14
Februar 1901 – fünf Monate später
Raiks frisch polierte Schuhe litten unter dem Schnee, der unablässig fiel. Er hatte es aufgegeben, die weißen Kristalle von seinem Mantel zu schlagen. Die Hände in den Taschen vergraben und den Hut tief ins Gesicht gezogen, eilte er seinem Ziel entgegen. Zum Glück würden sie Gelderns Kutsche nehmen können, sobald er dessen Haus erreicht hatte.
Plötzlich verlor Raik mit einem Fuß den Halt und glitt aus. Unter dem Schnee hatte sich eine gefrorene Pfütze verborgen. Er ruderte mit einem Arm und fing sich mit dem anderen an einer Mauer ab. Der Schreck war ihm durch Mark und Bein gegangen, und statt zu frieren, wurde ihm plötzlich heiß.
Die letzte Wegstrecke lief er langsamer und aufmerksam.
Als er schließlich klingelte, war er einige Minuten zu spät. Johanna öffnete selbst die Tür. Sobald sich ihre Blicke trafen, lächelte sie.
»Wunnermooi«,
brachte Raik hervor. Sie trug ein weinrotes Kleid, das ihr hinab bis zu den Knöcheln fiel. Braune Biesen betonten ihren Busen und die schlanke Taille. Der Kragen war hochgeschlossen und mit weißer Spitze verziert. Johannas Haut war bis auf ihre entzückenden kleinen Sommersprossen makellos wie Porzellan, die Lippen gerötet. Das Haar trug sie aufgesteckt, was die feine Form ihres Gesichts noch betonte.
In diesem Moment wurde Raik klar, dass er seine Begleiterin nicht nur anziehend fand, sondern sich vielleicht sogar in sie verlieben könnte. Nein, wahrscheinlich hatte er das längst und gestand es sich nur nicht ein. Stets hatte er geglaubt, seine unreife Liebe für die Freundin und ehemalige Spielgefährtin Svantje würde seine erste und einzige bleiben. Doch hier stand Johanna vor ihm, und er konnte kaum
einen klaren Gedanken fassen.
»Raik, hast du mir überhaupt zugehört?« Johanna schob die Unterlippe in einem spielerischen Schmollen vor. Raik widerstand dem Drang, sie an sich zu ziehen und zu küssen. Das hatte er noch nie gewagt, auch wenn sie sich in den vergangenen Monaten häufig gesehen hatten und inzwischen eine gewisse Vertrautheit zwischen ihnen herrschte. Mehr als eine sittliche Berührung hatte jedoch zwischen ihnen noch nicht stattgefunden. Mit jeder Begegnung sehnte Raik sich mehr den Moment herbei, in dem diese Barriere zwischen ihnen fallen würde.
»Es tut mir leid, ich war so überwältigt von deinem Anblick«, sagte er schließlich.
»Ich hoffe, auf eine angenehme Weise«, neckte sie ihn.
»Als ob daran je Zweifel bestehen könnten.« Er nahm ihre Hand und drückte seinen Mund auf ihre Knöchel. Ihre Haut duftete zart nach Rosen und einer Süße, die er nicht recht benennen konnte.
»Meister Geldern hat den Wagen bereitstehen«, sagte sie.
»Grootaardig«,
sagte Raik, erleichtert, das Pferd nicht selbst anspannen zu müssen.
Kurz darauf saß er auf dem Bock des Einspänners und machte sich mit dem Gefährt vertraut. Die Bremse war leicht zu erreichen, und die Zügel lagen, obwohl er warme Fäustlinge trug, gut in der Hand.
Johanna hatte es sich an seiner Seite bequem gemacht. Bis zum Hals in eine Decke gehüllt, teilte sie sich einen Pelzüberwurf mit ihm, der ihrer beider Beine bedeckte. Raik schnalzte und nahm die Fuhrpeitsche aus der Halterung. Sie war genauso zum Lenken des Tieres gedacht wie die Zügel.
Indem Raik die Peitsche auf die rechte Seite lehnte, gab er dem Fuchs zu verstehen, dass er nach links auf die Straße abbiegen sollte.
Er war lang nicht mehr gefahren. Unweigerlich schlugen seine Gedanken einen düsteren Pfad ein.
Mit einem Schnalzen trieb er das Pferd in den Trab. Die Hufe wirbelten Pulverschnee auf, und der Fuchs schlug übermütig mit dem Kopf. Offenbar mochte der Wallach den Schnee. Es fielen nur noch winzige Flocken, und unter den Laternen glitzerte die Luft wie Diamantenstaub.
»Ach, herrlich, das könnten wir von mir aus stundenlang machen.
Aber du wirst dich wohl nicht verirren?«, seufzte Johanna mit leisem Bedauern.
»Nein, aber wenn du möchtest, könnte ich auf dem Torüggweg
ein paar Umwege nehmen, durch den Park oder an der Binnenalster entlang.«
»O ja! Wir haben so selten Schnee in Hamburg, und wenn, dann ist er matschig oder ganz schmutzig.«
»Da wir keine Mietsdroschke haben, können wir uns de Freeiheid
nehmen, denke ich. Un mi dücht,
dass Meester
Gelderns Pferd die Bewegung begrüßt.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas dagegen hat. Wo hast du eigentlich fahren gelernt, Raik?«
»Als es de Umstannen
erfordert haben«, erwiderte er ausweichend.
