Kapitel 12

Anpacken konnte man natürlich nur, wenn man irgendwie auch für Energienachschub sorgte, und so mussten wir nach unserem ersten echten Arbeitseinsatz noch dringend die Lebensmittelbestände aufstocken. Bisher hatten wir uns mit dem kleinen Tante-Emma-Laden im Nachbardorf begnügt, aber jetzt stand ein Großeinkauf auf dem Plan. Gleich am nächsten Morgen fuhren wir also zum nächstgelegenen Supermarkt nach Altdierksdorf. Ben hatte für uns beide gleich zu Beginn ein eigenes Konto eröffnet, auf das jeder von uns am Anfang des Monats einen festen Betrag einzahlte. Von wegen, er hatte nichts im Griff.

Staunend fuhren wir auf den Parkplatz, der allein schon so groß war wie drei Fußballfelder. Und damit wir nicht vergaßen, dass wir jetzt mitten auf dem Land lebten, standen auch zwei grüne Trecker neben dem Eingang. Offenbar ging auch den Landwirten mal das Klopapier aus.

Ben organisierte uns einen Einkaufswagen, und so gewappnet schoben wir los, mitten hinein ins Einkaufswunderland. Im Eingangsbereich gab es Brennholz und Anzünder, dahinter stapelten sich Setzkartoffeln und Gemüsesaat. So etwas bekam man in Hamburg nur selten zu sehen. Dafür konnte man dort vegane Gemüsebratlinge und fertige Rote-Bete-Suppen erstehen, wohingegen die Möhren hier in Fünf-Kilo-Netzen verkauft wurden. Die Suppe musste man selber kochen. Eine Mutter mit drei kleinen Kindern versuchte gerade, Gemüse in ihrem Einkaufswagen zu verstauen, in dem aber schon besagte Kinder hockten. Ein älteres Paar stand beim Salat und schien sich nicht einigen zu können, ob nun Rucola oder Feldsalat das Richtige war, und der Gang mit den Birnen und Äpfeln war komplett blockiert, weil dort gerade umgebaut wurde. Hier war richtig was los. Ein wenig verloren zuckelten wir durch die Gänge.

»Ich hasse fremde Supermärkte.« Ben blieb ruckartig stehen. »Habe ich dir übrigens erzählt, dass mein Bruder sich für heute Nachmittag angekündigt hat?« Seine Miene wirkte wenig erfreut.

»Äh, nein«, sagte ich gedehnt. »Hast du nicht.« Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, sagte Ben: »Wenn es hier Haferflocken gibt, kann doch der Reis nicht weit weg sein, oder? Wenn du Reis wärst, wo würdest du stehen?«

»Reis? Wozu brauchen wir Reis?«, fragte ich und hielt mich mit einer Hand am Einkaufswagen fest, während Ben mich abschätzend betrachtete und gnadenlos weiterschob.

»Kochen. Nahrungszubereitung.«

Ich seufzte.

Da stand plötzlich Holger vor uns, unser Schneesturmretter mit dem grünen Trecker. Heute in einem passenden grünen Overall, die blonden Haare in wilden Stacheln vom Kopf abstehend. Sein rotes Gesicht glühte, er schien es ziemlich eilig zu haben.

»Ach, ihr!«, rief er, nahm zwei Dosen Tomaten aus dem Regal und drehte sich zu uns um.

»Moin«, antworteten Ben und ich unisono. Wenigstens die landesübliche Begrüßung klappte schon mal.

»Schon eingelebt?« Holger war so groß, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Bei der Rettungsaktion zu Weihnachten war es mir gar nicht aufgefallen, da hatte die Größe seines Treckers von dieser Tatsache abgelenkt.

»Weitestgehend«, antwortete Ben, und Holger grinste.

