13
Einige Tage später
Svantje trug erneut ihre Schwesterntracht. Sobald sie die Uniform anzog, fühlte sie sich wieder vollständig und in ihrem Element. Mit einer prall gefüllten Medikamententasche war sie aufgebrochen. Nun waren ihre Vorräte bereits stark geschrumpft, und sie begann mit Medikamenten und Salben hauszuhalten. Doktor Grahmer hatte sich überschwänglich für die Geldspenden bedankt, doch er war noch nicht dazu gekommen, seine Reserven aufzufüllen. Er schien noch immer überrascht, dass Svantjes Worte keine hohlen Versprechen gewesen waren.
Wie bei ihrem letzten Mal war Wassilis Haftanstalt die letzte, die sie besuchten. Die Zeit kroch nur so dahin, und ihr fiel es zunehmend schwer, sich zu konzentrieren. Der Mann, den sie nun behandelten, war ein verurteilter Vergewaltiger. Ein grobschlächtiger Kerl, stark wie ein Bär, mit Halbglatze und braunrotem Rauschebart.
Nachdem er Svantje mehrfach aufs Übelste beleidigt und mit seinen lüsternen Blicken ausgezogen hatte, verließ sie die Zelle. Nun stand sie mit dem Rücken an die kühle Wand gedrückt und versuchte, den Ekel abzuschütteln. Dieser Kerl hatte ihr Angst gemacht, und doch verstand sie Doktor Grahmers Bestreben, auch Menschen wie ihm eine Grundversorgung zukommen zu lassen.
Sie spreizte die Finger auf der gestrichenen Backsteinoberfläche. Langsam, ganz langsam ging es ihr wieder besser.
»Ich habe Sie doch gewarnt, Fräulein«, erklang die Stimme des Wärters, der sie bereits letzte Woche durch die Anstalt geführt hatte. Sie hatte ihn nicht kommen hören. »Hat er Ihnen große Angst gemacht?«
Svantje schüttelte den Kopf. In den Augen des Beamten las sie das Versprechen von Gewalt. Falls sie seine Frage bejaht hätte, wäre das Leben des Gefangenen von nun an wohl die Hölle gewesen. »Doktor Grahmer kümmert sich allein um ihn.«
»Dann haben Sie ja jetzt Feierabend«, sagte ihr Gegenüber. Er war einer der angenehmeren Zeitgenossen, die hier Dienst taten. Er musterte sie, wie manche Männer Frauen beurteilten, und was er sah, schien ihm zu gefallen. »Ich habe auch gleich Dienstende. Auf einen Kaffee vielleicht?«
Svantje lächelte, hob ihre rechte Hand und ließ das Licht auf ihrem Ehering funkeln. »Dann würde ich meinen Mann und meine Kinder warten lassen müssen.«
Der Wärter tippte sich an seine Mütze. »Verstanden. Die Kinder sieht man Ihnen nicht an, wenn ich das sagen darf.«
»Vielen Dank.«
»Brauchen Sie noch etwas?«
»Nein, wir besuchen nur noch diesen Alfjorow, dann geht es nach Hause«, sagte Svantje betont gleichgültig.
»Den Russen? Nein, der steht heute nicht auf Ihrem Plan.«
Svantjes Herz tat einen Satz, und in ihrem Nacken breitete sich ein frostiges Gefühl aus. »Wir werden ihn sehen«, sagte sie energisch.
»Anweisung von oben.«
»Dann sagen Sie Ihrem Oben, dass wir den Gefangenen untersuchen werden. Beim letzten Mal war er dem Tod näher als dem Leben. Wir haben berechtigte Sorge, dass er sterben könnte, und Sie wollen doch nicht, dass ein Gefangener sein Leben lässt, bevor er überhaupt verurteilt wurde.« Sie hatte sich verplappert, dachte sie erschrocken.
