»Warum sind wir hier eigentlich alleine?« Ich starrte die weiße Wand vor dem Autofenster an. Der Scheibenwischer schaffte es fast nicht mehr, die Flocken beiseitezuschieben. Ben kroch im Schneckentempo voran, was sinnvoll war, denn es war nur noch grob zu erahnen, wo genau sich die Fahrbahn eigentlich befand. Eine Leitplanke gab es hier nicht. Und irgendwie auch keine anderen Autos mehr um uns herum.
Ben antwortete mit einiger Verzögerung. »Das könnte daran liegen, dass hinter Itzehoe die Autobahn gesperrt wurde.«
Mein Herz holperte, und leichte Panik kroch mir im Nacken hoch. »Was?«
»Ja, offenbar hat sich direkt hinter uns ein Lkw quer gestellt. Und nun ist da alles dicht. Das kam vor einigen Minuten in den Nachrichten. Da hast du mit ziemlich finsterem Gesichtsausdruck in die Schneehölle gestarrt und meditiert. Hast es wohl nicht mitbekommen.«
Ich ließ diese Information auf mich wirken und versuchte tief ein- und auszuatmen. »Dann sind wir offenbar auf uns alleine gestellt. Ich bin froh, mit einem Arzt zu reisen. Und Kekse haben wir auch noch. Leider sind meine Fähigkeiten als Liebesromanautorin in einem winterlichen Überlebenskampf nicht sehr hilfreich.«
»Du kannst mir nachher was vorlesen«, antwortete Ben leichthin, aber wenn ich mich nicht täuschte, schwang auch in seiner Stimme leichte Angst mit.
»Nachher?«, fragte ich argwöhnisch. Nachher wollte ich bei meiner Sippe sein, Unmengen der Bio-Gans verspeisen, die mein Vater seit gestern vorbereitete, und mindestens eine ganze Flasche Rotwein trinken. Um die kläglichen Reste des Christstollens runterzuspülen, die mein Bruder mir hoffentlich übrig gelassen hatte. Vermutlich waren es jetzt sowieso nur noch mikroskopisch kleine Krümel.
»Vielleicht sollten wir auch den nächsten Parkplatz ansteuern«, ließ Ben vernehmen, und ich blickte lauernd zu ihm rüber.
»Wieso sollten wir das tun?«
»Hm.«
»Bitte antworte mir.«
»Weil an meinem Auto eine rote Lampe neben dem Tacho leuchtet, die ich noch nie gesehen habe. Und die eventuell nichts Gutes bedeutet.«
Ich bekam vor Schreck Schluckauf. Dann drückte ich den Anruf meiner Mutter weg, die just in diesem Moment versuchte, mich zum 34. Mal zu erreichen. Ich konnte ihr einfach nichts sagen, das ihr mütterlich besorgtes Herz nicht in Hysterie verfallen lassen würde. Schließlich stand ich selbst kurz davor. Also atmete ich tief durch, steckte mir drei Vanillekipferl auf einmal in den Mund und kaute hektisch. »Da war ein Parkplatzschild«, nuschle ich mit vollem Mund.
»Bist du sicher? Meine Siri sagt, dass der nächste Parkplatz noch fünf Kilometer weit weg ist.«
»Ganz sicher«, antwortete ich. Jetzt wieder verständlich. Ich staunte selber, wieso ich dieses Schild im Weiß der dichten Flocken und der einsetzenden Abenddämmerung so klar hatte erkennen können.
Da wir nur noch in Schrittgeschwindigkeit unterwegs waren, dauerte es eine ganze Weile, bis endlich das nächste blaue Schild mit dem Hinweis auf den Parkplatz auftauchte. Hätten wir nicht aktiv Ausschau gehalten, wären wir daran vorbeigefahren, es wurde nämlich von Minute zu Minute dunkler. Wir rutschten langsam weiter, und Ben lenkte den Golf vorsichtig nach rechts, dorthin, wo er wohl die Ausfahrt vermutete. War sie auch. Allerdings war der Parkplatz als solcher nicht mehr zu erkennen. Einzig die hohen Bäume auf der rechten Seite ließen erahnen, was sich unter dem Schnee befand.