»Bisschen anders als in der Stadt, was?«, fragte er. Ich setzte an, um darauf zu antworten und kurz über die dort erhältliche Rote-Bete-Suppe zu referieren, aber Holger kam mir zuvor. »Hört mal, ihr müsst euch mal blicken lassen. Im Dorf. Die Leute reden schon über euch, weil ihr da jetzt seit Tagen auf Dorles Hof hockt, ohne dass man euch zu Gesicht bekommt.« Wir schwiegen verdutzt. »Ende April ist Frühlingsfest bei uns auf dem Hof. Da kommt die Jägerschaft und spielt das Horn, der Chor singt, und es gibt Bier und Würstchen. Alle aus den umliegenden Dörfern kommen, nur Altdierksdorf nicht, die liegen hinter dem Wald und mögen uns nicht. Wir kommen nur zum Einkaufen her.« Er lachte kurz und donnernd, was die Tomaten in seinen Händen in Wallung brachte. »Und seid ihr schon in die freiwillige Feuerwehr eingetreten?«

Ich wollte Bens Hand nehmen. Und dann die Flucht ergreifen. Frühlingsfeste, Dorffehden und freiwillige Feuerwehren, daran hatte ich nicht gedacht, als ich mir das Landleben so idyllisch ausgemalt hatte.

»Das müsst ihr tun! Ganz wichtig.«

»Kommt die sonst nicht, wenn’s brennt?«, fragte Ben zögernd. Offenbar war auch ihm nicht ganz wohl.

Holger schüttelte energisch den Kopf. »Die kommt immer. Aber das sind, wie der Name sagt, alles Freiwillige. Die lassen alles stehen und liegen, wenn die Sirene losgeht. Ohne die Feuerwehr hätten wir schlechte Karten. Letztes Jahr, als es so trocken war, sind ständig die Felder beim Ernten abgebrannt. Dem Edgar ist sogar die Zugmaschine abgefackelt. Unsere Feuerwehr ist Gold wert.«

»Dann treten wir natürlich umgehend ein«, erwiderte ich, und Holger grinste.

»Fein!«, sagte er. »Im November gibt es dann im Dorfgemeinschaftshaus Grünkohl und Bregenwurst für alle Mitglieder. Nun muss ich aber los. Meine Frau wartet auf die Tomaten. Die ist mitten beim Kochen, und da warten zehn Leute auf ihr Essen. Heike hält den gesamten Hof am Laufen. Und ich muss zurück in den Stall. Die Melkmaschine hat irgendeinen Defekt. Ist mir heute Morgen beim Abmelken aufgefallen, die muss bis heute Abend wieder laufen.«

»Gut Glück!«, rief ich ihm hinterher. »Die reden über uns!«, fügte ich entsetzt hinzu, als Holger hinter dem nächsten Regal verschwunden war.

»Dorfleben«, war das Einzige, was Ben dazu einfiel. »Wusstest du, dass Kühe zweimal am Tag gemolken werden müssen? Das ist wie Notaufnahme!« Ben trat einen Schritt zur Seite, um einer energisch aussehenden Dame, die gleich zwei prall gefüllte Wagen an uns vorbeischubste, Platz zu machen.

»Notaufnahme?«, fragte ich.

»Du bist immer im Einsatz, ob du willst oder nicht. Kein Urlaub, keine Vertretung. Wenn du Landwirt bist, kannst du nicht einfach mal nach München fahren, weil es da schön ist. Wie ein Klinikarzt.«

Ich blinzelte. »Mich irritiert viel mehr, dass seine Frau für zehn Leute kocht. Macht sie das jeden Tag? Wenn ich für zehn Leute kochen sollte, müsste ich einen mehrwöchigen Kochkurs besuchen. Da hilft Youtube nicht mehr weiter.«

Ben lehnte sich zu mir rüber und grinste. »Du kannst ja bei den Landfrauen eintreten. Gleich nachdem wir bei der Feuerwehr unterschrieben haben. Die zeigen dir das bestimmt. Falls du Gelüste in diese Richtung verspürst.«

»Ich bin mit meinem Job ganz glücklich«, erwiderte ich und fand durch Zufall im nächsten Augenblick den Reis. Ich griff zwei Pakete und warf sie in den Korb. »Ich bin meine eigene Chefin und kann tun und lassen, was ich will. Das ist doch großartig!«

»Ich weiß nicht«, sagte Ben leise und schob den Wagen weiter auf der Suche nach dem nächsten Eintrag auf unserer Liste. Was auch immer das war. »Ich brauche Struktur. Feste Zeiten.«

»Ich nicht«, erwiderte ich fest. »Ich liebe es, frei zu sein.« Ben fand endlich, was er suchte – ein Gewürz, dessen Namen ich nicht aussprechen konnte.