»Das ist keine Antwort.«
»Ich will die schöne Stimmung nich
verderben.«
Johanna blickte ihn aus graublauen Augen forschend an, dann lehnte sie ihre Wange an seine Schulter. »Aber ich möchte dich gern besser kennenlernen, keine Fremde mehr für dich sein.«
»Du bist keine Frömm,
und das weißt du genau.« Einen flüchtigen Moment lang lehnte er seinen Kopf an ihren, dann räusperte er sich. »Nun gut. Erinnerst du dich an die Sperrung des Hafens, als die Cholera wütete?«
Sie nickte.
»Die Fähren fuhren auch nich,
die Fabriken lagen still. Ich hatte nichts zu tun, während meine Nachbarin Svantje Falkenberg, damals noch Claasen, Dach un Nach
schuftete. Sie hatte gemeinsam mit einem Dokter
aus dem Eppendorfer Klinikum eine leer stehende Lagerhalle aufgetan, in der sie die Kranken aus den Armenvierteln behandelte. Ich bin hingegangen, um zu sehen, ob ich helfen konnte.«
»Wie mutig von dir. Meine Eltern und ich haben uns bei meiner Tante im Alten Land einquartiert und abgewartet, bis alles vorüber war. Das war feige.«
»Nein, war es nicht, es war eine klooke
Entscheidung.«
»Aber du hast ausgeharrt.«
»Ja. Als ich an der Cholerabaracke ankam, wurde mir erst klar, wie slimm
es wirklich war. In den Betten, auf dem Boden und vor dem Lagerhaus lagen kranke und sterbende Menschen. Dazwischen Doode.
Svantje kochte in einem riesigen Kessel Laken aus, so reinigten sie alles. Der Kessel stand auf dem Hinterhof, wo sie auch die Dooden
hinbrachten. Ich fragte sie, was zu tun sei, und sie antwortete ehrlich, wie es ihre Art ist. Die Leichname mussten fortgebracht werden, und so fand ich mich am nächsten Tag auf dem Ohlsdorfer Friedhof ein. Wir hoben von morgens bis abends Gräver
aus, fuhren herum und sammelten Verstorbene ein. Da lernte ich es, mit Pferd und Wagen umzugehen, auch wenn es mir nicht bewusst war.«
»Hast du denn keine Angst gehabt, dich zu infizieren?«
»Doch, schon. Aber dann sah ich wieder den Dokter
und vor allem de viele Süsters
vor mir, die versuchten, in all dem Chaos Leben zu retten. Sie wurden nicht krank. Es schien mir nicht recht, als kräftiger, gesunder Mann nichts zu tun, während meine Freundin aus Kindertagen bis zur totalen Erschöpfung plackde.
«
»Svantje Falkenberg muss eine beeindruckende Frau sein«, sagte Johanna und musterte ihn. Sie spürte, dass da mehr gewesen war, besaß aber den Anstand, nicht zu fragen. Raik wollte keinen Zweifel säen, der langsam wachsen und beständig an ihrer Beziehung nagen würde.
»Als lütter Bötel
war ich in sie verliebt, zumindest dachte ich das. Für sie war ich nie mehr als ein Bruder. Ihr Vater hat sich meiner angenommen, als ich auf der Straße lebte, das weißt du ja.«
»Es ist nie etwas gewesen?«
Raik schüttelte den Kopf und musste plötzlich lachen. Sein Benehmen der Jugendfreundin gegenüber kam ihm mit einem Mal kindisch und absurd vor. »Einmal habe ich versucht, sie zu küssen, und mir eine saftige Backs
eingehandelt.«
»Jetzt will ich sie erst recht kennenlernen«, erwiderte Johanna und lachte, dann schmiegte sie sich fester an ihn.
Raik ließ seinen Blick wandern. Von den Dächern begannen Eiszapfen in die Tiefe zu wachsen, weil die Wärme in den Häusern den Schnee auf den Dächern taute. Noch immer fielen feinste Flöckchen herab.