Dem Wärter war es nicht entgangen. Er verengte die Augen. »Was wissen Sie über Alfjorow?«
»Nur das, was er uns im Fieber erzählt hat. Dass er glaubt, unschuldig zu sein, und noch keinen Richter gesehen hat.«
Prüfend sah der Wärter sie an. Svantje hielt dem Blick stand, drückte eine Hand wieder auf die kühle Wand hinter sich und fühlte, wie sich auf der glatten Oberfläche der Schweiß absetzte. Jetzt nur nichts verraten.
Endlose Augenblicke verstrichen, dann zuckte der Wärter mit den Schultern und wandte sich ab. »Ihr Doktor lässt sich Zeit.«
»Er ist ein gewissenhafter Arzt.«
Der Wärter schnaubte herablassend. Svantje wünschte sich beinahe wieder zurück in die Zelle, als endlich die Tür geöffnet wurde und Grahmer heraustrat. Er trug seine Tasche und auch Svantjes. »Geht es Ihnen gut?«
Sie nickte und nahm ihre Ausrüstung entgegen. »Es tut mir leid, die habe ich vergessen.« Der Wärter schloss die Zelle ab und rüttelte prüfend an der Tür. »Ich begleite Sie hinaus.«
»Er verweigert es uns, Alfjorow zu sehen. Sie erinnern sich an den Russen?«, sagte Svantje und blickte Grahmer drängend an. »Ich sorge mich zu sehr um den Mann, um eine Woche zu überspringen. Er war dem Tode nah.«
»Bringen Sie uns hin!« Grahmers Tonfall war kommandierend, wie sie es noch nie von ihrem Begleiter gehört hatte.
»Das kann ich nicht, Doktor. Ich habe meine Befehle.«
Doktor Grahmer stellte geräuschvoll seine Tasche ab und blieb wie angewurzelt stehen. »Hören Sie, Mann, ich kenne Ihren Vorgesetzten und habe mit ihm über die Auffälligkeiten in dieser Anstalt gesprochen. Er würde es mir niemals untersagen, einen der kritischen Fälle anzusehen. Und nun bringen Sie uns zu Alfjorows Zelle, bevor ich mich vergesse und Beschwerde gegen Sie einlege!«
Svantje beobachtete, wie der Wärter den Mut verlor. Es wirkte, als würde er ein Stückchen schrumpfen. Sie sah es mit Genugtuung und atmete innerlich auf, weil sie Wassili nun doch sehen würde. Gleich darauf kehrte die Sorge zurück. Es musste einen Grund geben, warum die Wärter nicht wollten, dass sie ihn untersuchten.
Sie folgten dem Uniformierten durch ein Gewirr grauer Flure. Nur hin und wieder erhellte eine Lampe ihren Weg, ihr Licht wie Inseln in der Dunkelheit. Svantje hatte selten einen trostloseren Ort gesehen. Nicht einmal Spinnen schien es hier zu geben.
»Zehn Minuten«, sagte der Wärter, blieb plötzlich stehen und öffnete eine Zellentür.
Wassili war verlegt worden. Er hockte auf einer Pritsche und sah überrascht auf. Vorher hatte er ins Leere geblickt, vielleicht um Erinnerungen an bessere Tage heraufzubeschwören.
»Sie?«, fragte er.
Svantje wartete, bis sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, dann eilte sie an seine Seite. »Wir haben nur zehn Minuten«, flüsterte sie. »Ich bringe Grüße von Ihrer Frau und Ihren Freunden. Mein Mann hat einen Anwalt aufgetan, der sich um Ihren Fall kümmert, und die Geschwister Harkenfeld und Ihre liebe Frau kommen jeden Tag her, um sie zu besuchen und Druck auszuüben.«
Wassili nahm Svantjes Hand in seine. »Vielen Dank, Svantje! Sie machen mir Mut, nicht zu verzweifeln.«
»Ich werde jede Woche herkommen, versprochen.«
Der Arzt hatte bereits begonnen, Alfjorow zu untersuchen. Er war nicht mehr so blass und dehydriert wie beim letzten Mal, aber Svantje entgingen die neuen blauen Flecken nicht, die seine Arme übersäten. Die Kopfwunde heilte gut. Grahmer ließ ihm Salbe und ein Stückchen Seife da.