»Ich nicht. Ich mag es, in ein System eingebunden zu sein. Auch wenn es manchmal nervt. Jetzt brauchen wir Müllbeutel«, erklärte er und schob den Wagen in die andere Richtung.

»Aber dann musst du immer das machen, was andere sagen! Und wann sie es sagen!«, rief ich ihm hinterher und eilte dem entschwindenden Wagen nach.

»Was ist daran schlecht?«

Ich zuckte die Schultern. »Weiß nicht. Ich habe noch nie so gearbeitet. Ich war immer frei.«

»Hat es dich glücklich gemacht?«, fragte Ben, und ich blieb stehen.

»Glücklich«, schnaubte ich verächtlich und musste an die vielen durchgearbeiteten Nächte denken, an meine Armut und Einsamkeit. »Na ja …«

Ben fand die Müllbeutel und griff sich eine Rolle, um sie zu dem Rest unserer Einkäufe zu werfen.

Einträchtig schoben wir unsere Beute zur Kasse.

»Wenn ich so darüber nachdenke, ist das Leben als Landwirt vielleicht doch gar nicht so schlecht. Wobei die es sicher auch nicht immer leicht haben, aber wer hat das schon. Immerhin hat bei denen jeder Tag einen festen Rhythmus, eine feste Struktur. Und es geht nicht ständig um Leben oder Tod.«

Der Supermarkt war nicht nur riesig, es gab auch gleich drei leere Kassen, und so luden wir alles auf das Band.

»Benedict Greifenberg, ich glaube, du bist ein echter Spießer«, sagte ich, und Ben lachte.

Plötzlich entdeckte ich zwischen den Haferflocken, dem Reis, den Dosenbohnen und den Müllbeuteln eine kleine Glasflasche. In Mintgrün.

»Was ist das?«, fragte ich und deutete auf den Nagellack.

»Oh«, sagte Ben und fing an, den Korb mit den bereits gescannten Sachen wieder zu befüllen. »Den habe ich hinten beim Klopapier entdeckt. Sah aus wie die Nagellackfarbe von der Mutter mit dem Murmelkind, und die hat dir doch so gut gefallen. Da kannst du dir die Nägel lackieren und dich farblich passend auf die Bank setzen.«

Das verschlug mir für einen Moment die Sprache. »Danke«, sagte ich dann.

Am Nachmittag hockte ich auf dem Badewannenrand und wartete darauf, dass meine Nägel trockneten. Ich hatte die neue Farbe gleich ausprobiert, und sie passte nicht nur hervorragend zur blauen Bank, sondern auch zum langsam beginnenden Frühling. Dazu summte ich die Titelmelodie von Star Wars, keine Ahnung, warum. Das tat ich so lange, bis ich das laute Motorengeheul eines Autos hörte, das auf unseren Hof bretterte.

Erschrocken sprang ich auf und sah aus dem Fenster. Mitten auf dem Hof, direkt neben dem Berg an Unkraut, das wir mühsam mit einem Messer zwischen den Steinen hervorgeholt hatten, weil wir einfach nicht rafften, wie das Gas-Abbrenn-Teil funktionierte, stand ein schwarzer 7er BMW. Die Fahrertür wurde aufgerissen, und ein ganz in Schwarz gekleideter Mann stieg aus. Es war ein gut aussehender Kerl, doch ich meinte, einen harten Zug um den schönen Mund zu erkennen.

Dann entdeckte ich Ben, der ihm entgegenging. Die beiden gaben sich die Hand, und der Mann sah sich um, allerdings keinesfalls wohlwollend, sondern eher so, als würde er im Kopf kalkulieren, was die Hütte auf dem freien Markt wohl einbringen würde.

Ich schlüpfte vorsichtig in meine Strickjacke mit den großen Blumen und lief die Treppe hinunter in den Flur. Die Tür zur Küche war nur angelehnt, und ich hörte die beiden miteinander sprechen. Bens Stimme hatte plötzlich einen gänzlich neuen Tonfall, und der veranlasste mich, kurz vor der Türklinke eine Vollbremsung hinzulegen.

