Kapitel 11

In der Nacht weckte mich ein lautes Bellen. Aus einem tiefen Traum gerissen, wusste ich erst gar nicht, wo ich war. Alles schien für einen Moment fremd. Dann landete ich unsanft in meinem Bett in Bredenhofe und richtete mich schlaftrunken auf. Helmut bellte. Immer wieder der gleiche Ton. Ein tiefes Wuff, das in einem heiseren Krächzen endete. Irritiert starrte ich ihn einen Moment lang an. Helmut klang, als gäbe es einen Notfall. Ich schlug die Decke zurück und setzte mich hin. Der Hund bellte weiter. Sein Bellen hatte etwas so furchtbar Dringliches, dass ich kurz entschlossen mit beiden Beinen gleichzeitig aus dem Bett sprang. Helmut stürmte aus dem Zimmer. Ich schlüpfte in meine dicke Strickjacke und die gefütterten Winterstiefel, die ich klugerweise vor meinem Schlafzimmer hatte stehen lassen, und folgte ihm. Helmut flitzte für sein sonst übliches Phlegma ziemlich zügig die Treppe hinunter, direkt durch die nur angelehnte Haustür.

Ich griff mir eine der beiden Taschenlampen, die wir von Dorle geerbt hatten, und trat hinter ihm hinaus auf den Hof. Helmut war schon in der Scheune verschwunden, bellte aber dort energisch weiter.

Kurz zögerte ich, dann lief ich noch einmal ins Haus zurück und packte die zweite Taschenlampe fest am Griff. Das Ding war so schwer wie ein Feuerlöscher und sicherlich auch als Waffe zu benutzen. Falls das nötig sein sollte. Ich wusste ja nicht, was Helmut so als Notfall einstufte, vielleicht hatte er einen Einbrecher entdeckt.

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Ein wenig langsamer folgte ich dem Hund jetzt in die stockfinstere Scheue. Es roch nach altem Heu, trockenem Holz und Staub. Helmut wuselte aufgeregt dicht neben dem zweiten Tor zur Obstwiese herum, und ich richtete den Schein der Taschenlampe in seine Richtung. Da saß jemand. Auf dem Boden. Mit dem Rücken zur Wand, die Beine angezogen.

»Hallo?«, rief ich wesentlich energischer, als mir zumute war, und für einen Moment erwog ich den Gedanken, Ben zu Hilfe zu holen. Oder Millie. Oder gleich Fredo. Doch dann erkannte ich das Häuflein Mensch, das dort kauerte.

»Ben«, sagte ich erstaunt und eilte mit wenigen Schritten auf ihn zu, aber Ben reagierte nicht. Er trug immer noch das blaue Hemd und die Jeans vom Nachmittag.

»Was ist passiert?« Ich kniete mich neben ihn und berührte ihn an der Schulter. Dabei überlegte ich fieberhaft, wo wohl mein verdammtes Handy war. Vermutlich hatte ich es in der Küche ans Ladekabel gehängt. »Ben!« Ich rüttelte an seiner Schulter.

Endlich blickte er auf. Sein Atem ging schnell und bildete kleine Dampfwölkchen in der kalten Märznacht.

»Hast du dich verletzt?« Panisch sah ich mich nach einer Blutlache um. Und der Axt. Aber es war nichts zu sehen. Ben schüttelte den Kopf. Sah man so aus, wenn man einen Herzinfarkt hatte? Hatte Ben gerade einen Herzinfarkt?

»Ich rufe den Notarzt«, erklärte ich. Ben streckte die Hand aus, verfehlte mich aber. Wieder schüttelte er den Kopf. Vielleicht war er nicht mehr Herr seiner Sinne? Auch wenn er Arzt war, konnte er diese Situation richtig einschätzen?

»Alles okay«, sagte er mit schwacher Stimme, und ich hockte mich zu ihm auf den kalten Boden. In seinen Augen lag ein gehetzter Ausdruck.

»Okay sieht anders aus«, erwiderte ich, brachte meine Beine, die immer noch ins Haus rennen wollten, aber erstmal zur Ruhe.

»Das ist …« Er schien nach Worten zu suchen, aber keine zu finden.

