16
Zwei Wochen später
»Hast du gehört, dass Frauen in Amerika nun das Wahlrecht fordern?«, sagte Hilde begeistert und schlürfte ihren Kaffee mit großem Genuss. Sie trank ihn süß mit viel Milch, gewürzt mit Kardamom und Zimt, wie es seit einigen Monaten in Friedrichs Büro üblich war. Es hatte nicht lange gedauert, bis Svantje den Geschmack lieben gelernt hatte, und auch ihre beste Freundin war der neuen Mode schnell verfallen. Sie hatte die Mischung sogar in ihr Elternhaus mitgebracht, wo sich die beiden Freundinnen am heutigen Tag getroffen hatten, da Frau Harkenfeld den Tag beim Schneider verbringen würde und es nun an Hilde war, in der Nähe des Vaters zu bleiben. Derzeit schlief er, und die Frauen hatten Zeit für sich, bevor in zwei Stunden eine Pflegerin kommen würde.
Hilde reichte Svantje eine Zeitschrift, ein dünnes Heftchen, das ihre Frauengruppe selbst herausgab. Darin war auch ein Flugblatt aus New York abgedruckt. Svantje studierte es fasziniert. »Glaubst du, sie werden Erfolg haben?«
»Irgendwann mit Sicherheit. Doch sie werden einen langen Atem brauchen. Vor vierzig, fünfzig Jahren hätte sich auch niemand vorstellen können, dass Frauen an der Universität zugelassen werden, und jetzt machen sie sogar Abschlüsse.«
»Wie recht du hast.« Svantje nippte an ihrem Kaffee und verbrannte sich fast die Lippe.
»Es fühlt sich stets merkwürdig an, hier zu sein.« Sie blätterte durch die Zeitschrift, schenkte den Artikeln aber kaum Beachtung. Ihre Gedanken kehrten zu der Zeit zurück, als sie ihre Freundin in diesem Haus kennengelernt hatte. »Es liegt so lange zurück, dass meine Mutter mich bat, sie für ein Jahr als Haushaltshilfe zu vertreten. Was war ich enttäuscht, weil ich meine Anstellung als Krankenschwester nicht beginnen konnte.« Mittlerweile hatte ihre Mutter die Anstellung aufgegeben.
»Ja, das waren noch Zeiten.« Hilde verzog abfällig den Mund. »Während mein Bruder dir half, wo er konnte, habe ich mich von meiner unausstehlichen Seite gezeigt. Ich schäme mich heute noch, wenn ich daran zurückdenke, und kann mich nicht oft genug entschuldigen.«
Hilde war eine launische, eingebildete junge Dame gewesen, die ihren Unmut gern am Personal ausließ. Erst hatte Svantjes Mutter leiden müssen, dann sie selbst. »Wer hätte gedacht, dass wir jemals Freundinnen werden?«
»Ohne dich und den kleinen Schubs von Richard wäre ich bestimmt selbst eine der Frauen geworden, die ich insgeheim wohl schon damals verabscheute. Ich hatte solche Angst vor der Zukunft.«
Svantje lächelte. Sie verstand Hilde gut. Auch sie hatte als junges Mädchen Zeiten durchlebt, in denen sie mit ihrer Zukunft haderte. Sie war wissenshungrig gewesen, wie es sich für ein Mädchen und besonders eines aus der unteren Schicht nicht schickte, und sie wollte sich nicht damit zufriedengeben, ihren Mann zu umsorgen und Kind um Kind aufzuziehen. Sie wollte ein sinnvolles Leben führen, die Welt ein wenig besser machen. Und genau das tat sie nun.
»Jetzt, da Wassili frei ist, musst du nicht mehr in die Gefängnisse. Da bist du doch sicher erleichtert?«, merkte Hilde mitfühlend an. Svantje hatte ihr mehrfach berichtet, wie schlimm die Lage in den Zellen und Massenunterkünften war.