»Fahr doch einfach wieder«, sagte er gerade, und seine ohnehin recht tiefe Stimme vibrierte bei diesen Worten.

Seinen Bruder schien das zu amüsieren. Als er ihm antwortete, klang er Ben verwirrend ähnlich. »Ich weiß halt nicht, was der Scheiß soll. Du schmeißt deinen Job und verpisst dich hierhin? Hast du den Arsch offen oder was?«

Ich wartete darauf, dass Ben ihm die Meinung geigte, doch zu meiner Überraschung antwortete er gar nicht.

Kurz entschlossen betrat ich die Bühne und hielt kurz – aber wirklich nur ganz kurz – inne bei dem Anblick, der sich mir bot: Ben saß mit übergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen am Tisch. Er hatte Kaffee gekocht und in die hübsche Blümchenkanne gefüllt. Millies Kuchen des Tages stand aufgeschnitten und mit Puderzucker bestäubt daneben und wartete nur darauf, auf Dorles gutem Geschirr mit den hellblauen Blumen serviert zu werden.

Eine richtige Kaffeetafel.

Helmut stand neben Ben am Tisch und guckte ernst. Unser Mitbewohner war offenbar genau wie ich der Meinung, dass Ben Beistand brauchte. Bens Bruder stand den beiden gegenüber und hatte, genau wie Ben, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Das ist Lucy«, erklärte Ben nun, und ich setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Hallo, Bruder von Ben!«

»Oh. Ein Blumenmädchen!« Bens Bruder lachte abfällig. »Und ihr haltet das hier echt für eine gute Idee, ja?«

»Hat der einen Namen?«, fragte ich Ben.

»Marius«, erwiderte dieser.

»Hallo Marius«, sagte ich und erhielt, oh Wunder, eine Antwort.

»Hallo Lucy.« Marius streckte mir sogar über den Tisch hinweg seine Hand hin, die ich ergriff. Helmut beobachtete das Geschehen sorgenvoll.

Marius hatte mittlerweile offenbar gecheckt, dass das Blumenmädchen eine Frau war. Mit Brüsten. Denn nun änderte sich sein gesamtes Verhalten.

»Was treibt denn eine schöne Frau wie dich mit meinem schrägen Bruder in die Einsamkeit? Liebeskummer? Das Problem hätte ich besser beheben können. Ihm fehlen da die entsprechenden Qualitäten, falls du verstehst, was ich meine.« Er wackelte anzüglich mit den Augenbrauen, grinste breit, und Ben zuckte zusammen.

»Nein«, antwortete ich todernst. »Verstehe ich nicht. Ich treffe die Entscheidungen in meinem Leben grundsätzlich ohne männlichen Einfluss.« Dabei lächelte ich nicht. Es war wichtig, im Umgang mit solchen Männchen nicht zu lächeln. Wir Frauen lächelten sowieso immer viel zu viel.

Marius’ Grinsen versiegte. »Na, du bist wohl auch so ein Psycho wie mein Bruder, was?«

Ich schüttelte kurz den Kopf, als würde ich mich gruseln.

»Ich denke, du solltest jetzt wieder fahren«, erklärte Ben ruhig.

»Jap. Denke ich auch. Wenn ihr die alte Kiste loswerden wollt, melde dich. Ich kenne ein paar Leute, die das Ding gut verkaufen können. Schönes Leben noch.«

Und mit diesen Worten drehte er sich um und stiefelte aus dem Haus. Im Hof hörte ich die schwere Autotür zuschlagen, dann startete der leistungsstarke Motor, und Marius raste viel zu schnell vom Hof. Ich zog reflexartig die Schultern hoch und hoffte, dass die Bredenhofer sich genau jetzt an das ungeschriebene Gesetz hielten, im Haus zu bleiben und zu warten, bis Bens Bruder das Dorf verlassen hatte.

Leider war dem nicht so. Auf der Straße schrie jemand lautstark und offenbar mordswütend auf. Ben und ich liefen zur Tür. Das Motorgeräusch war schon kaum noch zu hören, aber die wütende Person zeterte weiter. Wir rannten die Treppe hinunter direkt zum Hoftor, neben dem vorübergehend unsere blaue Bank stand.

