17
Hamburg, Landungsbrücken
Mai 1913 – zwölf Jahre später
Svantje stand mit ihrer Familie an den Landungsbrücken, eingezwängt zwischen anderen Schaulustigen. Die große Schiffsparade war in vollem Gange. Die Marine fuhr alles auf, was sie besaß. Küstenboote, Kreuzer und Torpedoboote sowie etliche Begleitschiffe, deren Bezeichnung Svantje nicht geläufig war. Salutschüsse wurden abgefeuert. Auf den Decks standen Soldaten in schmucken Uniformen und winkten. Die Zuschauer reckten ein Meer kleiner und größerer Fähnchen und applaudierten bei jedem Salutschuss. Auf dem größten Schiff stand angeblich Kaiser Wilhelm II
. höchstpersönlich.
»Kannst du ihn sehen, Mama?«, fragte Karoline. Sie war nun achtzehn Jahre alt und ein Abbild ihrer Mutter, die in diesem Jahr ihren vierzigsten Geburtstag feiern würde. Sie trug ein zitronengelbes Kleid mit zarten Rüschen, ihr blondes Haar fiel in einem dicken Zopf bis zur Hüfte.
Für den heutigen Tag hatte sich die gesamte Familie herausgeputzt, auch wenn sie vor allem hergekommen waren, weil Clemens schon seit Wochen von nichts anderem mehr redete. Der Junge war begeistert von allem, was mit der Marine zu tun hatte. Zu Hause sammelte er kleine Modelle von Booten aus Blech oder Papiermaschee und verbrachte jede freie Minute am Hafen, um den Schiffen zuzusehen. Er trug Jacke und Hose, die an eine Uniform erinnerten, wie sie zurzeit in Mode waren.
Svantje empfand eine leise Sorge, wenn sie ihn so sah. Seit Jahren bereitete sich das Kaiserreich auf einen Krieg mit Frankreich oder Russland vor, im schlimmsten Fall beiden, da die Länder einen Pakt
geschlossen hatten. Auf den Weltmeeren verfügten nur Amerika und Großbritannien über größere Flotten.
Clemens riss seiner Schwester das Opernglas aus der Hand. »Du findest ihn nie!«, sagte er grinsend. Karoline stieß einen empörten Schrei aus und verpasste ihrem jüngeren Bruder eine Kopfnuss, der mit seinen vierzehn Jahren nur noch ein wenig kleiner war als sie. Er konterte mit einem Tritt vor das Schienbein. Die Ältere wich mühelos aus, und der Schuh traf nur das bauschige Kleid, wo er einen braunen Dreckstreifen hinterließ. »Mein Kleid!«
Ehe Svantje reagieren konnte, fasste Friedrich die Streithähne an den Schultern, zerrte sie zu beiden Seiten und stellte sich dazwischen. »Schluss jetzt, oder es setzt was.«
Es war höchstwahrscheinlich eine leere Drohung, doch sie verfehlte ihre Wirkung nicht.
Friedrich war kein Vater, der oft vom Riemen Gebrauch machte. Svantje konnte sich nur einer oder zwei Begebenheiten entsinnen, zu denen ihre Kinder eine Ohrfeige bekommen hatten, doch die waren offensichtlich nicht nur ihr in Erinnerung geblieben. Da Svantje seit nun fast zehn Jahren wieder im Klinikum arbeitete, und das oft bis tief in die Nacht, war Friedrich es gewohnt, die Streitigkeiten seiner Kinder zu schlichten.
Karoline stand nun zu Svantjes Rechten, ihr Kopf war hochrot, in den Augen schimmerten Tränen. Doch sie war stur wie ihre Mutter, und wenn sie beschlossen hatte, nicht zu weinen, dann würde sie es auch nicht tun.
Clemens, zur Linken seines Vaters, äffte seine Schwester kurz nach, dann setzte er das Opernglas an die Augen und suchte die vorbeiziehenden Schiffe ab. Eines war an den Seiten mit Fahnen behängt. »Da, da ist er!«, sagte er aufgeregt. »Er sieht genauso aus wie in der Zeitung, und er trägt eine prächtige Uniform.«
»Er ist Großadmiral der Marine«, meinte Friedrich und rieb ihm durch den dichten Schopf. »Kannst du die Orden und Tressen sehen?«
Clemens nickte andächtig. »So viele. Und wie die glänzen!«
Svantje hoffte im Stillen, dass seine Begeisterung für die Marine nur einer kindlichen Laune entsprach. Seit Jahren mehrten sich die Anzeichen, dass es Krieg geben würde, und sie wollte ihren Sohn nicht auf irgendeinem Schlachtfeld verlieren, ganz gleich für welches hehre
Ziel.
Ihr war jegliche Art von Krieg zuwider. Es gab auch schon so genug Leid in der Bevölkerung. Sie wünschte, der Kaiser hätte das Geld lieber für die Armen aufgewandt, die der wachsenden Industrie zum Opfer fielen und sich langsam zu Tode schufteten, während ihre Kinder wie die Fliegen starben.
Mit ihrer Einstellung war sie bedauerlicherweise recht allein. Das Gros der Bevölkerung war begeistert von der neuen Stellung in der Weltordnung. Das Kaiserreich war nun eine der Großmächte, und niemand schien sich vorstellen zu können, jetzt noch einen Konflikt zu verlieren, selbst wenn der Krieg an zwei Fronten geführt werden müsste.
Die Parade diente zweifellos dazu, die euphorische Stimmung weiter anzuheizen. Ja, die Flotte war beeindruckend, das musste Svantje zugeben, und wäre der Zweck der Schiffe nicht einzig die Vernichtung von Leben gewesen, hätte sie sie sogar schön finden können. Ein Raunen ging durch die Zuschauer, und wie eins wandten sie ihre Gesichter westwärts. Am Himmel zogen hohe Wolkentürme auf und warfen ihre Schatten auf die Stadt. Ein gewaltiges Luftschiff zog langsam und majestätisch über die weite Wasserfläche. Motoren dröhnten.
»Flugzeuge!«, rief Clemens aufgeregt und reckte sich auf Zehenspitzen.
Zuerst waren es winzige Punkte, wie ein Schwarm Vögel, der auffallend gleichmäßig flog. Es handelte sich um sechs Doppeldecker, die sich in zwei Gruppen aufteilten und in Keilformation über der Flotte und den Zuschauern kreisten.