Der Golf, bei dem jetzt übrigens mehr als nur ein Warnlicht begonnen hatte, lustig zu blinken, pflügte sich einen Weg, rollte noch ein paar Meter und schaltete sich dann kommentarlos aus.
»Uff!«, untermalte Ben diesen erschütternden Moment mit dem passenden Laut.
»Heiliger Hollerbusch«, fügte ich hinzu. Und dann saßen wir im Dunklen. Im Schnee. Fernab der Zivilisation, während die Welt in Trilliarden von Schneeflocken versank. Und andere Menschen ihre Weihnachtsgans verspeisten, Lieder sangen, den Weihnachtsbaum betrachteten und sich sinnlose Geschenke überreichten. Mein Klingelton riss mich aus meiner Starre. »Hallo Mama.«
»Und? Wo seid ihr? Die Gans ist in einer Stunde fertig, sagt dein Vater, und so langsam müsstet ihr doch mal ankommen.« Ich verstand sie kaum, es knisterte in der Leitung.
»Wir sind jetzt auf einem sehr hübschen Parkplatz«, erklärte ich munter. »Alles ist tief verschneit. Noch nie in meinem Leben habe ich so viel Schnee gesehen. Es ist sehr schön!« Meine Mutter schrie auf, und ich hörte sie hektisch durch die Gegend laufen.
Offenbar hatte sie meinem Bruder das Handy in die Hand gedrückt, denn im nächsten Moment fragte Liam mich: »Wo GENAU bist du? Ich brauche eine exakte Angabe, damit wir die Polizei verständigen können.« Er klang, als hätte er das Notfallmanagement übernommen und würde jeden Augenblick die Kavallerie losschicken. Oder einen Heli. Er arbeitete bei der Sparkasse in Husum und hielt sich für außerordentlich wichtig. Immerhin hatte er sieben Mitarbeiter, und ich glaube, die waren immer sehr glücklich, wenn er mal nicht da war.
»Mann, reg dich ab. Die Autobahn ist gesperrt, und das schon eine ganze Weile.«
»WAS?«, brüllte er mir ins Ohr. »Ich hab dich nicht verstanden!«
Ich wiederholte, was ich gesagt hatte, diesmal langsam und laut.
»Was genau macht ihr dann auf der Autobahn, wenn sie gesperrt ist?« Seine Stimme war schneidend.
Matt ließ ich das Handy sinken und lauschte einen Moment auf Ben, der offenbar eine ähnliche Unterhaltung mit seinem Kumpel Max führte. Er brummte irgendwas und gab aufmunternde Laute von sich. Als er meinen Blick bemerkte, zuckte er die Schultern und seufzte bleischwer.
Als ich meinen Bruder wieder ans Ohr nahm, sprach der immer noch, während es zwischendurch immer mal wieder in der Leitung laut rauschte. Offenbar hielt er eine Rede vor meinen Eltern, wie genau die Rettung der kleinen Schwester nun vonstattenzugehen hatte.
»Liam!«, machte ich mich bemerkbar. »Wenn ihr eine Lösung gefunden habt, in der kein Helikopter vorkommt, ruf mich doch noch mal an. Ich muss jetzt auflegen. Mein Akku hat nicht mehr so viel Saft. Tschüss!« Da Ben sein Gespräch ebenfalls beendet hatte, fragte ich übergangslos: »Können wir hier erfrieren? Du als medizinisches Fachpersonal wirst diese Frage doch kompetent beantworten können.«
Ben starrte einen Moment aus der komplett verschneiten Windschutzscheibe, dann sagte er trocken: »Ich habe diverse Rettungsdecken im Kofferraum. Und wir können uns gegenseitig wärmen.«
»Ich habe Käse, meinen neuen Liebesroman und Bergkristalle«, erklärte ich, und meine Mitfahrgelegenheit nickte zustimmend.