Eine Frau in Kittelschürze saß darauf, neben ihr auf dem Boden zwei Krücken. Sie reckte die Faust, was uns dazu brachte, schlagartig stehen zu bleiben.

»Was für ein dummes Arschloch war das denn?«, brüllte sie uns jetzt an. Sie mochte alt sein, aber in ihren stahlblauen Augen lag ein gefährliches Glitzern. Die grauen Haare waren wirr, und ein Netz aus Milliarden von Falten verlieh ihr das Antlitz einer wirklich uralten Person.

»Das war mein Bruder«, erklärte Ben nüchtern. »Entschuldigen Sie bitte. Er wird wohl nicht wiederkommen.«

Die Frau regte sich langsam wieder ab, zog die Nase hoch und ließ die Faust sinken. »Familie kann man sich nicht aussuchen, was?«

Ben lachte freudlos auf und schüttelte den Kopf.

»Ach, Herr Doktor. Nun gucken Sie nicht so. Sie haben sich doch eine tolle Frau ausgesucht. Gründen Sie eine eigene Familie. Und lassen Sie die Bank hier stehen. Die ist gut. Ich habe den Weg zu Millie vorher nicht geschafft. Jetzt kann ich hier Pause machen.« Sie nickte anerkennend und hievte sich dann mithilfe der Krücken wieder nach oben, um weiterzuhumpeln.

Um uns von Marius’ Heimsuchung zu erholen, mussten wir erstmal Kaffee trinken und Millies Kuchen probieren. Er war mit Schokoladenflocken gebacken. Köstlich! Wir hatten einfach großes Glück mit unserer Nachbarin. Millie brachte uns nämlich immer ein paar Stücke rüber, wenn sie gebacken hatte. Und sie backte leidenschaftlich gern. Der Bund meiner Lieblingsjeans kniff bereits bedrohlich, was einer der Gründe war, warum ich endlich mit der Gartenarbeit anfangen wollte.

»Mein Bruder und ich verstehen uns nicht besonders«, sagte Ben kauend.

»Ach?«, witzelte ich und nahm mir noch ein Stück Kuchen.

»Er ist so aggressiv. War er immer schon. Als müsste er der Welt schon mal vorsorglich die Fresse polieren, bevor sie ihm etwas antun kann. Wir sprechen manchmal miteinander, fragen uns, wie es geht, hin und wieder sehen wir uns, aber ich glaube, wir tun das nur, weil wir halt Brüder sind. Und schon sehr viel Mist zusammen erlebt haben«, fügte er hinzu. »Ich weiß gar nicht, warum ich immer wieder versuche, Kontakt zu ihm zu halten. Jedes Mal denke ich, vielleicht ist es diesmal anders.« Er sah meinen Blick. »Ich glaube, er würde mich bedenkenlos den Löwen zum Fraß vorwerfen, wenn es hilfreich wäre.«

»Ihr seid schon sehr unterschiedlich«, sagte ich und trank einen Schluck von meinem Kaffee. Ben sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Das will ich auch sehr hoffen!«

Ich musste grinsen. »Und ein Gutes hatte sein Besuch bei uns«, sagte ich. Ben sah mich abwartend an. »Einen Punkt auf Dorles Liste können wir definitiv abhaken: Wir hatten jemand Gefährlichen zum Kaffee da!« Ben lachte, trank seine Tasse leer und sprang auf. »Ich gehe jetzt Holz hacken«, verkündete er.

»Wollen uns deine Eltern nicht auch besuchen kommen? Irgendwann mal? Sie sind doch bestimmt nicht immer in Island, oder?« Ben erstarrte mitten in der Bewegung, dann drehte er sich zu mir um. »Ich hab das damals nur so gesagt.«

»Wie? So gesagt?«

»Dass sie in Island leben. Das stimmt gar nicht. Tut mir leid«, sagte er und ging wortlos aus dem Zimmer. Ich sah ihm verwundert hinterher.

»Wurdet ihr unter der Wärmelampe ausgebrütet?«, rief ich, doch da fiel die Haustür schon ins Schloss.