Das tiefe Dröhnen der Luftschiffmotoren mischte sich mit dem helleren Röhren der Flugzeuge und echote in Svantjes Bauch. Ihr wurde mulmig zumute.
Friedrich, der schon seit ihrer ersten Begegnung ein ganz besonderes Gespür für ihre Stimmungen hatte, schloss sie von hinten in die Arme. »Was hast du?«, fragte er leise.
»Angst«, gab sie ebenso leise zurück.
Das Manöver lief schon seit den frühen Morgenstunden. Richard hatte seine Dragoner im Dunkel der Nacht aus den Betten werfen lassen. Gefolgt war ein Gewaltritt, wie ihn die jungen Männer und auch ihre Pferde noch nicht erlebt hatten, und das alles ohne künstliches Licht.
Nun hatten sie einen lichten Wald erreicht, schwer geschädigt von Windbruch und einem Brand, der nur wenige Monate zurücklag. Ein schwieriges Gelände für die Kavallerie, deren Aufgabe sich mehr und mehr wandelte, von einer Angriffstruppe hin zur Aufklärung. Die Kavallerie, wie es sie auf früheren Schlachtfeldern gegeben hatte, war nicht mehr. Gegen Maschinengewehre und Granaten kamen sie nicht an. Die kompakte Masse aus Leibern gab ein einziges großes, weiches Ziel ab. Nun versuchten sie, die Männer, so gut es ging, auf ihre neue Rolle vorzubereiten.
»Nur das russische Zarenreich setzt seine Kavallerie noch im klassischen Sinne ein«, dozierte Richards Vorgesetzter und blickte auf eine Karte, die vor ihnen ausgebreitet lag. Sie befanden sich in einem Schuppen, der als Kommandozentrale diente und von dem aus das Manöver koordiniert wurde. Es roch nach Stroh und altem faulem Heu, darunter nach verbranntem Holz und Asche. Richard spürte den langen, beschwerlichen Ritt in den Knochen. Jeder Muskel sehnte sich nach einem wohltuenden heißen Bad. Die Aussichten darauf waren in den nächsten Tagen gering bis unmöglich, zudem versprach das Wetter schlechter zu werden.
Richard beugte sich über die Karte. Sie zeigte das Deutsche Kaiserreich umgeben von seinen feindlichen Nachbarn. Russland hatte sich mit Frankreich zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet, was im Falle eines Krieges zwei Fronten bedeutete. Gerüchten zufolge würde das riesige Land im Osten lange für eine Mobilmachung benötigen, viel länger als Frankreich. Deshalb würden sie mit Glück zuerst nur die Westfront bedienen müssen. Falls der Schlag gewaltig und energisch genug ausfiele, könnten die deutschen Streitkräfte erst Frankreich besiegen und dann Russland.
Richard blickte zweifelnd auf die Karte. So einfach, wie es sich einige Politiker und Strategen ausmalten, konnte es nicht sein, ganz gleich, wie sehr Heer und Marine noch wachsen würden.
Die Karte wurde ersetzt durch eine topografische des umliegenden Landes. Sie planten, ein Gefecht auf französischem Boden zu
simulieren – ein Manöver, das nicht nur als Übung für seine Männer gedacht war, sondern auch als Test seiner eigenen Führungsqualitäten. Aus diesem Grund würde er ebenso wie die anderen Kommandanten nur einen Teil des Plans erfahren.
Richard rieb sich die Stirn und versuchte, sich zu konzentrieren, während der Stabsführer die Strategie erklärte.
Eine halbe Stunde später saß Richard wieder im Sattel. Seinem Pferd, einem großen Braunen, schien die kurze Pause gereicht zu haben. Während Richard die sechzig Mann musterte, die ihm zugeteilt waren, pflügte der Wallach mit den Vorderhufen den Boden. Die Ungebärdigkeit des Tiers zerrte an Richards Nerven, doch solange es seine Position hielt, ließ er es gewähren.
Er selbst spürte den langen Ritt noch immer. Er war keine zwanzig mehr, zwar kräftiger und vitaler als viele Männer in seinem Alter von zweiundvierzig Jahren, aber auch nicht mehr so jung, dass körperliche Anstrengung an ihm wirkungslos abgeprallt wäre.
Die meisten Dragoner machten einen mürrischen, aber fidelen Eindruck. Bei den Pferden sah es anders aus. Es waren einige alte Tiere darunter, und eins war so offensichtlich lahm, dass es selbst jemand ohne jeglichen Sachverstand bemerkt hätte.
Richard orderte sechs Mann, sich unter den Remonten neue Tiere auszusuchen und schnellstmöglich wieder anzutreten. Dann rückten sie ab, mit der vagen Order, westwärts zu reiten, bis sie auf eine Bahnlinie trafen. Irgendwo auf der Strecke dorthin würde ihre wahre Aufgabe und Prüfung verborgen liegen. In dem Szenario war die Bahnlinie für den Transport von Truppen und Nachschub elementar und musste auf alle Fälle verteidigt werden.
Richard teilte vier Vierergruppen als Aufklärer ein, während der Hauptteil der Dragoner gemeinsam zog. Sie führten drei leichtere Geschütze mit, die dem Feind nicht in die Hände fallen durften.
Eine halbe Stunde später hatten sie sämtliche Zeichen der Zivilisation hinter sich gelassen. Der Weg, dem sie folgten, war sandig und an vielen Stellen mit struppigem Gras bewachsen, das nach dem Feuer gesprossen war. Der Pinienwald, der hier einmal gestanden hatte, war reduziert auf verkohlte Stümpfe. Tausende reihten sich wie schwarze Grabsteine zu beiden Seiten.
Richard lief es kalt den Rücken hinunter. Die Umgebung war unheimlich. Auch wenn er nicht abergläubisch war, erschien ihm der verbrannte Wald wie ein unheilvolles Omen.
Die Männer ritten schweigend. Dennoch war die Luft voller Geräusche. Pferde schnaubten, Sattelzeug knarrte, und die Geschützwagen quietschten und klapperten.
Richard hielt Ausschau und entdeckte einen der vier Kundschaftertrupps. In der ausgebrannten Landschaft hatten sie es schwer, im Verborgenen zu bleiben, ohne sich so weit von der Hauptgruppe zu entfernen, dass sie Gefahr liefen, dazwischenliegende Feindesnester zu übersehen.