Es war ein seltsames Gefühl, mit einer Frau zu Svantjes Ehrentag zu erscheinen, zugleich gab es keinen Grund, es nicht zu tun. Sie hatte ihm angeboten, jemanden mitzubringen. Die Lüge brannte nur ein wenig. Er war nicht als Junge in Svantje verliebt gewesen, was man als
kindliche Narretei abtun konnte. Damals hatte es begonnen, doch danach dauerte es noch lang, bis er sich ganz von ihr löste. Besonders nach ihrer Hochzeit mit dem wohlhabenden Fernhändler Friedrich Falkenberg hatte es ihm wehgetan, sie zu sehen, sodass er ihr aus dem Weg ging, was aber kaum etwas an seinen Gefühlen änderte. Mittlerweile war der Schmerz dumpf, wie ein schlecht verheilter Bruch, der bei jedem Wetterumschwung stach. Auch die Liaison mit Hilde, die zu einer schönen Regelmäßigkeit geworden war, hatte seinen Gefühlen für Svantje keinen Abbruch getan. Er mochte Hilde, doch er liebte sie genauso wenig wie sie ihn. Es war seit jeher klar gewesen, was sie voneinander begehrten, und keiner von ihnen hatte das Bedürfnis, die vor Jahren gezogene Grenze zu übertreten. Sie hatte ihn sogar schon oft geneckt, ob er denn plane, für immer Junggeselle zu bleiben, und vorgeschlagen, ihm eine Frau zu suchen. Für sie würde Johannas Anwesenheit heute zwar eine Überraschung bedeuten, vermutlich aber eine, zu der sie ihn beglückwünschte. Seit der Geburt der Tochter hatten sie sich nicht mehr gesehen.
Und was Svantje betraf … vielleicht konnte ihn Johanna von seiner alten Wunde heilen. Ja, wenn es eine Frau vermochte, dann sie.
Svantje war aufgeregt wie in ihrer Hochzeitsnacht. Um das Erscheinen ihres Buches zu feiern, hatten sie ein kleines Café ausgewählt. Die Ulme
war ein besonderes Lokal. Nahe an einem der Gebäude gelegen, in denen die öffentlichen Vorlesungen stattfanden, tagte im kleinen Salon oft ein Debattierclub, und zweimal im Monat gaben junge Poeten hier ihre Werke zum Besten. Es war ein Ort, an dem das Wissen und die Kunst geehrt und gefeiert wurden. Auch Hildes Frauengruppe traf sich hier regelmäßig. Svantje hatte das Lokal an diesem Abend für sich, um den erreichten Meilenstein mit Kolleginnen, Freunden und Familie zu feiern. Die erste offizielle Lesung würde in zwei Tagen in einer Buchhandlung stattfinden.
Im Salon bekamen die Tische gerade den letzten Schliff. Die Kellner rückten Gläser und Gedecke gerade, entfernten einzelne Blätter, die sich aus der floralen Tischdekoration gelöst hatten.
Mehrfach hatte Friedrich Svantje nun schon scherzhaft gemahnt,
dass sie den Bediensteten nicht helfen musste. Schließlich hatten sie für deren Arbeit bezahlt.
»Glaubst du, es kommt überhaupt jemand?«, wandte sich Svantje besorgt an ihn. Richard stand am Fenster, hielt ihren schlafenden Sohn im Arm und wiegte sich in den Knien. Ihre Tochter Karoline saß an einem kleinen Tisch und war eifrig damit beschäftigt, ihrer Puppe neue Kleider anzuziehen, die sie von Svantje für diesen besonderen Anlass geschenkt bekommen hatte. Die gesamte Familie Falkenberg war herausgeputzt. Friedrich trug einen neuen schwarzblauen Anzug. Sein Einstecktuch passte zu Svantjes Kleid aus cremefarbenem Stoff, das mit seinem zarten kornblumenblauen Muster beinahe sommerlich wirkte. Üblich waren zu dieser Jahreszeit gedeckte Farben, doch Svantje konnte sich nicht vorstellen, einen Freudentag wie diesen in deprimierendem Braun, Rostrot oder Tannengrün zu begehen.
»Du wirbelst herum wie ein übermütiges Füllen«, sagte Friedrich leise, um seinen Sohn nicht zu wecken. »Natürlich werden sie kommen. Jeder weiß, wie wichtig dieser Tag für dich ist. Der Schnee liegt nicht höher als eine Handspanne, und es hört auch schon auf.«
»Schon?«, seufzte sie und trat zu ihm. Einen Moment lang legte sie den Kopf an seine Schulter. »Es stimmt, ich kann nicht stillstehen, und meine Gedanken wirbeln wie wild durcheinander. Aber dafür habe ich ja dich, du bist mein Felsen, mein Anker in all diesem Wahnsinn.«
Friedrich legte einen Arm um ihre Schulter. »Danke«, sagte er leise und küsste sacht ihre Schläfe. »Ich liebe dich auch.«
Sie sah ihm lange in die Augen, die grün waren wie der Frühling. Sein Blick war warm wie eine Umarmung. Ein wohliger Schauer durchlief ihren Körper, und sie wurde ruhiger.
»Da, schau.« Friedrich kniff die Augen zusammen.
»Eine Kutsche!«, rief sie begeistert aus. Es war eine Mietsdroschke. Zwei Rappen zogen sie, die Mähnen voller Pulverschnee. Svantje eilte an einem Mann vorbei, der soeben Holz nachlegte, damit das Feuer im Kamin tüchtig weiterbrannte. Ein letztes Mal überprüfte sie die Dekoration. Es gab Werbeplakate und Aufsteller, die ihr Verleger der ersten Lieferung beigefügt hatte. Auf zwei Tischen standen und lagen die Bücher, ihr ganzer Stolz.
Friedrich folgte ihr mit den Kindern zur Tür.