»Prima!«
Und dann seufzten wir noch einmal. Verdammt! Einsam, verlassen und komplett eingeschneit den 24. Dezember auf einem abgelegenen Parkplatz zu verbringen, war aber auch wirklich ein Brett. Nie wieder wünschte ich mir Abenteuer!
Ich warf Ben einen Seitenblick zu. Tatsächlich hätte ich es mit meiner Begleitung schlechter treffen und mit einem übellaunigen, nach altem Bratenfett riechenden Kerl hier festsitzen können. Ich mochte Ben irgendwie. Wenn er mit seinem ansehnlichen Gesicht und dem verstrubbelten Look auch ein so wenig aussah wie die Covermodels der Liebesromane, die ich für diverse Verlage übersetzte. Aber nett war er allemal, und sollte aus irgendwelchen Gründen mein Herz stehen bleiben, konnte er mich auch gleich noch retten. Das war doch außerordentlich praktisch.
»Dann lass uns mal einen Plan machen …«, setzte Ben an, kam aber nicht weit, denn hinter uns tauchten plötzlich Scheinwerfer auf. Erschrocken drehten wir uns beide um. Da kam etwas Großes die Auffahrt zum Parkplatz hoch. Sehr groß.
»Ist das ein Schneepflug, der zu unserer Rettung geeilt ist?«, fragte ich und stellte erstaunt fest, wie piepsig meine Stimme klang. Es war aber kein Schneepflug, wie ich jetzt sah, sondern ein Lkw. Ein recht großer Lkw, der direkt neben uns hielt und den Motor ausmachte.
Ben und ich drückten gleichzeitig die Verriegelungsknöpfe der Türen, während sich jemand aus dem Lkw-Führerhäuschen quasi abseilte. Weil es wirklich hoch war. Der Jemand trug einen arktistauglichen Schneeanzug und eine Kapuze und wirkte auf den ersten Blick, als wäre er ohne große Probleme in der Lage, der Unbill dieser Naturkatastrophe zu trotzen. Im nächsten Moment klebte das Gesicht des Typen an der Fahrerseite des Golfs, und er klopfte so energisch gegen die Scheibe, dass Ben mir fast auf den Schoß sprang.
»ALLES GUT?«, brüllte der Kerl, und Ben fragte leise: »Ist der Bergkristall als Waffe zu gebrauchen?«
»ALLES GUT? HILFE?« Der Mann vor der Fensterscheibe fing an wild zu gestikulieren.
»JA!«, brüllte ich zurück, weil Ben sich immer noch nicht rührte. »ALLES GUT!« Was ja nicht stimmte, aber jetzt nichts zur Sache tat.
»Hält der gerade eine Flasche Wodka hoch?« Ben rutschte wieder näher zur Fahrerseite und starrte angestrengt in die Dunkelheit.
»Jep. Das ist Wodka, und er tanzt förmlich um die Flasche herum«, erwiderte ich. »Ob er ein Serienkiller ist?«
Ben grunzte. »Ich kläre das. Ich bin größer als er. Außerdem habe ich im Kofferraum ein paar Einwegskalpelle. Die sind höllisch scharf.« Bevor ich ihn aufhalten konnte, war er ausgestiegen, hatte aber die Tür wieder hinter sich geschlossen. Da die beiden jetzt nicht mehr ganz so laut sprachen und der Schneesturm ihre Worte einfach mit in die Dunkelheit nahm, verstand ich nicht, worum es ging, aber Bens Körpersprache erzählte ganze Romane. Er entspannte sich nämlich sichtbar, was ich als gutes Zeichen wertete.
Drei Minuten später öffnete er die Tür wieder und streckte den Kopf zu mir herein. »Das ist Jacek. Er bietet uns an, in seiner Fahrerkabine zu bleiben. Da ist es warm. Und es gibt Wodka. Meine untrügliche Menschenkenntnis sagt mir, dass er nicht vorhat, uns zu töten und zu essen.«
»Schön.« Ich war noch nicht ganz überzeugt, aber da ich seit einigen Minuten meine Füße nicht mehr spürte (zu kalt) oder irgendetwas sehen konnte (zu dunkel), musste sich an der Situation grundlegend etwas ändern.
