Wange. »Wassili? Hören Sie mich? Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
Sie strich ihm über die Stirn, wie sie es bei ihrem kleinen Sohn tat, wenn er Angst hatte, und ebenso wie Clemens wurde auch Wassili umgehend ruhiger. Die Schultern, die vor einem Moment noch gezittert hatten, entspannten sich. Schließlich öffnete er die Augen. »Friedrichs wunderschöne Frau«, flüsterte er. »Ich muss träumen.« Dann huschte sein Blick über verdreckte Zellenwände. »Nein, ich träume nicht.«
»Herr Alfjorow, ich bin Doktor Grahmer, wir haben Ihren Kopf versorgt. Wo tut es Ihnen noch weh?«
»Doktor?« Wassilis Atem rasselte. »Mir tut alles weh.«
»Können Sie sich aufsetzen?«
Svantje fasste ihn unter einem Arm, bis er auf seiner Decke sitzend an der Wand lehnte. Wassilis Gesicht war schneeweiß, die Lippen blass und aufgesprungen. Svantje berührte ihn am Arm, nahm ein
Stückchen Haut zwischen zwei Finger und zog es hoch. Als sie es losließ, blieb die Falte eine Weile stehen, bevor sich die Haut wieder glättete.
»Habe ich es mir doch gedacht. Sie müssen trinken. Ihr Körper ist so ausgetrocknet, als hätten Sie soeben die Wüste durchquert. Gibt man Ihnen nichts zu trinken?« Svantje entdeckte eine Zinnkanne und einen Becher. Sie goss etwas ein und hielt es ihm an die Lippen. Wassili drehte den Kopf weg.
»Sie müssen trinken!«, drängte nun auch Doktor Grahmer.
»Nein, ich will nicht mehr.«
Svantje wusste sofort, was seine Worte bedeuteten. »Geben Sie sich nicht auf! Jetzt, da ich Sie gefunden habe, komme ich häufiger her. Wir holen Sie hier heraus, verstanden? Friedrich tut, was er kann. Verlassen Sie sich auf Ihre Freunde, Wassili!«
Nun blickte er sie zum ersten Mal direkt an und erinnerte dabei an ein waidwundes Tier, das sich seinem finalen Schicksal längst ergeben hatte. »Sie schlagen mich tot, bevor der gute Friedrich irgendetwas erreichen kann.«
»Herr Alfjorow, hören Sie zu. Ich bin Arzt und werde einen Bericht über Ihre Lage anfertigen und an höhere Stellen leiten. Kein Gefangener darf so verhört werden«, sagte Grahmer entschieden. »Ich wünschte, Sie hätten recht, Herr Doktor. Aber ich werde nicht verhört. Man stellt mir keine Fragen. Sie kommen einmal am Tag, manchmal auch zweimal, und quälen mich. Das ist alles. Es gibt keine Fragen. Einen Richter habe ich niemals zu Gesicht bekommen.«
»Das ist doch unerhört!«, echauffierte sich Grahmer. »Dann werden Sie erst recht schnell freikommen!«
»Sind Sie da sicher?« In Wassilis Augen blitzte ein Hoffnungsfunke.
Grahmer nickte mit zusammengepressten Lippen. »Kennen Sie die Namen Ihrer Peiniger?«
Wassili schüttelte den Kopf. »Nein. Es sind zwei, immer dieselben. Sie haben es auf mich abgesehen.«
Svantje überlegte. Diese Männer … hatten sie womöglich eine alte Rechnung mit ihrem Opfer offen, von der Wassili nichts wusste? Oder waren es einfach nur gewalttätige Barbaren, die sich an den Gefangenen vergingen? Sie hielt Wassili den Wasserbecher hin. »Bitte, trinken Sie! Für mich.«
Er zögerte, doch schließlich leerte er den Becher.
So gut sie konnten, versorgten sie seine wund geschlagenen Hände und Füße. Er schien Schmerzen im Unterleib zu haben, doch sie fanden keine Spur von Schlägen. Als schließlich ein Wärter die Tür öffnete, hatten sie sämtliche Untersuchungen abgeschlossen.