»Deine Eltern und meine. Zusammen!«, sagte Svantje erstaunt.
»Ich habe sie gebeten, deine Eltern abzuholen, dein Vater hätte sonst darauf bestanden zu laufen.«
»Das sieht ihm ähnlich. Er spart noch immer, wo er nur kann.«
Es folgte eine herzliche Begrüßung. Die Großeltern herzten ihre Enkel, rasch wurde sich über das Wetter ausgetauscht und Svantje beglückwünscht. Ihre Eltern nahmen die ausliegenden Bücher mit großer Ehrfurcht in die Hand. Svantje wusste, dass ihre Mutter kaum lesen konnte und der Vater nur mit Mühen. Doch er hatte begonnen, auf seine alten Tage Zeitungen zu kaufen und jede Zeile mühsam zu entziffern, angetrieben von dem energischen Ziel, das Buch seiner Tochter lesen zu können.
Nun kamen die Besucher Schlag auf Schlag. Doktor Schawacht und Doktor Grahmer, Krankenschwestern, mit denen Svantje gelernt und gearbeitet hatte, Nachbarn, Freunde.
Nur Wassili, der noch immer in seiner Zelle hockte, weil seine Verhandlung weiter und weiter verschoben wurde, fehlte schmerzlich. Zumindest hatten sie dafür sorgen können, dass er etwas besser behandelt wurde. Seine Frau Irina hatte sich entschuldigt, wollte erst mit ihm gemeinsam wieder ausgehen. Svantje verstand sie nur zu gut, bedauerte aber ihr Fernbleiben.
Hilde erschien in Begleitung ihres Ehemanns Walter Degen und einer Amme, die die kleine Beatrix auf dem Arm trug. Bedauerlicherweise konnte ihr Bruder nicht kommen, doch so nahe standen sich Richard und Svantje ohnehin nicht, wenngleich auch er an ihrem Werdegang teilgehabt hatte, indem er ihr Mut machte und ihr Zugang zu dem Wissensschatz seiner Bibliothek gewährte.
»Ich habe immer gewusst, dass Sie es schaffen würden, hervorragend«, lobte Doktor Schawacht, ein Buch in der Hand, das er aufmerksam durchblätterte, während die letzten Gäste eintrafen. Es war Raik, und er kam in Begleitung eines hübschen Fräuleins. Es war offensichtlich, dass die beiden einander sehr zugetan waren.
Svantje atmete auf. Er hatte also wirklich wie versprochen eine Begleiterin mitgebracht.
Ihn einzuladen war ihr nicht leichtgefallen. Es war unwichtig, ob sie in ihm nur einen Bruder sah und sich stets tadellos verhalten hatte. Friedrich behandelte ihn dennoch wie einen Konkurrenten. Das war schon seit ihrer ersten Begegnung so gewesen und würde sich
vermutlich auch in zehn Jahren nicht ändern.
Er gehört zur Familie,
hatte sie energisch gesagt, als Friedrich seinen Namen auf der Liste der Einladungen entdeckte. Sag das nicht mir, sondern ihm,
lautete seine Erwiderung. Svantje hatte beteuert, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Allein es aussprechen zu müssen fühlte sich ein wenig an wie Verrat.
Zweifellos war Raik der attraktivste Mann an diesem Abend, und er war sich dessen auch bewusst. Während Friedrichs Haar langsam dünner wurde und sich der Wohlstand als leichter Bauch zeigte, strotzte Raik vor Kraft und raubeinigem Charme. Unter seinem Anzug zeichneten sich deutlich die breiten Schultern ab. Sein Gesicht wurde mit den Jahren kantiger, die Fältchen, die sich an den Augen bildeten, zeigten, dass er noch immer gern und viel lachte.
Svantje sah zu ihrer besten Freundin. Hilde hatte ihren Liebhaber und seine Begleiterin sehr wohl bemerkt, doch sie wandte ihm den Rücken zu und war so sehr um die Aufmerksamkeit ihres Mannes bemüht, dass es ins Auge stach. Svantje und Hilde hatten gehofft, dass Walter kein Interesse daran haben würde, dem Fest beizuwohnen. Es war das allererste Mal, dass sich der gehörnte Ehemann und Raik länger außerhalb der Werft begegneten.
»Guten Abend«, begrüßte Svantje nun ihren alten Freund.
»Dank ok
für die Einladung. Darf ich dir Johanna Stade vorstellen?«
»Sehr gern. Willkommen, Fräulein Stade!«
»Frau Stade«, korrigierte Raik. »Johanna ist verwitwet. Ich dachte, dass dien Fier
eine wunderbare Abwechslung ist.«
»Mein Beileid«, sagte Svantje und musterte die junge Frau mit wachsendem Interesse. Ja, da war ein leiser Schmerz in ihrem Blick, doch Raik schien sie glücklich zu machen, auch wenn sie ihn nun tadelnd ansah. Sie wäre wohl lieber nicht an ihren Verlust erinnert worden.
»Sucht euch einen Platz, es wird gleich aufgetischt.«
»Sind wir die Letzten?«, fragte Raik.