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, die Beifahrertür zu öffnen, dahinter vermutete ich nämlich einen tiefen und komplett eingeschneiten Graben, sondern kletterte gleich durch die Fahrertür nach draußen.
Jacek freute sich offenbar, dass ich mich nun auch endlich herauswagte, denn er begrüßte mich mit einem Schwall Worte, von denen ich nur »warm« verstand. In Anbetracht der aktuellen Gesamtlage war »warm« allerdings ausreichend verheißungsvoll, und so folgte ich ihm.
Nacheinander kletterten wir in die erstaunlich geräumige Kabine des Lkws, in der es tatsächlich herrlich warm war. Jacek bot uns mit einer weit ausladenden Geste die besten Plätze, nämlich oberhalb des Fahrersitzes an. Hier war es nicht nur warm, sondern auch kuschelig und so sauber, dass man hätte vom Boden essen können. Meine Erleichterung war fast grenzenlos, als ich mich aus meiner Jacke pellte und kurzerhand auch noch aus den Winterboots schlüpfte, um meine Füße mit den Händen zu wärmen.
»Wie hast du es überhaupt bis hierher geschafft? Ein paar Kilometer hinter uns stehen die Lkws, die noch unterwegs sind, alle quer«, fragte Ben unseren Retter, der nur verächtlich eine Augenbraue hochzog.
»Ich bin Pole. Lkw ist auch Pole. Bisschen Schnee, lachen wir drüber.«
»Und was machst du hier? Heiligabend?«, fragte ich und nahm die Decke, die Jacek mir anreichte, dankbar entgegen. Sie duftete nach Rosen und Lavendel und war weich wie Seide. Jacek seufzte so schwer, dass ihm fast der Knopf von seiner wintersicheren Outdoorhose absprang.
»Verfahren«, sagte er dann und wirkte auf einmal furchtbar unglücklich. »Wollte längst in Polen sein. Bei Kind.« Noch einmal seufzte er. »Baby«, fügte er hinzu und hielt die Hände ein Stück weit auseinander, wohl um die Größe seines Nachwuchses anzudeuten. Jetzt erst entdeckte ich die vielen Kinderfotos, die überall an den Wänden seines Lkws hingen. Ein kleines pausbackiges Mädchen strahlte mir aus jeder Ecke entgegen.
»Da hast du dich aber doll verfahren«, sagte Ben, und Jacek schnaubte.
»Chef wollte noch eine Ladung, Ladung hatte Verspätung, bin ohne Ladung gefahren, Navi kaputt, Chaos, alle Straßen gesperrt, jetzt hier«, fasste er seine Situation zusammen und rieb sich die Augen. Ein wenig unbeholfen tätschelte Ben ihm die Schulter.
»Wir haben Käse und Liebesromane. Vielleicht sollten wir das Weihnachtsmenü zusammenstellen«, sagte er. Jacek nickte und sagte verschmitzt: »Ich habe Weihnachtsbaum!«
Hatte er wirklich. Der Weihnachtsbaum kam aus einer Pappschachtel und bestand aus rosafarbenem Plastik. Wenn man ihn aufstellte, was Jacek auf dem riesigen Armaturenbrett tat, ihn entfaltete und dann an den Zigarettenanzünder anschloss, fing er an, in den wildesten Farben zu blinken. Ich hatte selten etwas Hässlicheres gesehen, aber trotzdem schaffte das Ding Ambiente. Wie in einem Puff. Aber immerhin Ambiente. Jacek zumindest schien das sehr glücklich zu machen. Uns irgendwie auch. Wir waren glücklich, bis irgendwann das leise Brummen des schweren Diesels erstarb. Jacek gab einen unartikulierten Laut von sich. Dann sagte er emotionslos: »Sprit alle. Auch polnischer Lkw braucht Sprit.«
»Halleluja«, murmelte ich und zog mir die Decke fester um die Schultern.