Nach einer Stunde, die ohne ungewöhnliche Vorkommnisse verstrich, erreichten sie grünes Heideland. Alle atmeten auf, auch wenn sie versuchten, es sich nicht anmerken zu lassen. Dann der Klang von Pferden im Jagdgalopp. Kundschafter. Dicht über den Hals ihrer Tiere gebeugt, rasten zwei Dragoner näher.
»Bereit machen!«, rief Richard. »Es wird ungemütlich.«
Die Männer rückten zusammen, legten ihre Waffen an, mit denen sie nur in die Luft feuern würden. Pferde wieherten nervös und begannen zu tänzeln, dann waren die Kundschafter bei ihnen. »Herr Rittmeister, ein Kilometer voraus, die Bahnlinie. Sie wird angegriffen. Feindliche Infanterie«, keuchte einer der beiden.
»Wo sind die anderen zwei Männer?«
»Gefangen genommen.«
Auch wenn es nur eine Übung war, schoss Richards Puls in die Höhe. Er würde weder seine Männer noch die Vorgesetzten enttäuschen!
Er hatte schon viele Übungsmanöver hinter sich gebracht, doch dieses war anders. Ein großer Krieg stand bevor. Ganz gleich, wie er darüber dachte, er würde kommen. Dieses Manöver sollte die Spreu vom Weizen trennen, und Richard wusste, dass er nicht zur Spreu gehören wollte. Wenn es darauf ankam, würde er sein Land mit dem Leben verteidigen.
Die Dragoner ritten so schnell, wie die Geschütze mithalten konnten. Richard sandte Reiter an die Flanken. Dann erklangen die ersten Gewehrschüsse und das tiefe Donnern von Kanonen.
Er griff die Zügel fester, während seine Gedanken unwillkürlich abschweiften, zurück zu dem Tag, als sein Vater ihm eröffnet hatte,
dass er ihn nach Berlin auf die Militärakademie schicken würde. Richard war damals todunglücklich gewesen, hatte sich einen ganz anderen Lebensweg gewünscht. Und doch konnte er sich heute keinen anderen mehr vorstellen.
Wie anders wäre sein Leben verlaufen, hätte er Wassili nie geküsst. Dann säße er nun im Büro seines Vaters hinter dem riesigen Schreibtisch und würde die Geschicke der Firma lenken. Vielleicht Auswandererschiffe bauen anstelle von Kriegsschiffen. Auf jeden Fall wären die Arbeiter besser dran. Aber die Werft wäre kleiner, hätte weniger Aufträge.
Doch der wahre Grund, weshalb er sich ein Leben ohne den Alltag im Dragonerregiment nicht mehr vorstellen konnte, hing mit seinem Leiden zusammen. Die strengen Abläufe halfen ihm, sich selbst, seine Gefühle manchmal tagelang zu vergessen. Er liebte die enge Struktur und den von Regeln geprägten Umgang zwischen den Soldaten. Sein Leben hier war wie ein Kokon, ein schützender Panzer, in den er sich einzwängen konnte, wenn es nötig war. Weit fort von der gesellschaftlichen Oberschicht Hamburgs stand er nicht mehr unter ständiger Beobachtung. Niemand, der infrage stellte, warum er noch immer Junggeselle war. Keine Feste, auf denen er vorgeben musste, jemand zu sein, der er nicht war.
Allerdings war er auch weit weg von Wassili. Sie schrieben sich regelmäßig unter falschem Namen, waren sich nach dessen Jahr im Gefängnis nur langsam wieder vertraut geworden.
Auch in dieser Hinsicht war die Entfernung der Garnison mehr Segen als Fluch gewesen. Wassili hatte die erbetene Zeit erhalten, um seine Seele zu heilen, soweit es möglich war.
Aber er blieb ein anderer. Stiller und in sich gekehrt. Manchmal, wenn sie zusammen waren, holte ihn die Erinnerung ein, und er glaubte sich wieder in den Händen seiner Peiniger. Auch jetzt zog sich bei diesem Gedanken alles in Richard zusammen. Wie gern hätte er einen Weg gefunden, Wassili diese Last zu nehmen. Doch das würde für immer unmöglich bleiben.
Der Gefechtslärm wurde lauter. Rauch stieg auf. Vier weitere Kundschafter preschten ihnen entgegen. »Sie haben sich eingegraben, Herr Rittmeister«, rief der erste schon aus einiger Entfernung. »Zwei Maschinengewehrstellungen.«
Richard erkannte die Falle sofort. Die eine Bemerkung während der Lagebesprechung hatte den Ausschlag gegeben. Klassische Kavallerieangriffe gehörten der Vergangenheit an. Er würde nicht geradewegs auf die Infanterie zuhalten und sich niedermähen lassen.
Blitzschnell passte er seine Truppe der Lage an. Sie würden nahe heranreiten, die Pferde zurücklassen und dann die gegnerische Stellung mit den Geschützen unter Feuer nehmen. Gleichzeitig sollte ein Teil der Dragoner in einem Bogen ausscheren und die Flanken decken.
Ja,
dachte Richard, genau das will der Stab sehen.
März 1914 – ein knappes Jahr später
Fassungslos blickte Friedrich auf den Stapel Briefe auf seinem Schreibtisch. Alle Umschläge waren geöffnet.
»Das war ich nicht«, sagte Wassili. Er stand neben seinem Freund und Vorgesetzten und musterte ihn aufmerksam. Friedrich war ein ruhiger, besonnener Mann, doch nun schlug er derart heftig mit der Faust auf den Tisch, dass ihm die Hand einen Moment lang taub wurde. Dann breitete sich darin ein beißender Schmerz aus. Er verzog den Mund. »Ein halbes Jahr bekommen wir keinen Funken Korrespondenz aus dem Zarenreich, und nun das?«
»Einige der Briefe sind monatealt, Friedrich. Alle waren geöffnet.«
»Aber warum?«, schrie Friedrich, auch wenn er die Antwort längst kannte. Er seufzte, stützte das Gesicht in die Hände und rieb sich die Stirn. »Sie können doch nicht allen Ernstes glauben, dass wir … ja, was eigentlich?«
»Spionieren.«
»Ich bin Tuch- und Rauchwarenhändler, Wassili. Wie sollte ich denn spionieren, selbst wenn ich wollte …«
»Du bist ein intelligenter Mann mit vielen Kontakten. Du handelst mit Luxuswaren und hast deshalb Verbindungen in höhere Kreise, auch politische. Es gäbe Möglichkeiten. So abwegig ist es nicht, wenn du es von ihrer Warte aus betrachtest.«
»Das will ich aber nicht«, erwiderte er trotzig, wohl wissend, dass er
sich aufführte wie ein beleidigtes Kind. Wassili stemmte die Hände in die Hüften und sah auf ihn herab. Sein Blick war ernst, wie immer. Der fröhliche Mann, der er vor seiner Gefangenschaft gewesen war, existierte nicht mehr. Etwas von ihm war in der Zelle gestorben.
