Kapitel 18

Drei Tage später hatten wir uns von unseren Kopfschmerzen erholt. Die Fenster zum Hof standen weit offen, und die Vögel schmetterten ein Abendkonzert. Es war halb sieben und Ben hatte gleich einen Termin bei Dr. König.

»Ben. Ich bin schon sehr gespannt«, sagte ich fröhlich und stellte mich neben ihn.

»Hmpf«, brummte der nur.

»Dann lass uns starten«, sagte ich, und wir sammelten unsere Sachen zusammen und liefen zum Auto. Ich fuhr. Das war sicherer. Ben war ein wenig nervös, wenn auch sehr bemüht, sich das nicht anmerken zu lassen.

In Tatenbühl, vier Orte weiter, parkte ich den alten Golf vor einem sehr hübschen, reetgedeckten Haus, das mit seinem breiten Dachüberstand, den zwei knorrigen Bäumen vor der Treppe und den grünen Fensterläden außerordentlich einladend aussah.

Eine blond gelockte Dame schob gerade den offenbar letzten Patienten das Tages aus der Tür und kam dann auf uns zugeeilt. »Feierabend«, sagte sie fröhlich. Unter ihrem weißen Kittel trug sie einen pinkfarbenen Pullover, passend zu ihrem Nagellack und Lippenstift. Sie sah ein wenig aus wie Barbie in den Achtzigern, aber die hatte nicht solchen Stahl in den Augen. Diese Frau sah süß aus, würde aber wohl einen Weltuntergang auch alleine bewältigen, falls es notwendig war.

»Ich bin Susi Großmeister.« Gut gelaunt streckte sie uns ihre Hand entgegen.

Ben ergriff sie und erwiderte: »Ben Greifenberg.«

»Martin wartet schon ganz ungeduldig auf Sie.« Ihr Blick wanderte zu mir. »Soll ich Ihnen in der Zeit mal die Praxis zeigen?« Sie reichte mir ebenfalls die Hand.

»Lucy Bradford«, stellte ich mich vor, doch sie nickte nur wissend.

»Die Schriftstellerin«, raunte sie und wackelte mit einer Augenbraue. »Ich weiß. Sie waren wochenlang ›Talk of the Town‹, wie man so schön sagt.«

Ich rang mir ein Lächeln ab. Das war ja prima. Davon hatten wir mal wieder nichts mitbekommen auf Dorles Hof. Hinter dem Wald. Am Ende der Zivilisation. Wie unangenehm.

Aber dass der Herr Landarzt mit Ben alleine sprechen wollte, hatte ich nun auch verstanden. Deswegen ließ ich mir die Praxis zeigen, in der Susi Großmeister klar erkennbar ihren Fingerabdruck hinterlassen hatte. Es gab pinkfarbene Dekomaterialien in Hülle und Fülle. Vorhänge, Bilder, Handtücher und kleine Porzellanschweine in Pink. Sogar ein paar pinkfarbene Bücher lagen auf dem Tisch im Wartezimmer. Beeindruckend, wenn jemand so konsequent war.

»Käffchen?«, flötete Frau Großmeister, als wir unseren Rundgang im Labor beendeten, in dem einige hoch technische Apparate standen, die doch tatsächlich mit kleinen pinkfarbenen Aufklebern verziert waren.

»Ja, gerne«, antwortete ich und folgte dem pinken Wahnsinn in die Kaffeeküche, wo – Verzeihung, aber das stimmte tatsächlich – eine pinkfarbene Kaffeemaschine uns einen starken, kleinen, sehr italienisch schmeckenden Espresso zubereitete.

»Ich bin ja so dankbar, dass er sich die Praxis wenigstens anguckt.« Sie reichte mir die kleine Tasse. »Sie glauben gar nicht, wie schwierig es ist, hier einen Nachfolger zu finden.«

Ich nippte an meinem Espresso und setzte mich an den kleinen weißen Tisch. Auf dem nichts Pinkes stand, wie ich bemerkte.

»Das scheint in der Tat schwierig zu sein«, erwiderte ich.

Frau Großmeister setzte sich zu mir. »Martin ist schon ganz verzweifelt. Er ist fast siebzig und möchte wirklich gerne in den Ruhestand gehen. Wir hatten jetzt zwei junge Ärzte, die aber sehr deutlich zum Ausdruck gebracht haben, dass ihnen das Feld der Allgemeinmedizin zu wenig prestigeträchtig ist und der Verdienst zu gering. Denen war das hier schlicht zu langweilig, so weitab vom Schuss, dabei ist es so eine tolle Arbeit! Wir kennen unsere Patienten über Jahre, oft Jahrzehnte. Martin ist ein großartiger Chef, der lässt hier niemanden alleine. Man kann ihn immer fragen, wenn man unsicher ist. Und man ist sich oft unsicher, so ist dieser Job nun mal.« Ich nickte und nahm noch einen Schluck Kaffee. »Dann hatten wir eine junge Ärztin hier, die war toll. Sie wollte die Praxis eigentlich übernehmen, aber dann ist sie doch nach Afrika in die Entwicklungshilfe gegangen.« Susi Großmeister verdrehte die Augen. »Ist ja ehrenhaft, aber langsam wird es eng. Wir haben ein großes Einzugsgebiet, und der Martin macht ja auch noch Hausbesuche.« Sie zog undamenhaft die Nase hoch und fügte hinzu: »Er bräuchte wirklich kompetente Unterstützung. Ihr Mann wäre perfekt.« Sie schenkte mir ein Lächeln, aber bevor ich dazu kam, etwas zu sagen, fuhr sie fort: »Wenn man so lange in einer Großstadt und dann noch in der Notaufnahme gearbeitet hat, ist das hier wie Schafe hüten in der Lüneburger Heide. Völlig entspannt. Sie brauchen also keine Sorge haben, dass er nicht pünktlich zum Abendessen zu Hause ist, außer es gibt mal einen Notfall.«