»Hattest du das schon mal?«, fragte ich, und Ben nickte, jetzt mühsam um Atem ringend. Seine Hand schloss sich um meine. Seine Finger zitterten, und so hielt ich sie ganz fest. »Wir müssen reingehen«, sagte ich. »Es ist zu kalt hier draußen.« Ben atmete zu schnell, und im Schein der Taschenlampe, die ich neben uns gelegt hatte, konnte ich Schweiß auf seiner Stirn glitzern sehen. Das war der Moment, in dem ich es wirklich mit der Angst bekam. Wir hockten hier im Nirgendwo, und Hilfe war weit weg. Ich wusste nicht, was zu tun war. Wenn Ben jetzt etwas passierte, würde ich mir das nie verzeihen. Es lag alles in meiner Hand.

»Ich möchte einen Arzt rufen, Ben«, sagte ich und bemühte mich, das Zittern aus meiner Stimme herauszuhalten. Wieder schüttelte Ben den Kopf. Dann sagte er, und ich schwöre, dass seine Zähne dabei klapperten: »Ich habe eine Panikattacke.«

Darüber wusste ich ungefähr so viel wie über Herzinfarkte, aber ich war mir doch sicher, dass man daran nicht starb. Zumindest nicht unmittelbar. Helmut hatte sich bisher dezent zurückgehalten, mischte sich jetzt aber ins Geschehen ein, indem er sich zwischen uns drängte und Ben ausgiebig beschnüffelte. Erst wollte ich den Hund wegschieben, doch Ben hob eine Hand und vergrub sie in Helmuts dichtem Pelz. Der schnüffelte weiter, hielt aber ganz still. Und so warteten wir und saßen dicht beisammen, während Ben mit den Zähnen klapperte, weiterhin meine Hand fest umklammert hielt und hektisch atmete, während ihm der Schweiß über das Gesicht lief.

Irgendwann normalisierte sich seine Atmung ein wenig. Mir waren mittlerweile die Beine eingeschlafen, und Helmut hatte sich vor Erschöpfung sogar auf den kalten Boden der Scheune gelegt. Es regnete jetzt stark, und die Tropfen prasselten auf das Scheunendach.

»Wollen wir reingehen?«, fragte ich, und Ben nickte, ließ meine Hand los und stemmte sich mühsam in die Höhe. Ich wollte ihm helfen, ihn stützen, doch eine innere Scheu hielt mich davon ab. Und so trat ich nur einen Schritt zurück, um ihm ein wenig Raum zu geben, und folgte ihm, als er etwas wackelig auf den Beinen durch die Scheune zurück zum Haus lief.

Der Regen schien eine Pause zu machen. Ich überholte Ben und leuchtete uns mit beiden Taschenlampen den Weg, während Helmut hinter uns her trottete. Als ich die Haustür schloss, drehte Ben sich zu mir um. Er war weiß wie die Wand.

»Ich mache mir noch einen Tee. Gute Nacht.« Er ging ein paar wackelige Schritte Richtung Küche, blieb dann aber noch einmal stehen und räusperte sich. »Danke.«

»Ich möchte auch einen Tee«, sagte ich, und so landeten wir wenige Minuten später mit zwei dampfenden Tassen auf dem Küchensofa. Ich pustete über die heiße Oberfläche und verbrannte mir doch die Zunge.

Ich wollte Ben fragen, was das da eben gewesen war und was man dagegen tun konnte. Was ihm helfen würde, warum er diese Anfälle bekam und ob es ein Medikament oder eine Therapie dagegen gab. Aber als ich ihm ins Gesicht sah, schwieg ich. Ben war von der Attacke – oder vielleicht auch von der Tatsache, dass ich ihn in diesem Zustand gefunden hatte – ganz schön mitgenommen. Und ich spürte meine eigene Angst noch tief in meinem Herzen rumoren.

Stattdessen beherzigte ich Dorles Rat, mutig zu sein, und griff erneut nach seiner Hand, die immer noch ganz kalt war. Ich zog die Decke zu uns heran, breitete sie auf und deckte uns beide damit zu. Dann lehnte ich, aus Ermangelung eines Kissens, meinen Kopf gegen Bens Schulter. Ben legte sein Gesicht auf meinen Scheitel, und so saßen wir schweigend nebeneinander.