»Ja, aber immerhin sind alle gekommen. Der Schnee konnte niemanden abschrecken. Ein Glück.«
Raik lachte. »Da müsste der schon meterhoch liegen. Jeder hat dir diesen Erfolg von Herzen gewünscht, es wär een
Schanne,
ihn nicht mit dir zu feiern.«
»Danke!« Svantje kämpfte schon jetzt vor Rührung mit den Tränen und begann zu zweifeln, dass sie den Abend überstehen würde, ohne sich vor allen Anwesenden eine Blöße zu geben.
Das Essen war vorzüglich. Nach dem Nachtisch erhob sich Doktor Schawacht und brachte einen Trinkspruch auf sie aus, der Svantje sämtliche Anstrengung und Enttäuschung der letzten Jahre vergessen ließ. Es folgte Friedrich mit warmen Worten, und sogar Hilde lobte ihre Freundin für ihren Mut und den unerschütterlichen Elan, mit dem sie ihre Ziele verfolgte.
Als Letzter erhob sich Raik. Er berichtete von ihren Kindertagen, als sie gemeinsam im Armenviertel umhergezogen waren und Wasser verkauften. Wie sie auch damals immer auf das Wohl anderer bedacht gewesen war. Sie wollte Geld für ihren kränkelnden kleinen Bruder verdienen, damit er bessere Medikamente bekam, und hatte auch Raik oft mit Essen oder einem tröstenden Wort geholfen, ihm außerdem Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Am Ende konnte Svantje die Tränen wie befürchtet tatsächlich nicht mehr unterdrücken. Sie erhob sich und bedankte sich reihum bei jedem für seine Worte, umarmte Doktor Schawacht, küsste ihren Mann, drückte ihre beste Freundin und nach kurzem Zögern auch Raik, obgleich sie Friedrichs Blick dabei stechend in ihrem Rücken spürte.
Jeder, der wollte, bekam ein Buch geschenkt.
Die Gäste lachten und tanzten, und Svantje schrieb Widmung um Widmung. Diesen Tag würde sie niemals vergessen. Es war ihr zweiter Geburtstag, der erste in ihrem neuen Leben!
Es ging auf Mitternacht zu, als Hilde und Walter Degen die Kutsche bestiegen. Hilde war ein wenig beschwipst. Der Champagner, den die Falkenbergs reichlich ausgeschenkt hatten, war ihr zu Kopf gestiegen.
Walter war schon den ganzen Abend ungewöhnlich still. Es hatte Hilde gewundert, dass ihr Mann überhaupt mitgekommen war. Seine Arbeit nahm ihn derzeit Tag und Nacht in Beschlag. Er war faktisch der Leiter der Werft, da noch nicht geregelt war, wer die Interessen der Familie Harkenfeld vertreten würde, bis ihr Bruder Florian alt genug
war. Auf dem Papier war noch immer Vater für alles verantwortlich, doch sein Körper verfiel mehr und mehr und sein Geist mit ihm. Wahrscheinlich hatte Walter auch aufgrund der Überlastung kaum ein Wort hervorgebracht.
Die Amme stieg zu ihnen, die kleine Beatrix fest an ihren Busen gedrückt. Hilde hätte ihr das Kind am liebsten abgenommen, doch dann würde sie wach und wieder zu weinen beginnen. Ihre Tochter fünf Monate nach der Geburt für den ganzen Abend in die Obhut einer anderen zu geben tat Hilde beinahe körperlich weh, so eng fühlte sie sich mit ihr verbunden. Als sei die Nabelschnur noch immer da, nur unsichtbar. Bei ihrem ersten Kind hatte sie es nicht so stark empfunden, vielleicht weil sie sich mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter noch nicht abgefunden hatte.
Die Kutsche setzte sich in Gang, und die Räder knirschten über den Schnee. Das Weiß dämpfte alle Geräusche, die Stille war beinahe greifbar. Walter blickte aus dem Fenster, betrachtete den Schnee, der langsam seinen Zauber verlor. Schon begann es zu tauen, aus den Bäumen tropfte es, und auf den Gehwegen lagen abgebrochene Eiszapfen. Hilde lehnte die Stirn gegen das kühle Fenster und musterte die anderen. Die Amme hatte die Augen geschlossen, und Klein Beatrix gab leise, säuselnde Geräusche von sich. Walter schien Hildes Blick zu spüren, doch seine Miene blieb wie versteinert, als sei er im Geiste weit weg und wälzte schwere Gedanken.
»Betrübt Sie etwas, Walter?«, fragte Hilde.
Ihr Mann wandte den Kopf, den Blick in Schatten verloren. »Später.«
Hilde blieb eine Erwiderung im Halse stecken. Später? Was sollte das bedeuten? Wollte er nicht vor der Amme sprechen? Dann musste es ernst sein. Hilde ahnte, dass es nicht mit der Werft zu tun hatte, sondern mit ihr. Walter war unzufrieden mit seiner Frau.