»Behandelt man Sie besser?«, fragte Grahmer ganz leise.
»Ein wenig«, erwiderte Wassili. »Mit etwas Glück könnte ich meine Gefangenschaft doch überleben.« Er lächelte kläglich und entblößte dabei einen abgebrochenen Schneidezahn.
»Grüßen Sie meine Frau, Hilde, Friedrich und … und Richard.«
Richard schob seinen Vater in einem Rollstuhl durch den Park. Die Lungenentzündung hatte es nicht geschafft, den Patriarchen ins Grab zu zerren, und nun standen alle Anzeichen darauf, dass er, wenn auch schwer gezeichnet, überleben würde.
Einerseits war Richard erleichtert, denn so hatte er noch eine Chance, herauszufinden, wie der Vater Wassili ins Gefängnis gebracht hatte, und vor allem, wie er ihn wieder herausbekommen konnte. Andererseits hätte er dem alten Tyrannen keine Träne nachgeweint.
In den vergangenen Tagen schien Hans Werner Harkenfeld die Gegenwart seines Sohnes akzeptiert zu haben, wie man einen Misthaufen auf einem Bauernhof akzeptierte. Es war ein Übel, dem man nicht entgehen konnte.
»Ist es nicht weit genug?«, brummte der Alte. Trotz der spätsommerlichen Temperaturen war er bis zum Hals in Decken eingehüllt, weder Füße noch Hände schauten heraus. Er wirkte wie eine Schildkröte, die sich in ihren Panzer zurückgezogen hatte und störrisch darauf wartete, dass sich die Zeiten besserten.
Richard schob den Alten ungerührt weiter. »Das hassen Sie, nicht wahr, Vater? Nicht mehr jedem Mann vorschreiben zu können, was er zu tun und zu lassen hat. Sie haben über viele Tausend Leben bestimmt, und nun sitzen Sie hier, an einen Rollstuhl gefesselt, und Ihr verhasster Sohn …«
»Ich habe nur einen Sohn. Er heißt Florian und ist mein ganzer Stolz.«
»Und ich bin die ganze Schande«, ergänzte Richard leise. Er schob den Rollstuhl stur weiter, ignorierte die Proteste seines Vaters, bis sie das andere Ende des weitläufigen Gartens erreicht hatten. »Hier hört uns niemand«, sagte er und hielt auf einen kleinen Pavillon zu. Der schmiedeeiserne Baldachin hatte einst Rosen gestützt. Richard konnte sich noch gut daran erinnern. In Kindertagen breitete sich darauf jeden Sommer ein gelbes Blütenmeer aus. Seine Schwester Hilde hatte hier gespielt und stets behauptet, dies sei ihr verwunschenes Schloss und es müssten edle Ritter kommen, um sie zu hofieren und Drachen zu vertreiben. Es war eine schöne, unbeschwerte Zeit gewesen.
Doch vor einigen Jahren hatte ein Sturm die alten Rosenstöcke umgerissen. Nun ragten schwärzliche Stümpfe aus dem Boden. Das Eisengestell war nicht mehr gestrichen worden, und anstelle von weißer Farbe überzogen Rostblumen das Metall.
»Ich war einmal glücklich hier«, seufzte er und zog sich einen verwitterten Stuhl heran. Nun saßen sie nebeneinander, sodass sie gemeinsam auf das Harkenfeld’sche Anwesen hinabsahen, über dem sich der blaue Septemberhimmel spannte.