Wortlos trat Svantje an dem Wärter vorbei. In ihr kochte es, doch gegenüber den Uniformierten fühlte sie sich hilflos. Wenn sie sich jetzt etwas anmerken ließe oder den Wärtern mit Konsequenzen drohte, würden die ihren Unmut an Wassili auslassen. Grahmers Versprechen, eine Lösung zu finden, überzeugte sie nicht. Er hatte keine Autorität über die Wärter, genauso wenig wie sie selbst. Ganz im Gegenteil war er auf deren Kooperation angewiesen, um überhaupt zu den Inhaftierten vorgelassen zu werden.
Die Tür fiel zu und wurde verriegelt. Svantje hatte Wassili nicht noch einmal angesehen. Dann wäre ihre Fassung dahin gewesen, und sie hätte ihn verraten. Denn offiziell kannten sie den Gefangenen nicht persönlich.
Sie hatten sich in Bewegung gesetzt, ohne dass es ihr bewusst war. Nun strich der graue Flur an ihnen vorbei. Anonyme Zellentüren. Hinter jeder war ein Schicksal verborgen.
»Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen«, sagte Doktor Grahmer plötzlich, als sie in der Wachstube angekommen waren.
»Und warum das?«
»Weil Sie beinahe einen Mann umgebracht haben, der Ihrer Obhut anvertraut ist. Und jetzt bringen Sie mich zu ihm!«
Svantjes Herz klopfte laut, und sie sandte ein stilles Gebet hinauf. Vielleicht kannte Doktor Grahmer doch einen Weg.
»Gut gemacht, Alberts!« Der Schiffbaumeister schlug Raik anerkennend auf die Schulter. Eine freundliche, aber ruppige Geste, die einen anderen womöglich in die Knie gezwungen hätte. »Kommen Sie doch am Sonntag zu mir nach Hause, dann feiern wir unseren kleinen Triumph.«
Raik sagte zu. Er mochte Meister Geldern, er war ein guter Handwerker und stets gerecht zu seinen Gesellen und Auszubildenden.
Nachdem Raiks alter Meister Lech vor einigen Monaten in den Ruhestand gegangen war, hatte Raik Sorge gehabt, mit seinem Nachfolger womöglich nicht ebenso gut zurechtzukommen. Doch alle Befürchtungen hatten sich als unbegründet erwiesen. Geldern war ein echter Gewinn, nicht nur für die Werft, sondern vor allem auch für die Arbeiter.
Gemeinsam hatten Raik und Geldern sich in den vergangenen Wochen für eine Lohnerhöhung eingesetzt. Der Werft ging es gut, sie konnten sich vor Aufträgen kaum retten, und die Wirtschaft florierte, zumindest in Bereichen, die mit den ehrgeizigen Rüstungsplänen des Kaisers zusammenhingen.
Walter Degen, der gemeinsam mit sechs Beratern die Geschäfte führte, solange Harkenfeld mit einer Lungenentzündung darniederlag, hatte nur wenige Argumente gehabt, die Arbeiter nicht an der positiven Entwicklung zu beteiligen. Dennoch waren die Verhandlungen lang und anstrengend gewesen. Ohne Harkenfeld verliefen sie aber zumindest in anständigen Bahnen, mit wenig Geschrei und zumeist höflich.
Raiks ruhige, überzeugende Art war der Trumpf der Arbeitervertreter. Früher war er hitziger an die Sache herangegangen, aber er hatte dazugelernt. Vor einer Verhandlung feilte er oft nächtelang an jedem einzelnen Satz; überlegte sich für jedes Argument, das die Gegenseite womöglich vorbringen würde, gleich mehrere Erwiderungen und Lösungswege.