»Weniger gut«, murmelte auch Ben und rückte ein kleines Stück näher an mich heran. Mein Handy klingelte erneut, und ich nahm das Gespräch entgegen. Mein Bruder schnaufte mir ins Ohr: »Die Polizei sagt, sie können vorerst nichts tun. Die Straßen sind dicht, und sie sind mit anderen Dingen beschäftigt. Sie versuchen, euch mit einem Trecker zu bergen.«
»Uns geht es gut«, erkläre ich fest. »Wir sitzen bei Jacek im Lkw. Er hat einen Weihnachtsbaum. Und Wodka. Nur leider keinen Diesel.« Wie aufs Stichwort reichte Jacek mir gerade einen ganzen Kaffeebecher voll mit Wodka.
»Was?! Ihr wisst doch gar nicht, wer der Typ ist!«, zischte mein Bruder mir ins Ohr. »Trink das nicht. Vielleicht sind da K.-o.-Tropfen drin und der Typ will euch entführen! Organisierter Menschenhandel! Uh! Ah!«
»Äh. Nein. Eher nicht. Gib mir mal Mama.«
»Uh! Ah!«, macht er noch dreimal, aber dann hatte ich meine Mutter am Telefon. »Papa hat schon den Trecker fertig gemacht. Bereit zur Bergungsmission. Ich kann ihn nur mit Mühe davon abhalten. Er würde euch ohnehin nicht finden, mal ganz davon abgesehen, dass der Fendt wohl mehrere Tage bis zu euch bräuchte.« Wir schwiegen beide einen Moment, um das Engagement meines Vaters zu würdigen. Es war doch schön zu wissen, dass er mich retten würde – wäre er nicht immer noch beinahe fünfzig Kilometer entfernt und hätte die Orientierungsfähigkeit einer Weinbergschnecke.
»Mein Schatz, haltet ihr es dort aus?«, fragte meine Mutter schließlich besorgt.
»Klar«, sagte ich fest. »Wenn ihr mir was vom Christstollen überlasst!«
»Ich schneide gleich ein Stück ab und verstecke es«, versprach sie mir mit gedämpfter Stimme. Das war sehr nett und leider auch dringend notwendig. Dieser Christstollen war in unserem Haushalt so kostbar wie Gold. Ein wirklich knappes Gut. Jeder versuchte heimlich das größte Stück zu bekommen, und sogar die Krümel wurden hinterher wie durch menschgewordene Staubsauger inhaliert.
Kaum hatte ich aufgelegt, musste ich anstoßen. Mit Wodka, der mir die Speiseröhre hinunterbrannte und mein Hirn in Watte verwandelte.
»Jacek!«, rief Jacek fröhlich. Die plötzliche Schweigsamkeit wegen Diesel-Mangels schien er überwunden zu haben.
»Ich bin Ben«, grinste Ben.
»Lucy«, sagte ich und unterdrückte einen leichten Rülpser.
Wir stießen erneut an.
»Was machst du?«, fragte Jacek jovial an Ben gewandt und legte die Beine auf den Beifahrersitz. Wir gingen offenbar zum gemütlichen Teil des Abends über. Unsere Optionen waren ja auch beschränkt.
»Ich bin Arzt.«
»Oh!« Jacek nahm augenblicklich Haltung an. »Doktor!« Erneut hob er die Tasse, und wir mussten schon wieder anstoßen. Wenn das so weiterging, war ich in unter zehn Minuten stockbesoffen.
»Und du?«, fragte Jacek mich.