»Komm, setz dich und wir versuchen gemeinsam, uns einen Reim darauf zu machen«, sagte Friedrich etwas ruhiger. In einer Stunde würde er zu einem Geschäftsessen erwartet, er und Svantje. Bislang war seine Frau noch nicht eingetroffen. Meist kam sie auf die letzte Minute, daran hatte er sich mittlerweile zähneknirschend gewöhnt.
Sie nahmen sich jeder einen Stapel vor und verfielen in Schweigen. Friedrich wurde das Gefühl nicht los, dass Teile des Schriftverkehrs fehlten.
»Victor Chernov würde niemals einen Brief grußlos beenden«, sagte Wassili, der die Schriftstücke in russischer Sprache übernommen hatte.
»Also stimmt es. Sie haben Teile einbehalten.«
»Hier ist eine Inventurliste für die Lieferung von letzter Woche. Sie war angeblich vollständig.«
Friedrich wusste sofort, was gemeint war. Es war eine umfangreiche Warenlieferung gewesen. Kaum ein Artikel war in einwandfreiem Zustand eingetroffen. Porzellanstücke waren zerbrochen, feine Holzkästchen verkratzt. Die Seidenballen rochen, als habe eine halbe Kompanie darauf uriniert, und die Pelze waren nass und faulig. Nur die Seide ließe sich mit viel Glück noch retten.
Friedrich hatte zuerst geglaubt, der Händler sei aus irgendeinem Grund unzufrieden mit ihrem Vertrag und habe ihnen absichtlich schadhafte Ware geliefert, um neu zu verhandeln. Nun wurde ihm klar, was wirklich dahintersteckte. »Ich denke, auch die nächsten Lieferungen werden schadhaft sein, so lange, bis wir keine Waren mehr aus Russland beziehen.«
»Wir haben Rücklagen, aber lang können wir das nicht durchhalten.«
»Wir müssen agieren, aber wie?« Friedrich rieb sich das Kinn. In seinem Inneren tobte es, doch äußerlich blieb er ruhig. Er hatte immer gewusst, dass er mit seinem Weg, direkt und ohne viele Zwischenhändler mit den russischen Produzenten Geschäfte zu machen, ein Risiko einging. Eigentlich war es ein Wunder, dass es trotz
der wachsenden Spannungen in den vergangenen Jahren so lange gut gegangen war.
»Wir müssen uns etwas überlegen. Vielleicht sollten wir nun doch Zwischenhändler einschalten. Die Belgier sind bislang neutral.«
»Oder Skandinavien«, meinte Wassili. »Oder beides. Die Rauchwaren über Helsinki, die Tuche über Belgien oder Italien. Einen Moment.« Er stand auf und trat an ein hohes Regal. Wassili führte die Auslandskontakte, seitdem Friedrich sich im Jahre 1892 für einige Monate komplett aus dem Familiengeschäft gelöst hatte, weil seine Eltern mit der Wahl seiner Ehefrau nicht einverstanden gewesen waren. Wassilis Gedächtnis war unschlagbar, und was er sich nicht merken konnte, fand sich garantiert unter seinen akribisch geführten Aufzeichnungen.
Es verstrichen nur wenige Minuten, da kehrte der Russe auch schon mit einem großen ledergebundenen Buch zurück. »Alle Kontakte, mit denen wir je geschäftliche Beziehungen geführt haben oder die es mir wert schienen, sie für die Zukunft zu vermerken«, beantwortete er Friedrichs fragenden Blick.
Er legte das Buch zwischen sie auf den Tisch und schlug es auf. Farbige Markierungen zeigten offenbar verschiedene Länder und Regionen an. Wassili wählte die Rubrik Italien und zog seine Brille aus der Hemdtasche. Seit zwei Jahren benötigte er die Sehhilfe, doch es war für Friedrich noch immer ein ungewohnter Anblick.
Er fuhr mit dem Finger eine Liste von Namen entlang. Unter jedem standen die Adresse, wichtige Kontaktpersonen, Handelsgüter und eine kleine Notiz. Darin enthalten war, ob der Händler zum Wucher neigte, pünktlich zahlte und wie Wassili mit ihm in Kontakt gekommen war. Börse,
stand dort, der Name eines Kontors und bei einem sogar Kartenspiel.
»Falls mir je wieder etwas zustoßen sollte, Friedrich, das hier ist mein Gedächtnis. Hier solltest du alles finden, was du benötigst, um meine Arbeit einem anderen anvertrauen zu können.«
»Sag so etwas nicht, geschätzter Freund.«
Wassili zuckte mit den Schultern. »Es sind schwierige Zeiten, in denen wir leben.«
Friedrich ging nicht weiter darauf ein. Der abweisende Gesichtsausdruck des Russen sagte klar und deutlich, dass er das
Thema nicht weiter vertiefen wollte. Seit seiner langen Gefangenschaft mied er Gespräche, die ihn daran erinnerten.
Sie diskutierten mehrere mögliche Handelspartner und engten den Kreis schließlich auf zwei Italiener ein, dann wandten sie sich Skandinavien zu. Statt auf Helsinki fiel ihre Wahl schließlich auf Stockholm. Über den kurzen Seeweg des Baltikums würden sie kaum Zeit verlieren und dennoch die Repressalien umgehen.