Mit Hildes Mann zu verhandeln war wie eine Schachpartie unter ähnlich starken Gegnern. Raik reizte der Konflikt. Dieses Mal hatten sie eine Lösung gefunden, bei der beide Seiten das Gesicht wahren konnten. Er hatte nur die Möglichkeit eines Streiks in die Waagschale geworfen, und schon waren sie an den Verhandlungstisch zurückgekehrt.
Jede Verzögerung in der Werft brachte die Aufträge in Gefahr, die sich wie an einer Perlenschnur aneinanderreihten. Mit dem Militär als Geldgeber konnte sich Harkenfeld kein Risiko mehr leisten, und das war der Trumpf, den die Arbeiter nun gegen die Werft in der Hand hatten.
Raik erreichte das Haus der Gelderns etwas früher als zur
verabredeten Zeit. Er hasste es, zu spät zu kommen. Er sah auf seine Taschenuhr und schob sie zurück in seine Weste. Neugierig musterte er das Gebäude. Es war kein Stadthaus, sondern stammte aus einer Zeit, als Hamburg noch viel kleiner gewesen war. Es besaß zwei Geschosse und einen recht üppigen Garten, der fast vollständig dem Anbau von Obst und Gemüse vorbehalten war. Dennoch fanden sich hier und da Stockrosen und blühende Kräuter. Zu beiden Seiten erhoben sich neuere Bauwerke, mehrgeschossige Wohnhäuser aus Rotklinker, die Fassaden bis auf einige farbige Formziegel ohne Schmuck. Auch das Haus der Gelderns war ein Rotklinkerbau. Das Tor war zugemauert und durch eine kleine Tür ersetzt worden, was Raiks Vermutung bestätigte, dass es sich einst um einen Bauernhof gehandelt hatte.
Er schlenderte auf und ab, sah noch einmal auf die Taschenuhr und bemerkte dann eine junge Frau im Garten, die offenbar noch schnell einige Kräuter schnitt. Das dunkelbraune Haar fiel ihr in einem langen, glänzenden Zopf über die Schulter. Sie trug ein schlichtes blaues Kleid und darüber eine weiße Schürze. Ob sich der Handwerksmeister eine eigene Köchin leistete?
Geldern war verheiratet, aber kinderlos, soweit Raik wusste. Um seine Schwiegertochter konnte es sich also nicht handeln.
Die Frau bemerkte ihn, schien kurz überrascht und winkte ihm dann zu. »Sind Sie Raik Alberts?«
»Ebender, ich bin etwas zu früh.«
»Das macht doch nichts, kommen Sie ruhig schon herein.« Sie wies auf ein Törchen, dass durch den hüfthohen Flechtzaun führte. Raik zögerte nicht, auch wenn es ihm seltsam erschien, bei einer Einladung durch die Hintertür zu gehen.
»Einen schönen Garten haben Sie hier, Frau …«
»… Stade, Johanna Stade. Nur einen Augenblick, ich bin sofort so weit.«
Raik verbeugte sich knapp. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.«
Sie schnitt Lauch und Kerbel. Um sie herum summten Bienen und Hummeln. Weiße Schmetterlinge tanzten über Salat und Kohl, und Raik ertappte sich dabei, die junge Frau zu mustern, die sein Alter haben musste oder etwas jünger war. Die gebückte Haltung war schuld, dass er ihr wohlgeformtes Gesäß bewunderte, das sich unter
dem Rock abzeichnete. Ihre Fesseln waren schlank und fein, die Arme kräftig, als scheue sie die Arbeit nicht. Mit geröteten Wangen und einem einnehmenden Lächeln richtete sie sich auf. Sie hatte wunderschöne graublaue Augen und hohe Wangenknochen, auf denen sich vereinzelt Sommersprossen zeigten.
Das Messer verstaute sie in einer Schürzentasche, die duftenden Kräuter behielt sie in der Hand. »Dort entlang, bitte«, sagte sie, und Raik bereute sofort, dass er vorausgehen musste und Johanna Stade aus dem Blick verlor. An der Tür wartete er, öffnete und ließ sie vorbei. Vor ihnen lag ein enger Gang, der sich in einen geräumigen Flur öffnete.