Sie lächelte. »Ich denke, diese Frage wirst du dir selbst beantworten können, liebe Freundin, du kennst mich gut genug.«
Hilde schmunzelte und sah in ihre Kaffeetasse, als könne sie darin die Wahrheit lesen. »Natürlich machst du weiter.«
»Wassili freizubekommen und dem Richter von den Zuständen zu berichten war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Doktor Grahmer kann meine Hilfe gut gebrauchen, auch wenn ich jeden Gang hinter diese Mauern scheue. Wassili mag unschuldig gewesen sein, aber die meisten sind es nicht.«
»Dann lass sie dort verrotten!«, entfuhr es Hilde mit plötzlicher Heftigkeit. Ein Schatten lag über ihrem Blick, sie war blass geworden, dachte wohl wieder an ihre Entführung.
Svantje wusste, dass ihre Freundin diesen Männern den Tod wünschte, und ließ das Thema ruhen. Sie hatte schon viel Schreckliches gesehen, aber sie konnte nur ahnen, wie es für Hilde gewesen sein musste, tagelang in Todesangst im Dunkel auszuharren.
»Ich werde dem Doktor so lange helfen, bis ich meine Anstellung im Hospital wiederaufnehmen kann. Es ist eine gute Vorbereitung, und ich fühle mich nicht so nutzlos.«
»Du? Du bist niemals nutzlos! Hamburg könnte auf viele Menschen verzichten, aber doch nicht auf dich!«
»Wie lieb von dir, das zu sagen.«
»Und wie steht dein Mann zu deinen Plänen?«
Svantje zupfte an den engen Bündchen ihrer hochgeschlossenen Bluse. »Friedrich ist das Problem. Er will nicht, dass ich wieder arbeite, und ich brauche seine Zustimmung. Er sagt es nicht geradeheraus, aber er stichelt. Als würde ich irgendwann einknicken, wenn er es nur oft genug versucht. Durch den Erfolg des Ratgebers hat er ein weiteres Argument in der Hand. Das Buch ist einträglich, und mein Verleger hat mir angeboten, ich könne ein weiteres schreiben. Aber das will ich nicht. Für mich war das Schreiben immer nur ein Weg, mich zu beschäftigen, während ich gezwungenermaßen zu Hause herumsitzen muss. Sobald sich mir die Möglichkeit bietet, ins Klinikum zurückzukehren, werde ich es tun. Vorträge kann ich dennoch hin und wieder halten, aber nicht mehr so häufig wie in der Vergangenheit. Ich will auch nicht ständig mit Reportern darüber sprechen müssen, wie es ist, erfolgreiche Autorin eines Sachbuchs zu sein. Denn das bin ich nicht. Es war eine einmalige Sache, ich bin Krankenschwester, verflixt noch eins!« Sie seufzte. »Nun, für die nächsten Monate ist da erst einmal noch Clemens. Danach sehen wir weiter. Karoline ist schon ein richtig großes Mädchen, um sie mache ich mir keine Sorgen.«
»Du kannst dir eine Kinderfrau nehmen, das ist doch ganz üblich.«
»Wir haben ein Kindermädchen, und es verdient fast genauso viel, wie ich im Krankenhaus bekäme. Außerdem werfen das Buch und die Vorträge so viel Gewinn ab, dass ich davon ganz allein unseren Lebensunterhalt bestreiten könnte.«
Hilde blickte sie forschend an. »Aber darum geht es nicht, nicht wahr? Früher habe ich es nicht verstanden, aber jetzt weiß ich, dass du für diesen Beruf geboren bist. Du brauchst ihn wie die Luft zum Atmen. Clemens ist alt genug, du stillst nicht mehr, und deine Tochter ist unter der Woche in der Schule. Dein Friedrich sollte sich einen Ruck geben.«
»Da hast du wohl recht. Walter dagegen scheint dir noch immer alles zu erlauben, was du willst.«
»Das meiste nimmt er nicht ernst, denke ich, aber wir sprechen nicht darüber.« Hilde beugte sich vor und flüsterte: »Er hat es herausgefunden.«
Svantje wusste sofort, was sie meinte. Es war wie ein Schlag in den Magen. »O gütiger Gott! Das sagst du mir erst jetzt?«
Hilde blickte auf ihre Hände. Lächelte sie etwa? »Keine Sorge, ich sagte doch, er ist ein guter Mann. Ich erzähle dir irgendwann mehr. Hier in meinem Elternhaus fühlt es sich an, als hätten die Wände Ohren, auch wenn das nicht stimmt.«
Svantje musterte die vertrauten Räumlichkeiten. An den Wänden hingen Ölgemälde von Schiffen, die in der Harkenfeld-Werft gebaut worden waren. In einer Vitrine waren Modelle zu sehen, daneben Branntwein. Alles trug die Handschrift des Hausherrn.