»Wir sollten unseren langjährigen Handelspartnern persönlich erklären, wie zu verfahren ist«, meinte Wassili schließlich. »Außerdem würde man unsere schriftliche Korrespondenz ohnehin abfangen. Ich hege keinen Zweifel, dass nicht nur auf unserer Seite scharf kontrolliert wird.«
Dass Russland ebenfalls mitlas, konnte Friedrichs Stimmung kaum noch weiter verschlechtern. Er runzelte die Stirn. »Ich kann nicht fahren, Vater braucht mich hier, und ich würde mich verdächtig machen. Ich will meine Familie nicht in Gefahr bringen. Lieber gebe ich das gesamte Russlandgeschäft auf.«
»Keine Sorge, ich fahre. Verdächtiger, als ich es ohnehin schon bin, kann ich mich nicht machen. Es ist sieben Jahre her, dass ich meine Eltern zuletzt gesehen habe. Mit deiner Erlaubnis spreche ich mit unseren Händlern und bleibe dann eine Woche länger.«
»Bleib in deiner Heimat, solange du willst, Wassili.«
Sie erhoben sich. Friedrich schluckte. Schon seit einer Weile ging ihm die Überlegung im Kopf herum. Es wäre egoistisch gewesen, länger zu schweigen. »Vielleicht solltest du auch gar nicht mehr wiederkommen, Freund. Ich sorge mich um deine Sicherheit.«
»Das kommt nicht infrage. Außerdem würde ich Irina nicht überzeugen können. Sie wurde in Altona geboren, Hamburg ist ihre Heimat.«
»Halte dennoch die Augen offen. Es könnte sein, dass ihr irgendwann gezwungen seid, das Land in Eile zu verlassen.«
Die große Standuhr, die den Eingangsbereich dominierte, schlug zur vollen Stunde. »Ich komme zu spät zum Essen«, sagte Friedrich erschrocken und zerrte am Kettchen seiner Taschenuhr, um die Uhrzeit zu überprüfen. Sie stimmte.
»Wollte Svantje dich nicht begleiten?«
»Ach«, schnaubte Friedrich verärgert, während er seine Jacke
überzog und loseilte.
Svantje stand am Operationstisch und zog einen weiteren Faden auf. In der Luft hing der überwältigende Gestank von Blut, metallisch, warm und beängstigend.
So viel Blut war verloren, dass selbst der allgegenwärtige beißende Desinfektionsgeruch nicht dagegen ankam. Eine Hilfsschwester wischte den Boden unter den Liegen und um Svantjes Füße herum, peinlich darauf bedacht, sie nicht zu stören oder gar anzustoßen.
Die elektrischen Lampen flackerten. Svantje seufzte und trat einen Moment lang zurück, dann musterte sie die beiden Ärzte am Nachbartisch. Heute Abend war sie im Operationssaal unter Freunden. Doktor Grahmer und Doktor Schawacht kümmerten sich konzentriert um ihren Patienten. Mit feinem Werkzeug schlossen sie eine Arterie am rechten Arm des Mannes, der ohne ihr Können verblutet wäre. Der alternde Arzt assistierte dem jüngeren, dessen Hände ruhiger waren. Grahmer schnitt und klammerte trotz der flackernden Lampen, und Svantjes Respekt vor seinem Können stieg noch etwas mehr.
Als das Licht wieder konstant schien, machte sie weiter. Der Mann, der vor ihr lag, war übersät von Schnitten. Hunderte kleine und ein Dutzend größere. Jeder blutete, und in den meisten fand sich der ein oder andere Splitter.
Die Ärzte hatten die tiefen Wunden versorgt, zertrennte Muskeln verbunden und Adern verschlossen. Svantje reinigte und nähte nun schon seit Stunden. Eine junge Hilfsschwester spülte kleinere Verletzungen und verband sie.
Als die beiden Männer ins Krankenhaus gebracht worden waren, glaubte niemand daran, dass sie das Unglück überleben würden. Sie hatten auf einem Kahn im Hafen gearbeitet. Ihre Fracht waren Fensterscheiben, die sie über ein Fleet direkt zur Baustelle brachten. Svantje wusste, wie überfüllt die schmalen Kanäle oft waren, auf denen Waren zu Lagerhäusern transportiert wurden, seien es Gewürze, Tuche, Sand oder Backstein. Soweit sie von den Kameraden der Verwundeten erfahren konnte, hatten sie die Glasscheiben mit
Seilwinde und Kran entladen, als das Boot von einem anderen gerammt wurde. Männer stürzten, die Halteseile, mit denen sie den Kurs der Ladung bestimmten, wurden verrissen, und die Scheiben gerieten in Schieflage. Eine nach der anderen glitten sie aus dem Netz und stürzten auf die Arbeiter herab. Einer war totgeschlagen worden, die anderen beiden rangen seit Stunden um ihr Leben.
Svantje nahm eine Lupe zur Hand, spülte eine Schnittverletzung auf der Brust ihres Patienten aus, tupfte sie trocken und konnte kurz zwei Glassplitter erkennen, bevor sich die Wunde erneut mit Blut füllte und sie überdeckte. Sie wiederholte die Prozedur und pickte im richtigen Moment die beiden Fremdkörper mit einer Pinzette heraus.
Mit leisem Klirren fielen sie in eine Schale, und Svantje atmete aus, nachdem sie die Luft vor Konzentration angehalten hatte. Geschickt vernähte sie den Schnitt und wandte sich dem nächsten zu.
Es verging eine weitere Stunde, bis sie endlich fertig war. Die Männer sahen aus wie Mumien, so viele Bandagen und Pflaster bedeckten ihre Körper. Doch sie würden leben.
Svantje legte den Kopf in den Nacken und ließ ihre Schultern kreisen. Nach der langen Zeit, die sie gebückt gearbeitet hatte, schmerzte nun alles.
Assistenten fuhren die Betten aus dem Operationssaal. Svantje überließ es ausnahmsweise anderen, das Besteck fortzuräumen und Pritschen und Instrumente auf den nächsten Einsatz vorzubereiten. Eigentlich hätte sie vier Stunden zuvor Feierabend gehabt, nun ging es auf elf Uhr zu.
Doktor Grahmer reichte ihr lächelnd ein kleines Glas. »Für die Dame einen Birnengeist, wenn es recht ist.«
Überrascht nahm sie den Schnaps entgegen. »Danke!« »Den haben wir uns alle verdient.« Schawacht und er stießen mit Svantje an, dann ließen sie ihre Gläser gegeneinanderklirren. »Glückwunsch zur gelungenen Operation«, sagte der Ältere. »Ach, Schwester Falkenberg, ich wünschte manchmal, Sie wären ein Mann oder hätten zumindest Medizin studiert. Dann könnte ich Grahmer hier zu meinem Nachfolger bestimmen und Sie zu seiner rechten Hand.«
Auch Svantje hatte diesen Gedanken schon hin und wieder im Stillen gehegt, umso mehr freute sie sich nun über das Kompliment ihres alternden Förderers. »Danke, Doktor! Doch dazu bin ich wohl zur
falschen Zeit geboren.« Sie lächelte schief und leerte das Glas in einem Zug. Süß brannte es in ihrer Kehle, und der intensive Birnengeruch vertrieb erfolgreich den Mief des Operationssaals.