Ich nutzte die Stille im Haus, um meinen altersschwachen Laptop anzuschmeißen und den E-Reader startklar zu machen. Mein Internetbrowser begrüßte mich mit zwanzig geöffneten Tabs. Alle zum Thema Angststörungen und Panikattacken. Da aus Ben, der ja eigentlich über das passende Hintergrundwissen verfügen sollte, nichts rauszukriegen war, hatte ich mich auf eigene Faust auf die Suche nach einer Lösung gemacht. Oder doch zumindest erst mal die Fakten zusammengetragen.

Was ich bisher wusste:

  1. 1. Sehr viele Menschen litten unter Panikattacken. Ich war erschüttert, wie viele Menschen damit zu tun hatten und wie viele Seiten im Netz es dazu gab.
  2. 2. Man war deswegen keinesfalls ein Psycho, wie dieser Idiot Marius es ausgedrückt hatte. Offenbar hatte mindestens jeder vierte Mensch im Laufe seines Lebens damit zu tun. Das war quasi wie Schnupfen, nur ging es nicht einfach wieder weg.
  3. 3. Man konnte etwas dagegen tun. Wenn es ganz arg war, gab es Medikamente, ansonsten schienen Gesprächs- und Verhaltenstherapien helfen zu können. Es dauerte allerdings seine Zeit.
  4. 4. Das waren doch verdammt noch mal Dinge, die ein Arzt wissen sollte!
  5. 5. Warum wusste Ben sie nicht? War es möglich, dass er sie einfach ignorierte?

Ich schüttelte den Kopf und kochte mir erstmal noch einen Kaffee. Während der durchlief, sah ich durch das Fenster erst Ben über den Hof stiefeln, dann einen äußerst übellaunigen Fredo. Fredo meckerte so laut, dass ich ihn deutlich hören konnte. Helmut hob den Kopf aus seinem Körbchen und spitze die Ohren. »Ja«, sagte ich zu ihm und goss mir eine Tasse Kaffee ein. »Heute ist der Tag der schrägen Besucher.«

Dann schwang ich mich wieder auf das Sofa, lud den nächsten Band der unsäglichen Vampire auf den Reader, setzte mein Headset auf und fing an zu diktieren. Und in Band drei wurde es endlich besser. Ein weiblicher Vampir tauchte auf und mischte die gesamte Vampirgemeinschaft mal so richtig auf. Als der Obermacker der Gang, der mich über sechshundert Seiten mit seiner sexistischen Art in den Wahnsinn getrieben hatte, von ihr vermöbelt wurde, war ich so richtig im Fluss. Das übersetzte sich ja fast von selbst! Ich tippte die nächste Seite an, las sie quer und startete dann direkt damit, den Text zu diktieren. Mein Diktierprogramm und ich waren ein eingespieltes Team, und mittlerweile waren meine diktierten Rohtexte schon so gut, dass ich nicht viel Zeit in die Überarbeitung investieren musste. Nur ganz selten sprangen mir Texte direkt so von der Zunge. Ich diktierte und diktierte, und als ich das nächste Mal eine Pause machte, stellte ich nach einem Blick auf die antike Küchenuhr fest, dass drei Stunden vergangen waren.

»Helmut«, flüsterte ich. »Du musst doch noch mal an die Ecke!« Der Hund grunzte, hob dann den Kopf und erhob sich langsam, um sich zu strecken. Ich zog mir das Headset vom Kopf, klappte den Laptop zu und eilte mit dem Hund im Schlepptau in den Flur.

Um dort über Ben zu stolpern, der gleich neben der Tür auf dem Boden saß. Im ersten Moment machte mein Herz vor Schreck einen Satz. Doch Ben erschrak sich mindestens so sehr wie ich, denn er sprang auf und gleichzeitig nach hinten.

»Was machst du hier?«, fragte ich. »Hast du wieder eine Panikattacke?«

»Was? Nein. Ich … äh …« Ben presste die Lippen aufeinander und unterdrückte ein Grinsen. »Ich möchte nicht darüber reden.«

»Was?«, fragte ich irritiert, während Helmut tief durchatmete und schon mal zur Haustür wanderte.