»Ich schreibe Bücher. Und übersetze Romane.«
»Oh!« Er kam gar nicht mehr raus aus dem Staunen. »Hoheit!« Wir tranken erneut, und ich war mir nicht sicher, ob Jacek mit meinem Beruf etwas anfangen konnte. Vielleicht hielt er mich für eine Prinzessin? Und dann klingelte sein iPad, und seine Familie wollte mit ihm sprechen. Es waren sehr viele Polen auf der anderen Skype-Seite, und sie alle sprachen sehr schnell und sehr viel. Aber Jacek versäumte nicht uns vorzustellen. Als den »Doktor!« und die »Hoheit!«
Ich lehnte mich derweil an Ben, und der legte den Arm um mich. Ob es am Wodka lag? Jedenfalls hätte ich mich sonst sicher niemals einfach so von einem fremden Typen in den Arm nehmen lassen. Und auch Ben wirkte nicht wie jemand, der ständig Körperkontakt zu fremden Frauen suchte. Aber es war immerhin ein Notfall, beruhigte ich mich. Schließlich hockten wir beide gemeinsam unter der seidenweichen Decke, um nicht zu erfrieren, und bildeten für diesen Abend sozusagen eine Zweckgemeinschaft.
Ich schloss die Augen und spürte den Alkohol in meinem Organismus kreisen. Bens Körper war fest und warm, und ich überlegte, wie lange es her war, dass mich jemand so in den Arm genommen hatte – freundschaftlich, wärmend, und ja, ein wenig – beschützend?
Jacek sprach noch eine Weile mit seiner Familie, die immer wieder in grotesken Standbildern einfror. Und gerade als sein kleines Mädchen in die Kamera gluckste, brach die Verbindung ganz ab, worauf Jacek ein wenig weinen musste.
Wir klopften ihm tröstend auf die Schulter und lauschten dem Gedudel aus dem Radio. Bis Jacek es abschaltete und den Weihnachtsbaum ausknipste. »Wegen Batterie«, seufzte er, und so blieb uns nur, auf die ewig fallenden Flocken vor der Windschutzscheibe zu blicken und der Stille zu lauschen. Ich lehnte den Kopf an Bens Schulter und war froh, dass mir wenigstens nicht mehr kalt war. Die Situation war wirklich schwierig, aber immerhin waren wir nicht alleine. Es war sogar ganz friedlich, hier zu sitzen.
Der Frieden währte genau so lange, bis es an die Fahrerseite klopfte und ein Gesicht hinter der Scheibe auftauchte. Wir zuckten alle furchtbar erschrocken zusammen.
Klugerweise riss Jacek die Tür nicht auf, denn dann wäre das Gesicht samt Mensch zwei Meter tief abgestürzt, sondern öffnete nur das Fenster ein kleines Stück. Das Gesicht sprach mit uns, aber wir hörten nichts, weil der Schneesturm jetzt nicht mehr nur weiß, sondern auch noch laut war.
»Kann ich Tür nicht aufmachen!«, brüllte Jacek und machte – zugegeben ein paar seltsame – wedelnde Bewegungen mit der Hand, womit er wohl meinte, dass er dem Kerl die Tür sonst an den Schädel schlagen würde. Aber der Mann dachte, wir wollten ihn loswerden. Er schüttelte hektisch den Kopf, klopfte noch fester an die Scheibe und brüllte irgendetwas. Es war durchaus ein tumultartiger Zustand. Schließlich war es Ben, der mit präzisen Worten in Endlautstärke klarmachte, dass die Tür nicht aufging, solange der Kerl dahinterstand. In zwei Meter Höhe. Und so kletterte der endlich runter, und Ben und Jacek kletterten hinterher. Ich schloss die Tür hinter den beiden und klemmte mich an den schmalen Spalt, um nur ja nichts zu verpassen. Wer hätte gedacht, dass hier heute Abend noch mal was Spannendes passieren würde?
Von meinem Beobachtungsposten aus konnte ich allerdings leider kein Wort von dem verstehen, was die drei Männer tief unter mir besprachen, und musste warten, bis sie dann zurück zu mir in die Kabine kletterten. Der klopfende Kerl entpuppte sich als waschechter, leicht übergewichtiger Friese mit einem freundlichen Mondgesicht. Der uns zur Rettung geeilt war. Halleluja!