»Meister Geldern? Ihr Besuch ist da«, rief sie. »Ich ziehe mich solange in die Küche zurück. Wir sehen uns beim Essen, Herr Alberts.«
»Sehr gern, ich freue mich darauf.« Er blieb in dem weiten Eingangsbereich stehen und sah sich um. Der Raum war künstlich erweitert worden. Balken, die zuvor Zwischenwände getragen hatten, lagen nun bloß, waren blank geschliffen und geölt. Dazwischen standen mit Intarsien geschmückte Möbel, jedes eine Zierde. Raik verstand, was Geldern hier getan hatte. Er huldigte dem Werkstoff seines Handwerks in jeder Ausprägung, und Raik war sich sicher, in dem Haus auf weitere besondere Stücke zu treffen.
Der Schiffsbauer begrüßte ihn mit einem kräftigen Handschlag. Es war ungewohnt, ihn nicht in der Arbeitskleidung seiner Zunft zu sehen, sondern im bürgerlichen Sonntagsstaat. »Schön, dass Sie kommen konnten, mit Frau Stade haben Sie sich ja bereits bekannt gemacht, denke ich.«
»Ja, sie war so freundlich, mich über den Garten hereinzulassen. Ein wunderschönes Heim haben Sie hier, Meester.«
»Nicht so förmlich, Alberts, Sie sind hier unter Freunden. Das Haus stammt noch von meinen Großeltern. Ich versuche nur, es in Schuss zu halten.«
Er leitete Raik ins Esszimmer, das genauso eingerichtet war, wie er es erwartet hatte. Dunkle, polierte Bohlen auf dem Boden, verlegt in einem aufwendigen Fischgrätmuster. Am Rand verlief umlaufend eine Zierkante aus hellem und rötlichem Holz. Zwei Vitrinen stellten Geschirr und Silberwaren zur Schau. Der mächtige Tisch in der Raummitte war für vier Personen gedeckt und musste sich vor der
Tafel der Falkenbergs nicht verstecken.
Leinen, Silber und kostbares Porzellan, Kristallgläser, in denen sich das Kerzenlicht fing. »Meine Frau und Johanna werden mit uns essen. Es wird nicht mehr lange dauern.« Geldern goss Rotwein in zwei Gläser und reichte ihm eines.
Raik zögerte, ob seine Neugier angebracht war. »Frau Stade ist … Ihre Dochter?
«
Geldern schmunzelte und rieb sich den üppigen Backenbart. »Hätte Gott meine Ehe mit Kindern gesegnet, wäre ich stolz, ein Mädchen wie Johanna meine Tochter nennen zu dürfen. Aber nein … das Schicksal hat ihr übel mitgespielt und sie in unsere Arme gespült. Sie ist eine junge Witwe. Ihr Mann, ein Geselle eines befreundeten Zimmerers, starb aus heiterem Himmel.«
»En Havaree?«
Raik musste an die vielen Unfälle denken, derer er schon Zeuge geworden war.
»Nein. Der Blinddarm, sagen die Ärzte. Aber ganz gleich, was es war, Johanna stand plötzlich ohne alles da und mit einem kleinen Kind noch dazu. Meine Frau hat zuerst von ihrem Schicksal erfahren und wollte sie nicht auf der Straße stehen lassen. Wir hatten genug Platz, und so zog Johanna mit dem kleinen Jonte bei uns ein. Er ist für seine zwei Jahre ein sehr liebes Kind. Sicher ist es keine dauerhafte Lösung, doch Johanna ist meiner Frau eine gute Gesellschaft und eine große Hilfe im Haushalt.«
»Trotzdem, es ist sehr ehrenweert
von Ihnen.« Raik nippte an dem Wein. Er hatte wenig Ahnung davon, aber dieser schmeckte fruchtig und besaß eine gute Schwere, um in angenehmer Erinnerung zu bleiben.
»Setzen wir uns, ich denke, sie sind gleich so weit«, sagte Geldern und wies ihm den Platz an seiner Seite zu. Die Frauen würden ihnen gegenübersitzen.