Ben verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: »Ich höre dir zu.«

»Wobei?«, fragte ich zurück.

»Mh. Heute nicht so die hellste Kerze auf dem Kuchen, werte Mitbewohnerin?«

»Ach.« Mir dämmerte es langsam. »Ich dachte, Fredo hat dir das Holzhacken beigebracht?«, fragte ich empört.

»Er hat mir sehr schlecht gelaunt gezeigt, wie es geht. Aber dann musste er weg. Das war schnell erledigt. Du diktierst immer so schön. Und ganz oft meckerst du dabei und beschimpfst die Protagonisten, besonders den bösen Vampir. Du nennst ihn immer einen dämlichen Sexisten, aber heute war das anders. Du hast übersetzt, als würdest du eine Geschichte vorlesen.«

»Und du hörst mir heimlich zu?«, rief ich empört und stemmte die Hände in die Hüften.

Ben tat es mir gleich. »Ich habe meistens keine große Wahl!?«

»Oh.« Wieder dämmerte es mir. Aber nur sehr langsam. »Du kannst es hören, wenn ich arbeite. Also überall.«

»Ja. Du sprichst nicht sonderlich leise, und das Haus ist ein wenig hellhörig.«

»Warum sagst du denn nichts? Ich kann vielleicht in mein Zimmer gehen und alle Türen schließen. Oder ins Bad. Oder in die Scheune.« Dort würde ich vermutlich irgendwann erfrieren, aber immerhin konnte ich dann unbelauscht arbeiten.

»Also … ehrlich gesagt, fand ich das immer sehr schön.« Ben wurde tatsächlich rot. »Es klingt jetzt so, als hätte ich dich belauscht. Aber das habe ich nicht. Es war ja keine Absicht.« Er stockte einen Moment. »Na ja. Heute schon. Weil es heute so besonders schön war.«

Ich war baff. »Das ist mir jetzt aber peinlich.«

»Bitte nicht. Du hast eine wunderschöne Stimme. Du könntest auch Hörbücher aufnehmen …« Er stockte und fügte dann hinzu: »Ich liebe es, vorgelesen zu bekommen.«

Diese letzten Worte trafen mich mitten ins Herz. Trotzdem sagte ich streng: »Du hast mich auditiv gestalkt!«, woraufhin Ben lächelte.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte er formvollendet.

»Okay. Möchtest du dem weiteren Verlauf des Buches mit beiwohnen?«, fragte ich möglichst gelangweilt. »Dann musst du aber vorher mit mir und Helmut zu den Bäumen kommen.« Die Bäume waren der Beginn der Feldmark. Dort war eine große Wiese, die Helmut gerne aufsuchte, um seine Geschäfte zu erledigen. Er mochte nicht weiter gehen, dabei hatte ich das in den vergangenen Tagen immer mal wieder versucht. Helmut blieb gerne in der unmittelbaren Nähe des Hofes. Er hatte lange mit Dorle zusammengelebt, aber ihr Mutigsein hatte nicht auf ihn abgefärbt. Wenn wir von unseren kleinen Ausflügen zurückkamen, musste der Hund auch jedes Mal nachschauen, ob Ben noch da war.

»Muss ich?«

»Ja«, erwiderte ich, schnappte mir die Leine und folgte dem Schäferhund, der schon am Hoftor auf uns wartete. Dahinter stieg offenbar eine Party. Auf der blauen Bank saßen Millie und die Kittelschürzendame von vorhin. Sie plauderten angeregt, während sie die Augen geschlossen und die Gesichter den letzten Strahlen der Frühlingssonne entgegengereckt hatten.

Ich leinte Helmut an und öffnete das Tor.

»Hallo, die Damen«, sagte ich, und beide öffneten ein Auge.

»Frau Doktor«, grüßte Millies Freundin, während Millie mich fröhlich angrinste.

»Das ist ja fast wie ein Biergarten. Setz dich dazu!«

»Helmut muss auf die Wiese. Er kneift schon die Hinterbeine zusammen«, erwiderte ich, während Ben hinter mir aus dem Tor schlüpfte. Die beiden Damen nickten ihm zu und schlossen dann behaglich die Augen wieder, um sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen.