Irgendwann schlief Ben ein. Der Schweiß auf seiner Stirn war getrocknet, aber er fühlte sich trotz der Decke klamm und kalt an. Ich saß ganz still, um ihn nicht zu wecken, und blickte zu Helmut hinüber. Der seufzte tief und blinzelte mich an, als wollte er sagen: »Früher war hier nicht so viel los!«

Ich lauschte auf Bens ruhigen Atem und schloss probehalber die Augen, aber an schlafen war nicht zu denken. Dafür war mein Körper viel zu sehr mit der Nähe beschäftigt, die plötzlich zwischen uns entstanden war. Ben roch angenehm, dabei war er verschwitzt und hatte immer noch Farbe an den Ärmeln seines Hemds und auf den Fingerspitzen. Es war nicht dieser künstliche Duft, den Duschgel und Aftershave verursachten, und der alle Menschen irgendwie gleich riechen ließ. Den wirklichen Menschen konnte man erst riechen, wenn man einige Zeit mit ihm verbracht hatte. Wenn man lange Zeit gemeinsam im Auto saß, einen Berg bestieg oder morgens nebeneinander aufwachte. Ich fand, das waren entscheidende Momente im Leben. Denn der ganz eigene Geruch eines Menschen war unveränderbar, und es lag an der jeweiligen Nase des Gegenübers, ob er ihn mochte, oder eben nicht. Henriette konnte ihren Mann nicht riechen, auch wenn sie das nicht daran gehindert hatte, ein Kind mit ihm zu bekommen. Dafür sahen sie sich aber auch nur so oft, wie in Hamburg die Sonne schien. Mein Vater hingegen schnupperte sehr oft an meiner Mutter, und dabei stahl sich ein leichtes Lächeln auf sein Gesicht. Offenbar mochte mein Vater genau diesen Duft und hatte ihr vielleicht auch aus diesem Grund nie ein Parfüm geschenkt.

Irgendwann musste ich dann doch eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, war es hell draußen. Entfernt hörte ich Vogelgezwitscher, und Helmut brummte im Schlaf wie ein Bär im Winterquartier.

Ich lag auf der Seite, der Länge nach ausgestreckt auf dem Sofa. Ben lag hinter mir, eng an mich geschmiegt und hatte einen Arm um meine Mitte gelegt. Seine Hand ruhte auf meinem Unterarm. Ich blinzelte ein paarmal, hielt aber ganz still. Ich war durchdrungen von Bens Wärme. Seine Nähe hatte im Schlaf meinen ganzen Körper entspannt, und ich fühlte mich wie ein Stück Butter in der Sonne. Eine ganze Weile blieb ich einfach so liegen und genoss dieses Gefühl. Leider meldete sich irgendwann meine Blase, und ich begann, mich aus dem gordischen Knoten von Bens Umarmung zu lösen. Millimeter um Millimeter arbeitete ich mich vor, ich wollte nämlich keinesfalls, dass er aufwachte. Ich wollte, dass das hier mein Geheimnis blieb. Keine Ahnung, was in ihm vorgehen würde, wenn er feststellte, dass wir wie zwei Frischverliebte in Löffelchenstellung so dicht aneinandergekuschelt auf dem Sofa geschlafen hatten. Wir hatten schließlich eine Abmachung. Wer die von uns beiden heute Nacht gebrochen hatte, würde sich nicht mehr aufklären lassen, aber ich befürchtete, dass ich es gewesen war. Also mein Körper, im Schlaf. Schlimm genug.

Auf Zehenspitzen schlich ich die Treppe ins Obergeschoss hoch. Dabei stellte ich fest, dass mein Körper nicht nur heimlich Körperkontakt suchte, sondern auch noch die knarrenden Stellen der Treppenstufe drei, sieben und elf auswendig kannte. Ganz automatisch schlich ich nämlich lautlos wie ein Wattebausch darüber hinweg.

»Ich bin eine Köperintelligenzbestie«, flüsterte ich dem bunten Blumenarrangement zu, das anstelle des Spiegels im Bad hing, und stellte den kleinen Heizlüfter an. Unsere Heizung zog es vor, mal wieder nicht zu funktionieren. Die Heizkörper im ganzen Haus wurden nicht warm. Erstaunlicherweise hatten wir warmes Wasser, und damit konnte ich erst mal leben.

Ich entschied mich, schnell unter die Dusche zu springen. Das heiße Wasser weckte meine Lebensgeister, und nach wenigen Minuten war ich fit und ein wenig aufgekratzt, als hätten wir heute noch ein ganz besonderes Event vor uns. Unkrautbeseitigung und Baumscheiben pflegen! Yeah!

Ich wickelte mich in das Badetuch und machte mir in Gedanken eine Notiz, dass wir uns durchaus neue Handtücher gönnen sollten, denn das hellblaue Teil hatte seine besten Tage wohl gehabt, als ich in die Schule gekommen war. Ich suchte im Wäschekorb nach frischer Unterwäsche und fand auch gleich noch meine geliebte Jogginghose und ein altes Shirt, auf dem in großen Lettern »Super Woman« stand. Dann raffte ich mir die nassen Locken mit Hilfe eines Haarbands zusammen und trat zurück auf den Flur.