Grahmer gähnte hinter vorgehaltener Hand, und dann lachten sie alle.
»Es wird Zeit, mich auf den Heimweg zu machen«, sagte Svantje.
»Ich fahre Sie«, meinte Schawacht knapp.
»Im Automobil?« Svantje hatte bislang nur davon gehört, dass der Arzt seit einer Weile eines dieser wunderlichen Gefährte sein Eigen nannte.
Zehn Minuten später stand sie neben der blitzenden Karosse. Alle Müdigkeit war vergessen. Die wenigen Male, die sie in einem Automobil gesessen hatte, waren ihr in besonderer Erinnerung geblieben.
Schawacht besaß ein älteres Modell von Mercedes, das sie schon häufiger auf den Straßen gesehen hatte. Es war dunkelrot lackiert. Allerlei Gerätschaften blitzten in poliertem Chrom.
Mit verrutschtem Hut betätigte der Doktor eine Handpumpe und murmelte erklärend, dass er damit vor dem Start den Druck im Motor erhöhte. Als das Fahrzeug schließlich qualmend und ratternd zum Leben erwachte, trat Svantje erschrocken zurück. Schawacht winkte sie heran, und sie stieg mit klopfendem Herzen ein. Mit einem Ruck setzte sich das Automobil in Gang, und los ging die Fahrt. Die Scheinwerfer erhellten die Nacht. Von den Fleeten war Nebel in die Straßen gezogen. Alles glänzte feucht, selbst der hier und da verstreute Unrat.
Streunende Hunde nahmen heulend Reißaus, sobald sich das Automobil näherte. Der Doktor fuhr langsam. Wenn Svantje ihn von der Seite ansah, meinte sie, ein heimliches Lächeln auf seinen Lippen zu entdecken. Ja, er genoss es, das Gefährt durch die nächtlichen Straßen zu lenken.
»Jetzt dort links«, dirigierte ihn Svantje. Sie hielt ihre Handtasche auf dem Schoß und stellte sich vor, wie es sein würde, selbst zu fahren. »Ist es schwierig?«
»Nicht allzu sehr. Schließlich habe ich es auf meine alten Tage auch noch gelernt.«
Das laute Motorgeräusch weckte sicherlich den ein oder anderen
aus dem Schlaf. Doch Svantjes schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Als sie sich ihrem Haus näherten, begann die Müdigkeit sie einzuholen. »Es ist wirklich Zeit, dass ich ins Bett komme«, sagte sie und gähnte hinter vorgehaltener Hand. »Schließlich sehen wir uns morgen um acht schon wieder.«
»Schlafen Sie sich aus, ich erwarte Sie nicht vor zehn, Schwester Falkenberg. Versprochen?«
Svantje erwiderte schmunzelnd: »Wenn der Herr Doktor es so wünscht, werde ich mich nicht widersetzen.«
Er drosselte die Fahrt und betätigte die Bremse. Der Motor knatterte leiser weiter. »Kommen Sie morgen bitte sofort in mein Büro, ich habe eine besondere Aufgabe, die ich nur Ihnen anvertrauen will.« Er klang nüchtern, richtig besorgt.
»Was soll ich tun?«
Er rieb sich seufzend durch den grauen Bart, in dem kein einziges braunes Haar mehr zu sehen war. Er neigte sich zu ihr, als befürchte er, belauscht zu werden. »Wir leben in unruhigen Zeiten. Ich habe Sorge, dass uns in Zukunft eine Unterversorgung an Medikamenten erwarten könnte. Wir müssen vorsorgen.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Bevor Sie Ihre Hilfe anbieten, sollten Sie wissen, dass wir uns in einer rechtlichen Grauzone bewegen. Sie müssten für unsere Sache lügen.«
Svantje ging in sich, überlegte. »Wenn es dem Wohl der Patienten dient und ich meine Familie nicht gefährde, bin ich dazu bereit.«
»Ich habe gehofft, dass Sie das sagen würden. Ich weiß, dass Sie damit betraut sind, die Medikamentenlisten zu führen und an die Leitung zu melden. Erhöhen Sie die Angaben und versuchen Sie zugleich, mit weniger auszukommen. Halten Sie Ihre Kolleginnen zur Sparsamkeit an. Die Differenz schaffen wir weg.«
»Weg?«
»Ich habe einen Lagerraum im Untergeschoss dafür vorgesehen. Sie erhalten einen Schlüssel, ebenso wie einige andere Personen, denen ich vertraue.«
»Sie erwarten einen Krieg«, sagte Svantje, und es war, als regten sich Schlangen in ihrem Bauch, die sich schmerzhaft wanden.
»Er wird kommen. Die Frage ist nur, wann.«
»Das macht mir Angst, Doktor.«
»Mir auch, aber ich fürchte, von uns gibt es nicht viele. Die meisten Leute, die man so reden hört, begeistern sich für die Idee eines großen, kurzen Krieges, der unseren Stand in der Welt verbessert.«
»Auch ein kurzer Krieg wird Tausende Menschen das Leben kosten.«
»Sie sagen es.«
Ihr Gespräch hatte ein natürliches Ende gefunden, zugleich ging im Haus ein Licht an. »Mein Mann ist noch wach«, sagte Svantje überrascht und war im Nu ausgestiegen. Sie verabschiedeten sich.
Mit hastigen Schritten eilte Svantje zur Haustür. Plötzlich konnte sie es kaum noch erwarten, ihren Friedrich in die Arme zu schließen. Sie wollte sich geborgen fühlen und einen Moment lang vergessen, dass ein Damoklesschwert über ihnen allen hing.