Eine Weile plauderten sie noch über die Änderungen, die in der Werft bevorstanden, sollte es tatsächlich zu einem Führungswechsel kommen, dann öffnete sich eine Flügeltür, und die beiden Frauen kamen herein. Die ältere, eine mollige, fröhliche Natur, trug einen dampfenden Krustenbraten auf einer Platte, Johanna Stade brachte Salzkartoffeln und frisches Gemüse. Ihnen folgte in gemächlichem Schritt ein langhaariger, schwarz-weißer Kater, der erbärmlich
miaute.
Die Hausherrin machte eine abwehrende Geste, doch das Tier ließ sich nicht verscheuchen. Es setzte sich, gähnte lange und begann sich zu putzen.
»Dieser Unhold hat versucht zu stehlen!«
»Und er war sicherlich erfolgreich, Weib, weil du es zugelassen hast. Darf ich dir unseren Gast vorstellen? Das ist Raik Alberts, ein engagierter junger Gewerkschafter und erstklassiger Schnitzer.« Raik erhob und verbeugte sich und dankte für die Einladung.
Es wurde ausgeteilt, und am Tisch entwickelte sich schnell eine rege Unterhaltung über die Vor- und Nachteile, mit einer Katze zusammenzuleben. Die Gelderns erzählten Anekdoten, und Raik gab sich damit zufrieden, Johanna zu beobachten. Nun, da er von ihrem Verlust wusste, sah er ihr die Traurigkeit an. Doch wenn sie lachte, war es wie unverhoffte Sonnenstrahlen an einem trüben Tag. Ihm wurde das Herz leicht bei ihrem Anblick. Ob sie ihren Mann sehr geliebt hatte? Wie lange war sie wohl schon Witwe?
Er ertappte sich bei dem Wunsch, ihre Hand zu halten und ihr Haar zu berühren.
»Alberts? Alberts, haben Sie meine Frage gehört?«, drang Meister Gelderns Stimme plötzlich zu ihm durch. Er konnte gerade noch verhindern zusammenzuzucken.
»Unser Gast war gerade dabei, unsere liebe Johanna zu bewundern, nicht wahr?«, sagte die Hausherrin und lachte zart, wie es überhaupt nicht zu einer kräftigen Frau wie ihr passte.
»Ich … ich war in Gedanken«, stotterte Raik. »Was war denn de Fraag?
«
»Ob Sie uns ein wenig von Ihrem Werdegang erzählen möchten. Die Damen langweilen sich, wenn wir nur über Berufliches sprechen.«
Raik sammelte sich und kam seinem Wunsch nach. Er wollte, dass vor allem Johanna mehr von ihm erfuhr. Und so begann er von Anfang an. Er schönte nichts, aber er verschwieg die bittersten Details. Niemand musste wissen, dass seine Mutter eine Hure gewesen und seine Schwester ihrer Profession für einige Jahre gefolgt war. Aber sie durften wissen, dass er auf der Straße aufwuchs und erst durch die Güte von Svantje Falkenbergs Vater eine Chance bekommen hatte. Vater Claasen hatte ihn behandelt wie einen Sohn, ihm Essen
und Kleidung gegeben und ihm schließlich eine Lehrstelle bei Harkenfeld besorgt.
Johanna hatte an seinen Lippen gehangen und gelegentliche Zwischenfragen gestellt, nur einmal entschuldigte sie sich kurz, um nach ihrem schlafenden Sohn zu sehen. Ein jeder am Tisch schien beeindruckt von Raiks steinigem Weg.
»Und nun will Raik Alberts sogar die Meisterprüfung ablegen«, sagte Geldern mit Stolz in der Stimme, »und ich werde ihn dabei unterstützen, so gut ich es vermag.«
Raik dankte ihm überwältigt.