Je länger die Fahrt andauerte, desto mehr fraß die Unsicherheit an ihren Nerven. Walter war kein gewalttätiger Mann. Ganz im Gegenteil. Er hatte sie noch nie angerührt, nicht einmal einen Klaps aufs Gesäß hatte er ihr je gegeben. Er war meist förmlich, stets höflich und zurückhaltend. Am ausgelassensten hatte sie ihn im Umgang mit den Kindern erlebt. Sie schienen sein großes Glück, auch wenn er sie behandelte wie zerbrechliches Porzellan und nicht wie die kleinen
Personen, die sie waren.
Hilde versuchte, in seiner Miene zu lesen, doch er blieb abgewandt. Fremd wirkte er, als trüge er eine Maske. Es dauerte quälend lang, bis sie ihr Haus erreicht hatten. Hilde stillte Beatrix und überließ sie dann zum Wickeln der Amme. Eine plötzliche Erschöpfung überkam sie. Es wäre ein Leichtes gewesen, ins Bett zu gehen und sich schlafend zu stellen, vielleicht sogar wirklich einzuschlafen.
Schlaf war ihr stets wie eine Befreiung vorgekommen. Wo andere sich im Bett wälzten und vor Sorge kein Auge zubekamen, flüchtete sich Hilde in das gnädige Vergessen, das sie in Morpheus’ Armen fand. So war es schon in Kindertagen gewesen, und so war es auch noch heute. Aber sie würde sich dem Gespräch stellen, das sie selbst erbeten hatte.
Sie fand Walter nicht im Schlafzimmer, sondern in seinem angrenzenden Arbeitszimmer, wo er den Großteil der wenigen Zeit verbrachte, die er zu Hause war. Er trug einen Hausmantel und saß in einem Ohrensessel, in dem er gern seine Korrespondenz durchsah. In der rechten Hand hielt er ein bauchiges Glas, an dessen Wänden sich goldene Flüssigkeit hinaufzog. Brandy. Hilde konnte keine Vorliebe dafür entwickeln.
»Hier finde ich Sie?«, sagte sie leise und setzte sich auf den zum Sessel gehörenden Fußhocker.
Walter sah an ihr vorbei. Entweder war er so sehr in Gedanken versunken, dass er seine eigene Frau nicht bemerkte, oder er ignorierte sie absichtlich. Hilde war sich sicher, dass Zweiteres der Fall war, was ihr einen Stich versetzte.
Sie legte ihre Hand auf Walters Knie.
»Mir ist heute so einiges klar geworden, Hilde. Unter anderem, wie dumm ich war. Habe mich zum Narren halten lassen, über Jahre.«
»Ich verstehe nicht …« Hildes Magen schien sich zu einem kleinen, schmerzenden Klumpen zusammenzuziehen. Sie verschränkte ihre Arme über dem Unterleib, und einen Moment lang wurde ihr wieder bewusst, was die Schwangerschaften mit ihrem Körper angerichtet hatten. Die gedehnte Haut mit den geröteten Linien, ihre verlorene Taille. Sie war nicht mehr schön wie früher. War ihr Gesicht immer schon etwas herb, so war ihr Leib doch anmutig gewesen. Doch das gehörte nun der Vergangenheit an.
Warum dachte sie nun überhaupt darüber nach? Verärgert über sich selbst, richtete sie sich auf und straffte die Schultern. »Sprechen Sie aus, was Sie betrübt, Walter, es ist schon spät«, sagte sie ruppiger, als sie vorgehabt hatte.
Walter musterte sie überrascht. »Mir ist klar geworden, weshalb sich unsere Kinder so ähneln, obwohl sie nicht vom selben Blut sind.«
»Sie kommen nach meiner Tante Hilde, die, nach der ich benannt worden bin und die Sie leider niemals kennenlernen durften«, spulte sie ihre übliche Antwort ab.
»Nein.«
»Nein?«, Hildes Stimme wurde unangenehm hoch.
»Lügen Sie mich nicht an!« Walter ließ das Glas kreisen, sah der goldenen Flüssigkeit zu, nahm einen Schluck Brandy und schmatzte abfällig. »Ich habe eine Frau geheiratet, die entführt und der Gewalt angetan wurde. So dachte ich zumindest. Ich habe ein Kind als meines angenommen, das nicht von mir gezeugt wurde, es gern getan, weil ich keine …« Er rang nach Atem und Worten gleichermaßen.
Hilde wollte sich verteidigen, doch sie konnte nicht, ohne sich in weitere Lügen zu verstricken.
»Heute Abend sah ich einen dritten Menschen, der meinen Kindern ähnelt. Und es war nicht Ihre verstorbene Tante.«
Hilde schluckte. Alles, was sie befürchtet hatte, war eingetroffen. Wäre sie nur allein zu Svantjes Fest gegangen oder, besser noch, gar nicht. Wie hatte Walter es nur herausgefunden? Sie hatte bis auf eine knappe Begrüßung kein unnötiges Wort zu Raik gesagt. War es wirklich nur das Aussehen? »Es könnte Zufall …«
»Hilde!«, schrie er, und ihr Stammeln fand ein jähes Ende. Walter wurde niemals laut. Doch er verhielt sich schon seit Stunden wie ein Fremder, und der machte ihr Angst.