Ben wartete auf mich. Er hockte auf dem obersten Treppenabsatz und hielt zwei Tassen Kaffee in den Händen. Er brauchte dringend eine Dusche, aber der gehetzte Ausdruck in seinen Augen war verschwunden. Mein dummes Herz machte einen kleinen Hüpfer. Vermutlich aus Erleichterung, weil wir diese Nacht überstanden hatten.

Ich ließ mich neben ihn plumpsen. Auf dem obersten Treppenabsatz hatte ich noch nie gesessen. Man konnte von hier aus durch das Flurfenster direkt in den Himmel sehen, und der war heute Morgen blitzblank und blau, als hätten die Regengüsse der vergangenen Nacht ihn reingewaschen. Ben sah immer noch so aus wie gestern. Das blaue Arbeitshemd, eine kleine Salzkruste am Hals, blaue Punkte auf den Fingerspitzen – und, wie ich jetzt entdeckte, auch auf der Nase. Ich atmete unauffällig tief durch und schnupperte. Ja, ich konnte ihn riechen. Ben. Neben seinen Augen hatte sich ein Netz feiner Linien eingegraben, und am Kinn hatte er ein kleines Grübchen, das mir vorher noch nicht aufgefallen war. Unauffällig atmete ich erneut tief ein. Ich konnte ihn verdammt gut riechen.

Ich nahm einen Schluck Kaffee. Er war handgefiltert, mit Zucker und Milch und schmeckte einfach köstlich. Es musste auch am Koffein liegen, dass mein Herz ein paarmal ganz energisch zu pumpen begann. Ganz so, als wollte es mir etwas mitteilen. Aber es war dumm, mein Herz, deswegen ignorierte ich es.

»Danke, dass du …«, sagte Ben und schwieg dann einen Moment. Er räusperte sich und fuhr fort: »… einfach da gewesen bist. Das hat mir sehr geholfen.« Er sah bei diesen Worten aus dem Flurfenster in den blauen Himmel.

»Wie oft hast du das?«, fragte ich und bekam jetzt einen Seitenblick. Er zuckte die Schultern. »Ich habe ein paar Probleme, aber ich bekomme das in den Griff.« Das klang wie auswendig gelernt.

»Und wie oft hast du das jetzt?«, wiederholte ich meine Frage.

Ben kniff kurz die Lippen zusammen. Dann schüttelte er den Kopf und zuckte wieder mit den Schultern.

»Hast du deswegen gekündigt?«, fragte ich weiter.

»Du bist manchmal ein wenig penetrant«, erwiderte mein Mitbewohner, und ich nickte.

»Ja. Bin ich. Mit so was geht man doch zum Arzt.«

Ben lachte freudlos auf, doch das Lachen verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er blinzelte mich an.

»Echt«, sagte ich. »Man muss sich helfen lassen. Ich meine, du bist Arzt! Was würdest du deinen Patienten sagen?«

»Hm«, antwortete Ben. »Es sind Panikattacken, die immer gleich ablaufen. Ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Als ob ein Elefant auf meinem Brustkorb sitzt. Alle Geräusche sind gedämpft und verzerrt. Das Licht ist dann plötzlich ganz hell. Es blendet mich. Manchmal hilft es, in die Weite zu gucken. Und manchmal kommt dann ein Punkt, an dem ich spüre, dass ich es nicht aufhalten kann.«

»Und wann kommen diese Attacken?«

Er schwieg einen Moment und nippte an seinem Kaffee. Nach einer Weile sagte er, ohne wirklich auf meine Frage einzugehen: »Ich glaube, ich bin nicht ganz richtig im Kopf.«

»Ben«, sagte ich erschüttert, aber er schüttelte nur leicht den Kopf.

»Als Arzt in der Notaufnahme solltest du bestenfalls ein Adrenalinjunkie sein«, sagte er. »Du rennst immer. Dein Zeitplan ist immer scheiße. Du bist ständig am Limit. Manche Leute beflügelt das, aber bei mir hat das Adrenalin eine völlig gegenteilige Wirkung. Es macht mich fertig. Es gibt mir keine Kraft, es raubt sie mir.«

»War das der Grund, warum du gekündigt hast?« Ben warf mir einen langen, fast vorwurfsvollen Blick zu. War das wieder zu penetrant gewesen?