Der Abend verging mit weiteren Geschichten. Geldern erzählte von seiner eigenen Lehrzeit, seine Frau vom Alltag einer Krämerstochter. Nur Johanna blieb schweigsam, wohl weil ihre eigene nahe Vergangenheit nur traurige Erinnerungen bereithielt. Dabei hätte Raik so gern mehr von ihr erfahren.
Es war kurz vor Mitternacht, als er sich verabschiedete, nachdem er versprochen hatte, bald wiederzukehren. Beschwingten Schrittes lief er heim. Warum ihn Geldern wohl eingeladen hatte? Sie kamen gut aus, aber wirklich nahe standen sie sich nicht, dafür kannten sie einander noch nicht lang genug. Raik kam ein Verdacht. Die Gelderns suchten einen Ehemann und Versorger für ihr Mündel. Ja, so musste es sein.
Kurz fühlte sich Raik übertölpelt, doch dann dachte er wieder an Johannas scheues Lächeln und ihre schönen, schlanken Hände und befand, dass er sich vielleicht gern übertölpeln ließ. Er würde auf jeden Fall auch die nächste Einladung annehmen und herausfinden, wie Johanna zu dieser Sache stand.
Svantje blickte in die Runde. Ernste Gesichter, wohin sie auch sah. Sie hatte ihre Freunde und Bekannten im Lesezimmer zusammengerufen. Irina Alfjorow war derart blass, dass Svantje kurz davor gewesen war, das Treffen ohne sie abzuhalten. Neben ihr saß Hilde mit der winzigen Beatrix im Arm und strahlte trotz der ernsten Situation Wärme und Leben aus, wie nur frischgebackene Mütter es konnten. An ihrer Seite befand sich Richard, die Miene steinern. Svantje wusste, dass er mit Wassili befreundet war, doch die Bindung reichte offenbar tiefer, als
sie geahnt hatte. Friedrich war der Letzte in der Runde. Flüsternd erkundigte er sich bei Irina Alfjorow, ob er ihr Wasser bringen sollte. Nach ihrer schweren Kopfverletzung wurde sie oft von Schwindel geplagt. Trotzdem hatte sie darauf bestanden, dem Treffen beizuwohnen.
»Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid«, begann Svantje. »Vor einigen Tagen ist es mir mithilfe eines Arztes, der regelmäßig die Gefangenen verschiedener Gefängnisse versorgt, gelungen, Wassili ausfindig zu machen.«
»Wie geht es ihm?«, drängte Irina.
»Ich würde Ihnen gern bessere Nachricht überbringen, aber Ihrem Mann geht es schlecht. Als wir ihn fanden, hatte er die Hoffnung bereits aufgegeben und einen bitteren Entschluss gefasst.«
Alle hingen an ihren Lippen, auch Friedrich, dem sie längst alles bis ins letzte Detail berichtet hatte.
»Er war so verzweifelt, dass er nicht mehr essen und trinken wollte.«
»Er will sich umbringen?« Irina bekreuzigte sich und sprang auf. »Ich muss zu ihm. Er darf seine Seele nicht verderben, er … er muss leben!«
»Beruhigen Sie sich, Irina. Ihr Mann hat dieses Vorhaben aufgegeben. Wir konnten ihm wieder Hoffnung machen und haben seine Wunden versorgt. Er sagt, er habe noch keinen Richter gesehen und wisse nicht, was man ihm vorwirft.«
»Das ist Unrecht. Er muss einem Richter vorgeführt werden«, sagte Richard ruhig, doch Svantje entging nicht, wie sich die Finger seiner Linken um das Leder des Sessels krallten, auf dem er saß. Er war aufgebracht und suchte Friedrichs Blick. Die Männer waren seit Kindertagen befreundet. »Du musst dich darum kümmern. Fordere, dass er einem Richter vorgeführt wird und diese lächerlichen Anschuldigungen fallen gelassen werden oder er freikommt.«
»Warum kümmerst du dich nicht selbst darum, Freund? Der Name Harkenfeld hat in Hamburg Gewicht.«
Richard schien um eine Antwort verlegen, tauschte einen kurzen Blick mit seiner Schwester, die ihre Hand auf seinen Unterarm legte. »Unser Vater liegt im Sterben, mein Bruder und ich werden zu Hause gebraucht.«
»Oh, Hilde«, sagte Svantje überrascht. »Ich wusste nicht, dass es so schlimm um ihn steht. Dann werden wir uns selbstverständlich für Wassili einsetzen. Friedrich kennt sicherlich einen guten Anwalt.«
»Die Kosten übernehme ich vollumfänglich, wenn ich sonst schon nicht von Nutzen sein kann«, bot Richard entschlossen an.