Ich nickte langsam und schwieg. Sollte sie halt denken, dass wir verheiratet waren. Es gab keine Notwendigkeit, sie aufzuklären.

Stimmen im Flur rissen mich aus meinen Gedanken, und Ben tauchte auf, gefolgt von Dr. König. Die beiden schienen sich angeregt zu unterhalten, und Ben wirkte fast entspannt.

»Ah, Ihre Frau!« Dr. König eilte auf mich zu, ergriff meine Hand und schüttelte sie geradezu enthusiastisch. Ich öffnete den Mund. Spätestens jetzt musste ich ihr doch reinen Wein einschenken, aber Ben schwieg. Nicht nur das, er sah mich dabei fest an und presste irgendwie die Lippen aufeinander. Und so beschloss auch ich, weiterzuschweigen.

Auf der Rückfahrt dachte ich an die Schafe in der Lüneburger Heide und warf Ben einen Seitenblick zu. »Mensch, Ben. Sag was.«

Ben sah zurück. »Es ist nicht schlimm, dass die denken, dass wir verheiratet sind«, knurrte er, und ich blinzelte verwirrt. Schließlich war ich gedanklich noch beim Schafehüten.

»Ja. Nee. Das meinte ich nicht. Wobei wir das schon hätten aufklären sollen.«

»Hm«, brummte Ben.

»Hm? Der pinke Praxisgeneral und Dr. König denken jetzt, wir wären verheiratet. So ganz egal ist das nicht.«

Ben brummte wieder. »Ob das mit dem Pink nur eine Phase ist? Ob das vorbeigeht und irgendwann eine schwarze Phase kommt?«

»Weichst du mir gerade aus? Möchtest du nicht darüber reden?«, fragte ich, und mein Mitbewohner lachte auf.

»Nein. Ich möchte dir erzählen, dass Martin ein sehr netter Kerl und vermutlich ein toller Hausarzt ist, und dass ich nach dem kurzen Gespräch sicher bin zu bewältigen, was dort gefordert wird. Bindehautentzündungen, grippale Infekte, Rückenschmerzen … Erstickende Kleinkinder, schwerste Verbrennungen und Polytraumata kommen hier wohl nur selten vor.«

Einen Moment lang schwieg ich und wartete, aber als er nicht weitersprach, fügte ich ungeduldig hinzu: »Hast du ihn wegen deiner Angst angesprochen?«

»Habe ich nicht.«

»Idiot«, seufzte ich, und Ben lachte erneut auf. »Du bist immer so subtil, liebe Lucy. Ich werde mich noch einmal mit ihm treffen und ihm davon erzählen. Nicht beim ersten Gespräch. Diese verdammte Angst gehört zum Arztdasein nämlich auch dazu. Irgendwie. Du hast Angst vor deiner eigenen Ohnmacht, wenn jemand stirbt oder leidet. Angst davor, einen Fehler zu machen. Angst, nicht gründlich genug untersucht zu haben. Angst, wichtige Hinweise zu übersehen. Angst vor der Verantwortung, auf die du überhaupt nicht vorbereitet bist. Das ist am Anfang wie der Sprung in einen riesigen Eiskübel. Schwimm oder geh unter. Nur dass mit dir auch gleich noch ein paar Patienten absaufen.« Einen Moment lang hielt er inne, während wir das Ortsschild von Tatenbühl passierten. »Meine Angst ist mal stärker und mal weniger stark. Ich habe sie schon so lange. Aber ich sage es ihm.« Und dann fügte er ganz unvermittelt hinzu: »Was macht dein Roman?« Ich spürte, wie er mich von der Seite ansah, blickte aber weiterhin auf die Straße.

»Läuft«, erwiderte ich und gab meiner Stimme einen hoffnungsfrohen Unterton. Lief ja auch. Irgendwie. Irgendwann. Hätte ich noch zwei oder drei Jahre, um das Buch zu schreiben, wäre auch alles toll. Aber ich hatte nur noch bis Ende Oktober. Fünf Monate. Das waren knappe 150 Tage. Ich hatte das gestern schnell mal ausgerechnet, um mich noch ein wenig reinsteigern zu können.

»Warum läuft es nicht?«, fragte Ben, und ich runzelte die Stirn. Ich hatte doch gerade gesagt, es läuft. »Ist schwierig«, brummte ich. Er wusste ja offenbar, was Sache war.