Hilde horchte auf und erhob sich ruckartig. Im selben Moment ging in einem anderen Zimmer etwas zu Bruch. »Das kam aus dem Schlafzimmer, ich sehe nach.«
Svantje folgte ihr. Vielleicht konnte sie Hilde beistehen. Als sie das Zimmer des Kranken betrat, stand die Tür bereits weit offen. Harkenfeld senior war halb aus dem Bett gefallen. Mit dem Arm hatte er eine Waschschüssel von einem Tisch gerissen. Wasser und Porzellanscherben verteilten sich über einen kunstvoll gewebten Orientteppich. Der alte Mann röchelte und hielt sich mit letzter Kraft an dem Tischchen fest. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet. Ein Bein baumelte aus dem Bett, der Fuß blutete. Eine große Scherbe steckte noch in der Sohle.
»Vater«, stammelte Hilde. Sie war wie festgefroren.
Svantje stieß ihre Freundin an. »Los, hilf mir, ihn wieder ins Bett zu legen.« Sie kniete sich auf die Matratze, fasste Harkenfeld energisch unter den Achseln und zog ihn mit geübtem Griff von der Kante weg. Hilde nahm nach kurzem Zögern seine Beine. »Er blutet.«
»Das kann warten. Ich brauche Kissen.«
»Keine … Luft«, röchelte der Kranke.
»Ja, ich weiß, Ihre Lungen sind voll Wasser, Herr Harkenfeld. Gleich wird es besser.«
Hilde brachte alle Kissen, die sie finden konnte, und Svantje stopfte sie in Harkenfelds Rücken, bis er halb sitzend, halb liegend positioniert war. Er seufzte erleichtert und schloss die Augen, während sich seine Atmung beruhigte.
Svantje sah sich suchend um und fand auf einem Schminktisch eine Arzttasche. Sie enthielt nur, was für Harkenfelds Versorgung gebraucht wurde. Rasch nahm sie ein Stethoskop, entblößte die Brust ihres Patienten und hörte ihn ab. Ihr Verdacht bestätigte sich. Sie konnte das Wasser in seinen Lungen bei jedem Atemzug deutlich hören. Es würde dem alten Mann den Tod bringen. Sein Herz war so schwach, dass es seine Arbeit nicht mehr zur Genüge tun konnte. Je nachdem, wie schnell die Flüssigkeitsansammlung mehr wurde, würde es nur noch Stunden, mit viel Glück Tage dauern. Wobei Glück wohl die falsche Bezeichnung war.
Svantje erhob sich und fasste ihre Freundin an der Hand. »Komm mit!«
»Aber sein Fuß«, stotterte sie.
»Später.« Svantje führte Hilde vor die Tür und ein Stück den Gang hinunter. »Dein Vater ertrinkt. Seine Lunge füllt sich mit Flüssigkeit.«
»Kannst du ihm helfen?«
Svantje zog sie in ihre Arme. »Es tut mir leid. Gott wird ihn zu sich holen.« Hilde stieß einen erstickten Schrei aus. Schluchzer schüttelten sie, und Svantje spürte die Tränen, die ihre Bluse netzten. »Wir können ihm seinen Weg etwas leichter machen.«
»Wie?«
»Schmerzmittel. So viel, dass er keine Panik bekommt, wenn der Atem immer knapper wird. Und du solltest nach einem Geistlichen schicken. Jemand soll deine Mutter von der Schneiderei zurückholen, damit sie sich verabschieden kann.«
Hilde wischte sich über die Wange. »Den letzten Pastor hat er fortgejagt.« Sie lächelte traurig. »Er hat seine Suppentasse nach ihm geworfen.«
»Vielleicht ändert er seine Meinung noch. Geht es wieder?«
Hilde nickte. »Ja … ja natürlich. Bleibst du bei uns?«
»So lange du möchtest.«
Svantje verabreichte Harkenfeld gerade so viel Laudanum, wie sie guten Gewissens vertreten konnte, und sah zu, wie ihm die Augen zufielen. Gemeinsam mit Hilde hielt sie Wache, während die Flüssigkeit in den Lungen rasch stieg und er mit jedem Heben der Brust mehr kämpfen musste. Es ging schnell. Eine Gnade für den Kranken.