Wir wanderten die wenigen Meter durch den scheinbar leeren Ort. Helmut ging sehr langsam und bedacht an der Leine, ich glaube, er hatte Sorge, dass er mich mit einer unbedachten Bewegung umreißen könnte. Er war ja ständig besorgt, der Hund. Die Fassaden der alten Fachwerkhäuser strahlten im hellen Licht der Abendsonne, und mir fiel auf, dass Ben und ich tatsächlich das erste Mal gemeinsam durch den Ort liefen. Helmut erledigte direkt nach Erreichen der Wiese alle seine Geschäfte und wollte wieder heim.

Millie und ihre Freundin saßen immer noch auf der Bank. Sie hatten sogar noch Gesellschaft bekommen. Vor der Einfahrt parkte das gelbe Postauto. Esat, der Postbote, hatte sich mit auf die Bank gesetzt, während er mit großer Ernsthaftigkeit Briefe sortierte.

»Wie nett«, begrüßte er mich und grinste fröhlich. Mir fiel wieder mal auf, dass er nahezu akzentfrei sprach, obwohl er laut Millie erst einige Jahre in Deutschland lebte. »Eine Bank!« Er hielt mir einen Stapel Briefe entgegen, die ich mir unter den Arm klemmte. »Bänke gibt es sonst nur in den Gärten. Auf der Straße hat noch eine gefehlt.«

»Und eine schöne Farbe ist das! Dorle wollte damit die Haustür streichen, aber Fredo hat sie davon abgehalten. Er hat ihr gesagt, das sei eine Haustür, kein Papagei«, erklärte Millie, und die Frau neben ihr verdrehte die Augen.

»Fredo ist ein Holzkopf.«

»Oh ja«, mischte sich unser Postbote ein, und ich sah zu, dass ich hinter Ben herkam, der sich schon an uns vorbeigestohlen hatte und ins Haus gegangen war.

Ich leinte Helmut ab und sah die Briefe durch. Einige Unterlagen vom Notar, vom Grundbuchamt, ein Brief meiner Mutter und ein Anschreiben von Dr. Martin König aus Tatenbühl. Der Ort lag nur ein paar Kilometer entfernt und beherbergte den letzten Goldbarren der Region – den letzten Hausarzt. Der Brief war handschriftlich adressiert an Ben. Ich runzelte die Stirn und drückte ihm den Umschlag in die Hand. »Guck mal. Von Dr. König.«

Ben nahm ihn schweigend und legte ihn auf die Küchentheke. Direkt in eine Kaffeepfütze, die ich dort hinterlassen hatte. Schnell schob ich den Brief zur Seite und tupfte mit einem Handtuch darauf herum.

»Willst du ihn nicht aufmachen? Was kann der von dir wollen? Vielleicht geht es um einen Patienten?«

Ich will nicht sagen, dass Bens Küchenpraxis florierte, aber wir hatten hier jeden Tag Menschen auf dem Hof, die ihm irgendeine körperliche Unannehmlichkeit zeigen wollten. Die Murmel in der Nase war nur der Anfang gewesen. Aber natürlich waren Bens Möglichkeiten begrenzt, und er hatte einige der Patienten weiterschicken müssen. Ihm fehlte jegliches Gerät zur Diagnostik, und sein Stethoskop, die Hände und die geschulte Wahrnehmung reichten dann doch nicht immer aus. Im Augenblick war er mehr der Mann fürs Grobe. Fleischwunden, yeah. Ich ergriff beim Anblick vollgebluteter Kompressen jedes Mal schnellstens die Flucht, aber Ben schien ihnen wirklich etwas abgewinnen zu können. Keine Ahnung, was die Menschen hier vorher getan hatten, wenn sie sich so oft verletzten.

»Ben! Brief! Vom Kollegen!«

Ben fuhr herum und sagte: »Ich hab’s gehört!« Laut, vernehmlich und wütend. Erschrocken von diesem Stimmungswandel sah ich ihn an.

»Dann ist ja gut. Ich dachte, du hast es vielleicht an den Ohren«, erwiderte ich spitz. Wer hätte gedacht, dass sogar Dr. Benedict Greifenberg laut werden konnte?