Mit lautem Knattern entfernte sich das Automobil, als die Tür geöffnet wurde. Friedrich wirkte übernächtigt und erbost. Ihm war anzusehen, dass er sich sehr aufgeregt hatte. »Wer sind Sie denn?«, fragte er schnippisch. »Ach, meine Frau, ich erinnere mich. Weißt du also noch, wo du wohnst?«
Svantje lehnte sich gegen die Tür. Jeglicher Wunsch, ihrem Mann nahe zu sein, war verflogen. »Ich verstehe nicht … Friedrich, ich hatte einen langen Tag.«
»Und ich etwa nicht?« Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Wohnstube. Svantje blieb allein zurück. Sie ließ sich Zeit, ihre Jacke aufzuhängen, zog ihre Schuhe aus und rieb sich die schmerzenden Füße.
Warum war Friedrich nur so ungehalten? Sie hatte seinen Zorn heraufbeschworen und hatte keine Ahnung, womit. Er sollte sich doch mittlerweile daran gewöhnt haben, dass sie manchmal unerwartet länger bleiben musste. Die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht.
Dann traf es sie wie ein Schlag. Hoch und heilig hatte sie ihm versprochen, an diesem einen Tag um jeden Preis pünktlich zu sein.
Mit einem mulmigen Gefühl folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Ihre bloßen Füße machten auf dem prächtigen Orientteppich kein Geräusch. Sie fand Friedrich in seinem Lieblingssessel sitzend vor dem Kamin mit weiß-blauen Delfter Kacheln. Um diese Jahreszeit blieb das Feuer aus. Auf dem Sims stand ein Strauß englischer Rosen, deren
süßer Duft sich mit der Würze kalter Asche mischte.
Friedrich starrte auf den Holzstapel im Kamin, als würde er dort Flammen sehen. Er hatte ihre Gegenwart bemerkt, aber er wandte sich nicht zu ihr um. Vermutlich hatte sie diese Behandlung verdient, und sie verfehlte ihre Wirkung nicht.
»Es tut mir leid, Friedrich.«
Er schnaubte abfällig. »Ich habe immer geglaubt, unsere Ehe wäre etwas Besonderes. Dass wir nicht nur Partner vor Gott, sondern auch Freunde sind. Ich muss mich getäuscht haben, denn auf echte Freunde ist Verlass.«
»Friedrich …« Ihre Stimme klang hilflos.
»Nein, lass mich ausreden. Es geht schon viel zu lange so. Heute Abend ist mir klar geworden, dass es dich schlichtweg nicht schert. Wir waren seit Wochen verabredet. Meine Gäste waren wichtig für uns, Svantje. Doch statt Geschäfte abzuschließen, habe ich mich zum Affen gemacht und mich verspotten lassen. Die Hamburger Geschäftswelt ist ein Dorf. Jeder hatte schon von dir gehört, von der Autorin, der widerspenstigen Krankenschwester, die ihren sozialen Aufstieg mit Füßen tritt, statt ihn glücklich anzunehmen.«
Ja, er hatte sie gebeten, ihn zu einem Abendessen mit den beiden Paaren im besten Restaurant der Stadt zu begleiten. Und sie hatte ihm ihr Wort gegeben, sich von ihrer besten Seite zu zeigen und artig Konversation zu betreiben. Versprochen, nicht über ihre Arbeit zu reden, sondern über Frauendinge, wie er es nannte. Hauswirtschaft, Gärtnerei, Klatsch und Tratsch, hübsche Nichtigkeiten. Für Friedrich war sie bereit, solche langweiligen Abende zu erdulden. Immerhin war das Essen gut, und für seine Firma waren derart private Treffen oft erfolgreicher als offizielle Termine im Büro.
»So schlimm kann es nicht gewesen sein«, sagte sie kleinlaut und trat an seinen Sessel.
»O doch, das war es sehr wohl, Svantje. Statt über Vertriebsmöglichkeiten für chinesische Tuche zu verhandeln, fand ich mich in der gewohnten Ecke wieder. Ich musste erklären, wo meine Frau ist, dabei wusste ich es selbst nicht genau. Dich entschuldigen, das tue ich viel zu oft. Ich sehe unsere Kinder bald mehr als du.«
»Du hast gewusst, worauf du dich einlässt, als du um meine Hand angehalten hast«, erwiderte sie gefasster. Ihre Sturheit hob das
energische Haupt.
»Nicht aber, dass du deinen Beruf über deinen Mann, über deine Familie stellen würdest. Auf die Frage, warum ich es dir nicht einfach verbiete, wusste ich keine Antwort. Warum sollte ich es dir nicht verbieten, Svantje?«
Tränen wallten in ihren Augen. Einen Moment lang wurden ihr die Knie weich. »Das kannst du nicht!«
»Ich kann sehr wohl. Es ist mein gutes Recht als dein Ehemann, besonders wenn du deine häuslichen Pflichten vergisst.«
»Das würdest du nicht tun.«
Er blickte zu ihr auf. Wo sie erwartet hatte, Zorn zu sehen, fand sie nur Schmerz und tiefe Erschöpfung.
Sie hockte sich neben ihn und legte ihre Hand auf sein Knie. »Es kommt nicht wieder vor. Ich habe es einfach vergessen, entschuldigen kann ich es nicht. Stundenlang habe ich den Doktoren geholfen, zwei Männer zu operieren. Es war ein schreckliches Unglück und ein Wunder, dass diese beiden überlebten, wo ihr Kamerad verblutete.«
»Sicherlich kein Wunder, sondern das Werk fähiger Hände. Du hast also Leben gerettet, während ich versucht habe, Geschäfte zu machen. Da ist es wieder, Svantje.« Er seufzte.
»Was denn?« Die Heftigkeit schwand aus ihrem Streit wie Licht am Abend.
»Ich bin ohnmächtig gegen dieses Argument. Auch mein Leben hast du gerettet. Sich vorzustellen, du wärst stattdessen essen gegangen … nein, dieses Argument kann ich nicht gewinnen.« Er klang traurig, aber gefasst. Der laute Teil ihrer Auseinandersetzung war damit zu Ende, aber versöhnt waren sie nicht. Es war ein weiterer Tropfen, nein, eher ein Guss, der seinen Teil dazu beigetragen hatte, dass das Fass irgendwann überlaufen würde. Svantje hatte Angst vor diesem Tag. Sie wollte das alles nicht, wollte nicht zwischen Familie und Beruf wählen müssen.