»Wie soll ich denn nun mit Ihnen verfahren, Hilde? Und wie mit diesem Mann? Soll ich ihn umgehend aus der Werft entfernen lassen? Dafür sorgen, dass er in Hamburg niemals wieder eine Anstellung findet? Oder soll ich ihm danken, weil er mir gleich zwei Kinder geschenkt hat?«
Hilde erhob sich mit weichen Knien. »Ich werde zu meiner Mutter ziehen, bis Sie die Scheidung vorbereitet haben.« Ihr Kopf fühlte sich leicht an, als würde sie gleich zusammenbrechen. Irgendwie gelang es
ihr dennoch, einige Schritte zu gehen, auch wenn sie sich dazu am Schreibtisch abstützen musste. Aus. Es war aus; und alles nur durch einen dummen Zufall. Walter und Raik hatten in der Fabrik seit Jahren miteinander zu tun, und niemals war ihm etwas aufgefallen.
»Hilde!«, brüllte Walter, klirrend ging sein Glas zu Bruch. Ihre Beine waren wie festgefroren. Sie hatte bereits eine Hand an der Türklinke, aber zum Öffnen fehlte ihr die Kraft.
Er erhob sich, näherte sich. Würde er sie schlagen, wie der Vater Mutter geschlagen hatte? Hilde bereitete sich auf das Schlimmste vor. Wenn sie sich nicht rührte, würde er vielleicht schnell wieder von ihr ablassen.
Sein Atem streifte ihren Nacken. Er fasste sie grob an der Schulter und drehte sie herum, hob ihr Kinn, damit sie ihn ansah. Hilde zitterte. Walters Kiefer arbeiteten, während er sie musterte, offensichtlich irritiert von ihrer Reaktion.
»Fürchtest du dich vor mir?«, fragte er ruhiger, die übliche Förmlichkeit vergessend.
»Ich … ich … es tut mir leid«, stotterte sie.
»Erzähl mir die ganze Geschichte, Hilde. Wenn ich jemals wieder Frieden finden will, muss ich wissen, was zwischen dir und Alberts geschehen ist.« Der fremde, so furchteinflößende Zorn wich aus seinen Zügen, und auf einmal wirkte Walter beinahe zerbrechlich.
Hilde schloss für einen Moment die Augen, sammelte sich. Dann ergriff sie seine Hand. »Die Wahrheit?«
Er nickte. Sie führte ihn zurück zu seinem Sessel und setzte sich wieder auf den Fußhocker. Schweigend stieß er mit dem Fuß die Scherben zur Seite, nahm zwei neue Gläser und goss auch ihr ein Glas Brandy ein. Sie nippte daran und ließ die brennende Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrinnen. »Als ich entführt worden war, wütete die Cholera. Ich habe vorgetäuscht, krank zu sein, damit mich niemand anrührte. Die Männer bekamen Angst vor der Seuche und ließen mich zurück. Sie wollten mich in dem Keller sterben lassen. Ich hatte solche Angst! Es war dunkel, und ich roch, wie über mir Arbeiter die Straßen mit Chlor entseuchten.«
»Du hast mir niemals davon erzählt.«
»Du hast niemals gefragt.«
»Weil ich dachte, dass dir die Erinnerung wehtun würde.«
»Und so ist es auch! Raik fand mich nach zwei Tagen, er hat mich gerettet. Er hat sein Leben riskiert, dabei weißt du, dass Vater und er sich spinnefeind waren. Die Entführer entdeckten uns, und wieder hat er mich gerettet. Du kannst es nicht verstehen. Ich war so sicher, sterben zu müssen. Raik war wie ein Ritter aus einem Märchenbuch.«
»Und du hast aus Dankbarkeit mit ihm geschlafen.«
»Nein. Ich habe es getan, weil ich lebte und er lebte und überall um uns herum nur Tod war. Dort, wo wir uns verbargen, lagen Leichen auf den Straßen. Wir wollten uns lebendig fühlen …« Hilde ließ den Rest unausgesprochen, damit Walter es sich passend zusammenreimte. So kam sie um die Lüge herum, dass sie sich an jenem Tag nur geküsst hatten und erst Wochen später miteinander schliefen.