Hans Werner Harkenfeld hatte sich sehr verändert, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er war nur mehr ein Schatten seiner selbst, wirkte weitaus älter als die sechzig Jahre, die er zählte. Svantje kannte die Anzeichen des nahenden Todes. Sein Gesicht veränderte sich, die Haut wurde wächsern, die Nase spitz. Seine Augen waren umschattet und sanken tiefer in die Höhlen.
Hilde, die seine Hand hielt, bemerkte es auch. »Er sieht aus wie ein Fremder«, wisperte sie.
»Ja.« Svantje hörte ihn zum wiederholten Mal ab, als er plötzlich die Augen aufriss und einen tiefen Seufzer ausstieß. Unter dem Stethoskop verstummte der Herzschlag. Harkenfelds Blick zeigte einsetzende Panik. Er öffnete den Mund, rang nach Luft, bekam keine und zuckte. Hilde rief seinen Namen, wieder und wieder.
Svantje trat zurück. Sie konnte nichts mehr tun. Harkenfeld starb. Dieser schreckliche Moment gehörte ihm und seiner Tochter.
Eine Stunde später war Svantje allein mit dem Toten. Hilde lag im Wohnzimmer auf dem Sofa, eingewickelt in eine Decke, und trank von dem aufgewärmten Wein, den ihr die Haushälterin gegeben hatte.
Svantje wusch den Leichnam und machte ihn so zurecht, dass er für einen oder zwei Tage aufgebahrt bleiben konnte. Es machte ihr nichts aus, dafür kannte sie den Verstorbenen zu wenig. Für ihre beste Freundin verrichtete sie diesen Dienst gern, auch wenn sie lieber Hilde Beistand geleistet hätte. Warum nur war Frau Harkenfeld nicht längst zurück?
Mit warmem Wasser versuchte Svantje, die Züge des Verstorbenen zu glätten. Es war kein leichter Tod gewesen, und der Schmerz hatte seine Spuren tief in die Haut gegraben. Sie kämmte ihn und zog ihn an. Jemand hatte aus dem Garten Efeu und Farn gebracht, mit dem sie nun das Bett schmückte. Sie war gerade dabei, die Zudecke zu richten und seine Hände um ein Kreuz zu falten, als sie schwere, schnelle Schritte vernahm. Das war weder Hilde noch ihre Mutter. Vielleicht der Hausarzt? Er musste noch den Totenschein ausfüllen.
Svantje schluckte. Sicher würde er bemerken, dass sie sich an seiner Ausrüstung zu schaffen gemacht hatte.
Die Tür wurde aufgerissen, und herein stürmte Richard. Die Hände zu Fäusten geballt, blieb er am Bett stehen. Seine Schultern bebten in einer Mischung aus Trauer und Zorn. »Verdammt seien Sie, sich ausgerechnet jetzt davonzustehlen.«
Svantje hatte sich in einen Winkel des Zimmers zurückgezogen. Richard schien sie gar nicht zu bemerken. Sein Umgang mit dem Verlust war ein gänzlich anderer als Hildes. Er trat langsam näher und beugte sich vor. »Ich hatte Ihnen noch so viel zu sagen«, fuhr er leise fort. »Sie werden mich niemals unterkriegen, und Wassili haben Sie auch nicht vernichtet. Ich liebe ihn, hören Sie? Ich liebe ihn mehr als Sie. Ihr Reichtum ist mir egal, die Firma schert mich einen Dreck. Ich liebe einen Mann, und er liebt mich.«
Richard brach zusammen. Auf Knien begann er sich weinend hin- und herzuwiegen.
Seine Worte hatten Svantje erschüttert, aber nicht so sehr, wie sie es von einer solchen Nachricht erwartet hätte. Das war also die Wurzel von allem. Deshalb hatte der Patriarch seinen ältesten Sohn zum Teufel gejagt. Die Anklage gegen Wassili entsprach zum Teil der Wahrheit, und Harkenfeld hatte tatsächlich seine Finger im Spiel gehabt.