»Ich versuche, mich zu bessern, ich schwöre es. Solange es nicht um Leben und Tod geht, lasse ich bei Dienstende alles stehen und liegen.«
»Ich höre es, aber glauben kann ich dir nicht. Beweise es mir.«
»Versprochen. Ich tue nichts davon mit Absicht, Friedrich.«
»Ich weiß, und das macht es mir schwer, lange auf dich wütend zu sein. Doch wütend bin
ich.«
»Ich verstehe.« Sie seufzte. »Ich kann nur wiederholen, dass es mir leidtut. Ich hoffe, dass die Auswirkungen auf die Verhandlungen nicht allzu schlimm waren.«
»Ach.« Friedrich sah wieder auf den Kamin. Nicht einmal antworten wollte er ihr. Svantje schluckte. Es war also wirklich schlecht gelaufen. Wie sollte sie das wiedergutmachen?
Sie rieb sich die Schläfen, überlegte, obwohl sie eigentlich so müde war, dass ihre Augen brannten. »Wie wäre es mit einer Einladung, einem kleinen Sommerfest bei uns zu Hause, mit allen Geschäftspartnern, die dir wichtig sind. Ich reiche einige Tage Urlaub ein und organisiere alles. So kommt garantiert nichts dazwischen.«
Friedrich verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Du organisierst ein Sommerfest? Du? Das will ich sehen.«
Sie hielt ihm die Hand hin, als wolle sie ein Geschäft besiegeln. »Meine Wiedergutmachung.«
Er musterte sie quälend lange, dann schlug er ein. »Ich werde dich daran erinnern, Svantje.«
»Das brauchst du nicht. Ich fange gleich dieses Wochenende mit der Planung an.«
»Ich hoffe, du enttäuschst mich nicht wieder.«
Das war bitter. Ja, er ließ sie seinen Ärger spüren, und wahrscheinlich zu Recht. Viel zu oft hatte sie in den vergangenen Jahren versprochen, sich zu bessern, und war doch stets wieder in alte Muster zurückgefallen. Diesmal aber würde sie ihr Versprechen halten, und nicht nur, weil sie deutlich spürte, dass Friedrich wirklich kurz davor war, die Nerven zu verlieren. Svantje wollte es wirklich, denn er hatte recht. Sie waren Partner, und sie hatte sich nicht wie einer verhalten.
Friedrich beugte sich vor und küsste flüchtig ihre Wange. Es fühlte sich eher an wie eine Formalität als ein Friedensangebot. »Es ist spät, wir sollten zu Bett gehen. Morgen musst du ja bereits um sechs zum Dienst aufbrechen.«
»Morgen nicht. Der Doktor hat angeordnet, dass wir ausschlafen.«
»Guter Mann. War er das eben, dein Doktor Schawacht?«
»Ja, er hat darauf bestanden, mich zu fahren.«
»Das ist das Mindeste, was er tun kann. Versprich mir, dass du zu so später Zeit niemals allein nach Hause läufst. Nimm eine Droschke, das
Geld ist egal. Wenn dir etwas zustieße, würde ich des Lebens nicht mehr froh.«
»Versprochen.« Sie kuschelte sich an ihn und musterte ihn prüfend. »Da ist doch noch mehr, was dich besorgt, als nur das Essen mit deinen Geschäftspartnern und meine Unzuverlässigkeit.«
Sie musterte ihn lange, bis er nickte und seufzte. »Komm her, Lebensretterin.« Sie setzte sich auf seinen Schoß, er schloss sie in die Arme, und dann begann er seinen langen Bericht: von abgefangenen Briefen, subtilen Drohungen und zerstörten Warenlieferungen.
Svantje hörte zum ersten Mal in diesem Umfang davon und war erschrocken. »Deshalb war das Treffen heute besonders wichtig?«
»Ja, ich muss neue Geschäftswege ausloten, sonst sind wir bald ruiniert.« Er weihte sie in den Plan ein, die russischen Waren über andere Häfen zu importieren, und welche Rolle Wassili darin spielen sollte.
»Er ist in Gefahr«, schloss sie.
Friedrich nickte und rieb sich das Kinn. »Ich habe ihm nahegelegt, das Land auf Dauer zu verlassen, aber er weigert sich. Ich bin nur von Sturköpfen umgeben.«
»Vielleicht schätzt du sie ja einfach besonders«, erwiderte sie schmunzelnd und legte ihre Wange an seine Brust. Es war ein kostbarer Moment. Genau danach hatte sie sich beim Heimkommen gesehnt.
»Ich weiß, du kannst ein Geheimnis wahren«, begann sie. Dann berichtete sie Friedrich von Doktor Schawachts Plan, angesichts eines drohenden Krieges Medikamente zu hamstern. »Wie denkst du darüber, Friedrich?«
»Es ist eine weise Entscheidung aus Sicht des Doktors. Falls es wirklich dazu kommen sollte, wird die Front zuerst beliefert.«
»Es ist nicht erlaubt, Friedrich. Wenn ich erwischt werde …«
»… dann führst du nur eine Anweisung aus und stellst dich dumm.« Er sah sie beschwörend an.
»Wenn du denkst, es ist zu gefährlich, dann mache ich es nicht. Rate mir, denn ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.«
»Du
weißt nicht, was du tun sollst?« Er lachte leise auf.
»Verspotte mich nicht«, schalt ihn Svantje.
»Niemals«, sagte er lächelnd, dann wurde sein Blick wieder ernst.
»Wenn ich mir vorstelle, dass Karoline oder Clemens etwas zustieße und im Krankenhaus keine Medikamente für sie da wären … nein. Tue es, wenn du es wagst. Es ist ein richtiger Schritt.«
Svantje atmete erleichtert auf. »Dann gebe ich Doktor Schawacht morgen meine endgültige Antwort. Und beim Frühstück erzählst du mir alles von deinen Plänen für die Lieferungen. Vielleicht finden wir gemeinsam einen Weg. Was denkt dein Vater?«
Friedrich zuckte mit den Schultern. »Du weißt, dass wir unsere Zweige seit jeher voneinander trennen. Bislang ist sein Gewürz- und Kaffeehandel nicht betroffen, obwohl er aus englischen und französischen Kolonien importiert. Aber das scheint nicht so auffällig wie mein Russlandhandel.«
»Vielleicht solltest du dich für die nächste Zeit vermehrt an den Geschäften deines Vaters orientieren.«
»Vielleicht.« Friedrich gähnte, stand auf und hob Svantje dabei hoch. Sie klammerte sich kurz an ihm fest, dann stand sie wieder auf den eigenen Beinen. »Du und ich, wir finden immer einen Weg«, sagte sie und glaubte fest daran.