»Gut, dann ist das Wichtigste auf dem Weg. Ich selbst werde in drei Tagen wieder mit Doktor Grahmer die Gefangenen besuchen. Solange ich nicht wieder als Krankenschwester arbeiten kann, werde ich ihn wöchentlich unterstützen. Es ist eine gute Sache. Viele kümmern sich um die Armen, doch für die Inhaftierten gibt es keine Hilfe. Ich habe dem jungen Arzt als Dank dafür, mich ins Gefängnis zu schmuggeln, finanzielle Hilfe für seine Sache versprochen.« Sie blickte fragend in die Runde. Friedrich nickte, auch Hilde versprach etwas Geld, ebenso Richard.
»Danke, liebe Freunde! Ich habe noch einen Vorschlag zu machen. Vermutlich werden sie Wassili jeglichen Besuch verwehren, was aber nicht bedeutet, dass wir es nicht zumindest versuchen können.« Sie erläuterte ihren Plan, dass jeden Tag einer von ihnen zum Gefängnis gehen und darum bitten sollte, zu Wassili vorgelassen zu werden. »Sie werden ablehnen, doch wir werden ihnen klarmachen, dass unser Freund nicht vergessen wird. Fragt nach ihm, und wenn sie euch nicht vorlassen, bleibt dort, solange es euch möglich ist. Seid unbequem. Ich kann mich daran leider nicht selbst beteiligen, sonst lässt mich die Gefängnisbelegschaft nicht mehr als Doktor Grahmers Helferin zu Wassili.«
Irina rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn, als wolle sie aufspringen. »Ich werde gleich heute hinfahren, jeden Tag lang, bis sie mir meinen Wassili wiedergeben.«
Richard beobachtete sie mit einem gequälten Gesicht. Er schien hin- und hergerissen zwischen seiner Pflicht als Sohn und seiner Freundschaft. »Wann immer ich Zeit entbehren kann, werde ich mit Hilde dort sein.«
»Wir könnten mehr Zeit dort verbringen, wenn wir einzeln gehen.«
Richard schüttelte den Kopf. »Nein, erinnert euch daran, was man ihm vorwirft. Friedrich ist sein Arbeitgeber und erregt keinen Verdacht. Doch jeder andere Mann könnte mit hineingezogen werden. Als Begleiter meiner Schwester kann ich meine Anwesenheit dagegen
erklären.«
»Recht hast du«, pflichtete Friedrich bei. »Und nun entschuldigt mich, ich möchte noch heute mit einem Anwalt sprechen, der mir schon häufiger in Rechtsstreitigkeiten geholfen hat.«
»Es ist bereits neun Uhr abends«, sagte Svantje.
»Das macht nichts, er wird noch nicht zu Bett sein.«
Die kleine Gruppe trennte sich, nachdem sie noch eine Weile beisammengesessen und Vermutungen angestellt hatten, wer hinter den falschen Beschuldigungen stecken mochte. Vielleicht ein neidischer Geschäftsmann oder jemand, dem Wassilis beinahe legendäres Verhandlungsgeschick die Pläne durchkreuzt hatte? Dass er ein russischer Spion war, glaubte keiner von ihnen, und dass er sich mit Männern eingelassen hatte, war so absurd, dass Svantje keinen Gedanken daran verschwendete.
Er war immerhin verheiratet, und es bestand kein Zweifel, dass Irina ihn aufrichtig liebte.