Svantje wusste nicht, was sie denken sollte. Richards Schmerz berührte sie. Einen Mann, der ihr stets stark, gerecht und unverwundbar wie ein Fels vorgekommen war, zusammenbrechen zu sehen war auf gewisse Weise schwerwiegender als Hildes Trauer. Es war ein Erdbeben.
Still stand sie da, während Richard sich nach und nach wieder fing. Er richtete sich auf, straffte die Schultern und trat ans Bett. Knapp berührte er zu einem letzten Gruß die Hand des Toten, dann drehte er sich um.
Ihre Blicke begegneten sich. Falls er darüber erschrak, sie zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken.
»Svantje«, sagte er gefasst und trat zu ihr.
»Ich hätte mich eher bemerkbar machen müssen, ich wollte dich nicht stören … nicht … nicht belauschen.«
»Ich habe mich vergessen. Du hast alles mit angehört?«
Svantje senkte den Blick, nickte. Ungeschehen machen konnte sie es nicht.
»Bin ich krank?«, fragte er leise. »Wenn es jemand weiß, dann du.«
Sie blickte ihm in die Augen. Was sollte sie antworten? Was an den Universitäten gelehrt wurde? Die Schulmeinung? »Wir kennen uns nun schon beinahe zehn Jahre, Richard. In all dieser Zeit habe ich dich als ruhigen, freundlichen und aufopferungsvollen Mann wahrgenommen. Du besitzt einen wachen, klaren Geist und einen großen Sinn für Gerechtigkeit. Du bist nicht krank. Fehlgeleitet vielleicht oder so geboren. Die Natur des Menschen hält mehr Geheimnisse und Rätsel bereit, als die Wissenschaft je erforschen kann. Ich habe Patienten gehabt, die nicht bei Sinnen waren, die zu Gewaltausbrüchen und Tobsuchtsanfällen neigten.« Svantje legte ihre Hand auf seinen Arm. »Du dagegen bist nicht krank, Richard. Nicht auf diese Weise. Auch wenn es für mich schwer zu begreifen ist und ich mich überwinden muss, meinen Gedanken zu Ende zu führen …«
Er hing gebannt an ihren Lippen, als sei sie eine Richterin, die über sein Schicksal entschied. »Es widerspricht den Lehren der Kirche und … und der Vernunft, aber ich kann nichts Falsches daran finden zu lieben. So vieles in unserer Gesellschaft ist im Argen. Die Leute setzen einander herab, verletzen sich, ermorden einander. Es gibt so viel Hass. Liebe ist nicht das Problem, Richard. Finde du für dich deinen Frieden damit. Bei mir ist dein Geheimnis sicher.«
»Danke.« Er küsste sie auf die Wange. »Du bist ein Geschenk, Svantje, und du hast eine ganz besondere Gabe. Ich bitte dich, bleibe dir stets treu.«
»Versprochen«, sagte sie.
»Versprochen«, wiederholte er leise und verließ das Totenzimmer. Svantje blieb allein mit der Leiche und ihren eigenen Gedanken zu Richards so zornig vorgetragenem Geständnis zurück. Es schien ihr fast, als habe er sich ihr womöglich nicht ganz so versehentlich offenbart, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte.
Sie würde ihn niemals verraten, auch wenn sie noch immer hin- und hergerissen war, wie sie über das Gehörte denken sollte.
Vieles ergab nun im Nachhinein einen Sinn. Die Vertrautheit der beiden Männer, der Riss, der die Familie Harkenfeld spaltete, und auch Hildes gelegentlich ausweichendes Verhalten. Ihre Freundin war über Richards Geheimnis im Bilde, und wie es schien, hielt sie fest zu ihrem Bruder.
Svantje wusste nur eins: Richard Harkenfeld war ein guter Mensch, ein Freund ihrer Familie, und alles darüber hinaus war seine Angelegenheit. Er war für niemanden eine Gefahr, wurde nicht zum schlechteren Menschen, nur weil er einen Mann liebte.
Svantje sah noch einmal zu dem Toten zurück, der den Hass auf seinen Sohn mit ins Grab nehmen würde, dann verließ sie leise das Zimmer.