»Ja«, antwortete er. »Auch. Ich hatte Probleme mit dem Oberarzt. Er konnte mich nicht ausstehen. Hat mich ständig kritisiert und beschimpft. Ich war auch immer zu langsam. Ich bin langsam. Innerlich und äußerlich.«

»Nein«, erwiderte ich entschieden. »Bist du nicht. Höchstens vielleicht für den Betrieb in der Notaufnahme.«

Ben schwieg. »Ich bin ein guter Arzt«, erklärte er dann plötzlich mit Nachdruck. »Ich bin tatsächlich aus einer sehr romantischen Vorstellung heraus Arzt geworden. Andere wollen Geld verdienen, einen gewissen Status, aber das war mir nie wichtig. Ich will Menschen helfen. In der Medizin gibt es jede Menge Leitlinien, nach denen man sich grob richten kann. Trotzdem muss man immer wieder neu entscheiden, was in jedem speziellen Fall sinnvoll ist, man muss die richtigen Fragen stellen, sich auf seinen Patienten einstellen. Aber dafür braucht man Zeit, um komplexe Dinge erkennen zu können. In der Notaufnahme geht das alles nicht. Da muss man immer voll da sein, sofort entscheiden, hat keine Zeit, eine Entscheidung zu überdenken. Und das hat mich einfach fertiggemacht. Zum Schluss wurden die Attacken immer häufiger, und ich bekam noch größere Angst, Fehler zu machen, weil ich ständig damit beschäftigt war, die Angst unter Kontrolle zu halten. Da habe ich gekündigt.«

»Damit muss man zu einem Arzt gehen.«

Ben verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Du verstehst das nicht.«

»Das kann ich auch ohne medizinische Grundbildung verstehen.«

»Ich habe Techniken, um die Attacken in Schach zu halten. Meistens habe ich es im Griff. Nur in letzter Zeit bin ich so müde.«

Im Griff. Das hatte er eben schon mal gesagt. Ben wollte alles im Griff haben, so viel hatte ich verstanden. »Aber hier musst du nicht alleine alles im Griff haben. Das ist dir doch klar, oder?«

Er nickte, meinte aber genau das Gegenteil.

Ich atmete tief durch. »Ben. Der Hof hier ist unser gemeinsames Projekt. Nicht deins. Wir beide tragen hier die Verantwortung. Ich kann auch Holz hacken, Unkraut jäten und Dinge mit Baumscheiben tun, von denen ich keine Ahnung habe, aber das werden wir schon noch rausfinden. Und selbst wenn wir es nicht rausfinden, wird mit ziemlicher Sicherheit niemand daran sterben.« Ben biss sich auf die Unterlippe und starrte mich an. »Lass das auf dich wirken und sag mir, wenn du es verstanden hast«, sagte ich streng.

Plötzlich grinste Ben, mit beiden Mundwinkeln. »Okay.« Er betrachtete seine Tasse. »Du bist mir eine gute Freundin«, sagte er dann und klang fast beschämt. »Erinnerst du dich, was Dorle gesagt hat? Dass man einen guten Freund finden soll? Wir waren mutig, und einen Freund habe ich auch gefunden. Wir müssen also nur noch jemanden Gefährliches zum Kaffee einladen, im Freien schlafen und nackt im Regen tanzen.«

»Einen Schatz finden«, fügte ich hinzu. Die Paris-Sache ließ ich mal unter den Tisch fallen. Und dann saßen wir eine Weile einfach so da und tranken unseren Kaffee. Ich starrte gedankenverloren auf die goldgelben Streifen, mit der die Sonne die blasse Tapete im Treppenaufgang schmückte.

»Ich lasse mir von Fredo zeigen, wie man Holz hackt«, erklärte Ben.

»Okay«, erwiderte ich. »Und vorher bekämpfen wir das Unkraut auf dem alten Kopfsteinpflaster.«

Ben nickte knapp und wirkte für einen Moment fast entspannt.

»Ben?«, fragte ich.

»Hm?« Er drehte den Kopf und sah mir in die Augen, woraufhin ich schnell wieder die Sonnenstrahlen an der Wand betrachtete.

Ich räusperte mich. »Du musst duschen. Du stinkst wie ein Puma.«

»Danke, liebreizende Mitbewohnerin«, erwiderte er trocken, bevor er gehorsam aufstand und im Badezimmer verschwand.

Bald darauf begaben wir uns voller Tatendrang auf den Hof, wo wir das Auto wegfuhren und die Bank vor das Tor stellten, um Platz zu schaffen für unseren ersten Tag nach dem Motto »Ben und Lucy packen es an!«