Sie nahm einen hastigen Schluck aus dem Glas, verschluckte sich und musste husten. »Ich habe dir vor unserer Ehe gesagt, dass ich schwanger sein könnte.«
Walter nickte. »Du hast nicht gelogen, aber mich auch nicht korrigiert, als ich annahm, woher das Kind kam.«
»Es war angenehmer als die Wahrheit.«
»Und … Beatrix?«
»Du hast recht, auch sie ist von ihm. Ich wollte mich nicht mit einem Fremden einlassen. Bei Raik Alberts war mein Geheimnis sicher, das hatte er in den vergangenen Jahren bewiesen. Und so sind sie Geschwister.«
Ein Schatten huschte über Walters Gesicht. »Also hat mein unsinniger Wunsch dich erneut in seine Arme getrieben.«
»Der Wunsch nach Kindern ist niemals unsinnig«, sagte Hilde weich. »Du liebst unsere Kinder, das weiß ich, und sie werden ein gutes Leben haben. Und was Raiks Arme angeht? Die werden wohl bald schon seine eigene Ehefrau halten, und das freut mich sehr für ihn.«
Walter beugte sich vor und rieb sich die Stirn. »Wie soll ich nur damit umgehen, Hilde?«
»Wie bisher auch. Hat Raik je etwas angedeutet?«
Er schüttelte den Kopf. »Niemals. Aber wenn wir am Verhandlungstisch sitzen, wie soll …?«
»Walter.« Hilde zog ihren Hocker näher, bis sie seine Hände halten konnte. Es war eine unerträgliche Situation für ihn, und sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie es ihr an seiner Stelle gegangen wäre.
Wenn er mit einer anderen Frau geschlafen hätte, weil sie keine Kinder bekommen konnte.
»Und wenn er es irgendwann gegen uns verwendet?«
»Das wird er nicht. Denn dann würde er auch seinen eigenen Kindern die Zukunft und ihr Erbe verderben. Unser Geheimnis ist sicher, ganz gleich, was geschieht.«
»Kennt er die Kinder?«, fragte Walter bitter.
»Er hat jedes einmal gesehen, Beatrix heute.«
»Ich habe ihn beobachtet, weißt du? Er dachte wohl, er sei unbemerkt. Stand neben der Decke, auf der die Kleine schlief, und hat sie angestiert. Hätte er sie angefasst … gnade ihm Gott. Aber er tat es nicht. Stand einfach nur da, und dann verstand ich plötzlich. Sein Profil ähnelt dem von unserem Heinrich. Ich dachte, mich trifft der Schlag, dann fielen mir mehr Ähnlichkeiten auf … Ich wollte ihn umbringen.«
Hilde zuckte zusammen. »Walter!«
»Und wie soll es nun weitergehen? Er setzt mir nach und nach ein halbes Dutzend Kuckuckskinder ins Nest?«
»Nur wenn du es möchtest«, erwiderte sie bissig. Ihre Angst war verflogen, und auf den nun frei gewordenen Platz in ihrer Seele setzte sich leiser Zorn. »Beatrix hätte es nie gegeben, wenn du nicht …«
»Es reicht.« Walter entzog ihr seine Hände und hob sie abwehrend. »Ich weiß, dass ich mir die Hörner selbst aufgesetzt habe. Vorerst kein Wort mehr darüber.«
»Versprochen«, sagte Hilde erleichtert und erhob sich. »Gehen wir zu Bett.«
»Geh nur, ich bleibe noch eine Weile.«
»Bist du mir böse?«
»Ich war dir niemals böse. Ich …«, stotterte er und sah flehentlich zu ihr auf. Da war so viel Schmerz in seinem Blick. Er schien seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. »Ich wünschte, ich könnte dir ein besserer Ehemann sein, ein vollwertiger …«
Hilde war im nächsten Augenblick bei ihm, setzte sich auf seinen Schoß, verschränkte ihre Hände in seinem Nacken und zog ihn zu sich. Mit geschlossenen Augen presste sie ihren Mund auf seinen. Es hatte noch nie Leidenschaft zwischen ihnen gegeben, doch nun küsste sie ihn und legte all ihre Gefühle hinein. Wie sehr sie ihn mochte,
brauchte, zu ihm gehörte. Einen Moment lang wehrte er sich gegen den Kuss, dann öffnete er die Lippen. Sie spürte den Puls an seinem Hals rasen.
Schließlich löste sie sich von ihm und sah ihm fest in die Augen. »Du bist mir ein sehr guter Ehemann, Walter Degen.«
Und damit ließ Hilde ihren verblüfften Gatten allein im Arbeitszimmer zurück. Ein Gewicht, schwer wie Blei, fiel von ihren Schultern. Walter wusste es, und er jagte sie nicht davon!
Als sie im Bett lag, allein unter der kalten Zudecke, musste sie an Raik und seine schöne Begleiterin denken. Wahrscheinlich war ihre jahrelange Liaison nun ohnehin vorüber. Hilde wusste nicht, ob sie es bedauerte. Nach Beatrix’ Geburt hatten sie sich noch nicht wiedergesehen, vielleicht auch deswegen, weil sie ihm ihren Körper nicht zeigen wollte.
Hilde berührte ihren Bauch, schob das schlaffe Gewebe hin und her und begann zu weinen.
Als Walter ins Bett kam, rückte er nahe an sie. Sacht strich er ihr über die Wange und nahm sie in den Arm. Er drückte sie an sich und gab leise, tröstende Geräusche von sich, bis ihre Tränen versiegten.
Sie mochte diesen Mann nicht lieben und ihn vielleicht niemals ganz verstehen, doch es gelang ihm, dass sie sich in seinen Armen geborgen fühlte. Walter war ihr Zuhause, und das war mehr wert als alles, was sie sich je von ihrer Ehe versprochen hatte.