»Was soll das alles, Richard? Bring mich zurück!«
»Nein. Ich muss mit Ihnen reden, und ich bringe Sie erst dann wieder ins Haus, wenn ich erfahren habe, was ich wissen muss.«
Er blickte seinen Vater an, musterte das kantige Profil. Die Kiefermuskeln des Alten arbeiteten, als würde er die Zähne zusammenzwingen, um seinem Sohn nicht zu antworten. Er war nicht mehr so blass wie auf dem Krankenbett, aber noch immer schmal von den vielen Tagen, an denen er nicht mehr als Brühe herunterbekommen hatte.
»Bis auf einen einzigen Moment, an einem einzigen Tag, habe ich Ihnen niemals einen Grund gegeben, an meinen Qualitäten zu zweifeln, Vater. Gibt es denn nichts, womit ich diese Schande ausradieren kann?«
Harkenfeld blickte starr geradeaus. Er blinzelte etwas häufiger als zuvor, sonst war keine Änderung zu bemerken. Es war zum Verzweifeln. In der vergangenen Woche hatte Richard es auf jedem Weg versucht, der ihm eingefallen war. Sich entschuldigt, stundenlang an Vaters Bett gesessen und gehofft, dass dieser seine Einstellung änderte. Hilde hatte mit ihm gesprochen und sogar Mutter.
Nun gab es nur noch einen einzigen Pfad, den er nicht beschritten hatte.
»Wenn es schon keine Möglichkeit zur Versöhnung gibt, würden Sie mir dann eine Frage beantworten, Vater? Danach trete ich Ihnen nie wieder unter die Augen.«
»Es kommt darauf an.«
»Stecken Sie hinter der Verhaftung Wassili Alfjorows?«
Der Alte neigte den Kopf, verengte die stets wachsamen blauen Augen. »Hast du es also herausgefunden?«
»Dann stimmt es. Aber warum? Warum muss er dafür bezahlen, dass ich Sie enttäuscht habe?«
»Weil es dir wehtut. Es ist deine Strafe.«
»Beenden Sie es.«
»Niemals! Ich hätte es schon viel eher tun sollen, aber damals dachte ich, es sei dir Lehre genug, deine Familie und die Zukunft in der Werft zu verlieren. Aber du …«, knurrte er.
»Ihr letztes Wort?«
»Bring mich zurück, Richard, und geh mir aus den Augen, bevor ich dich auch noch ins Zuchthaus stecken lasse.«
»Nein, das würden Sie niemals tun. Ganz gleich, wie Ihre eigenen Gefühle aussehen, die Werft geht vor, das haben Sie mir immer gepredigt. Erst das Unternehmen, dahinter steht alles andere zurück.« Er fasste den Rollstuhl an den Rädern und riss ihn mit einem Ruck herum, sodass sie sich nun gegenübersaßen. »Wassili Alfjorow hat Freunde, einflussreiche Freunde. Er hat nun einen verdammt guten Anwalt, und er wird endlich vor Gericht kommen. Ganz gleich, wen Sie geschmiert haben, der Schmutz wird ans Licht gezerrt. Wie sehr vertrauen Sie den Leuten? Werden Ihre Verbündeten dem Druck standhalten?«
Glomm dort ein Funke Unsicherheit in Vaters Blick auf? Vielleicht war eine Drohung die einzige Sprache, die er verstand, eine Demonstration von Stärke das einzig wirksame Argument.
»Alfjorow wurde gefoltert. Womöglich haben diese Kerle seinen Verstand gebrochen. Vielleicht sagt er ihnen alles, vielleicht nennt er Namen!« Richard drückte seinem Vater den spitzen Finger auf die Brust. »Auch den Namen unserer Familie! Ich habe stets Stillschweigen bewahrt und er ebenso. Aber einem gebrochenen Mann ist nicht zu vertrauen. Was ist, wenn er vor Gericht alles sagt? Jemand wird reden, Vater, irgendjemand wird reden.«
Der alte Harkenfeld stöhnte auf. »Wann?«
»Die Gerichtsverhandlung?«
»Ja.«
»In zwei Wochen.«