»Aber warum?« Ben warf mir einen Seitenblick zu, und ich zuckte die Schultern.

»Hoher Druck«, erklärte ich. »Das ist meine Chance. Kai Rogos, der Lektor, kannte mich von den Übersetzungen, sonst hätte er die Leseprobe vermutlich nie angesehen. Ohne Agentur kommst du kaum an einen Verlagsvertrag.« Ich schwieg einen Moment und blickte starr auf die Straße. »Die haben mir auf einen Schlag halt sehr viel Geld gezahlt. Und wenn ich nicht liefere, muss ich das zurückzahlen. Das geht gar nicht. Ich gebe es ja gerade aus. Abgesehen davon, dass ich dann vermutlich nie wieder so eine Chance bekommen werde.«

»Es geht doch um die Liebe. Vielleicht musst du dein Herz an die Sache ranlassen und nicht so viel nachdenken.«

Ach, Ben. Wenn es doch nur so einfach wäre. »Klar.«

Er räusperte sich. Und dann hustete er und sagte: »Ähm. Also, um noch mal auf das Verheiratetsein zurückzukommen … ich habe das bewusst verschwiegen. Also dass wir nicht verheiratet sind.«

Ich schaltete runter, denn an dieser Stelle wurde die Landstraße sehr kurvig. »Warum das?«

»Es gibt mir irgendwie Sicherheit, wenn alle glauben, dass wir verheiratet sind«, sagte Ben, und als ich nichts darauf sagte, weil mir einfach nichts einfiel, fuhr er fort: »Ich kann das nicht erklären. Können wir es einfach so stehen lassen?«

»Klar.« Ich schaltete in den fünften Gang und ließ meine Hand auf dem Schaltknüppel liegen. Und jetzt legte Ben seine Hand auf meine.

Mir lief ein Schauer über den Rücken, und es kostete mich einiges, mir nichts anmerken zu lassen.

»Danke«, sagte er.

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Wofür genau bedankte er sich? Eine Weile schwiegen wir, doch dann musste ich auf die Dorfstraße von Bredenhofe abbiegen und brauchte dafür beide Hände. Ben zog seine Finger langsam wieder zurück. Sofort fehlte mir seine Wärme.

Millie saß auf der blauen Bank vor dem Haus. Mit Frau Rosental. Woraufhin Ben trocken bemerkte: »Da wartet die Bindehautentzündung. Schon wieder!«

Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. »Tja, das harte Leben eines Landarztes.«

Ben rieb sich die frisch geschorenen Schläfen, machte aber keine Anstalten auszusteigen, obwohl die Bindehautentzündung schon von der Bank aufgestanden war.

»Lucy, darf ich dich was fragen?«

»Immer«, erwiderte ich und zog den Schlüssel aus dem Schloss.

»Nervt dich das?«, fragte er. Erstaunt sah ich ihn an. »Dass ich so bin. Diese Angst … die meisten Menschen hat es irgendwann genervt, weswegen ich es kaum jemandem erzählt habe.« Er räusperte sich.

Ich witterte eine tiefe Hintergrundgeschichte in seinen Worten, schüttelte aber nur den Kopf.

»Nein, es nervt mich nicht. Wie kommst du darauf? Wieso sollte mich das nerven? Ich wünschte nur, dass ich dir helfen könnte.«

»Oh, das tust du«, sagte Ben. »Mehr, als dir vielleicht bewusst ist.«

Sein Blick irritierte mich. Er schien mir direkt ins Herz zu sehen, und ich zog schnell die Handbremse an und drehte mich zur Tür, damit er nicht mehr zu sehen bekam, als für ihn bestimmt war. »Dann mal auf zu deiner Bindehautentzündung«, sagte ich leichthin und stieg aus.

Im Haus irrte ich erst ein wenig unschlüssig herum, räumte die Küche auf, die hinterher kein bisschen aufgeräumter aussah, schmiss dann eine Maschine Wäsche an und bezog mein Bett neu. Diesmal bekam ich die kleinen roten Rennautos und legte Ben die Enten hin. Dann schmierte ich uns ein paar Brote. Irgendwann saß ich dann aber doch vor dem Computer und hatte genau vier Seiten geschrieben. Zwar hatte ich keine Ahnung, ob sie gut waren, aber ich hatte immerhin mal mein panisches Hirn abgeschaltet und mein Herz tippen lassen. Dabei war herausgekommen, dass Luca, meine Hauptfigur, sich zum ersten Mal nicht wie ein Arschloch gebärdete. Er war tatsächlich ganz nett – umgänglich, freundlich und keinesfalls mehr die verbale Abrissbirne der vergangenen Kapitel. Die beiden befanden sich auch plötzlich nicht mehr im Hamburg, sondern waren irgendwo anders. Jedenfalls sah die Welt ganz anders aus, als man sie gemeinhin kannte. Nicht schön, aber trotzdem passte die düstere Umgebung gut zu meinen Figuren.

Irgendwann standen Luca und Kaya dicht nebeneinander. Kaya lehnte ihren Kopf an seine Schulter, und er legte einen Arm um sie. Sie atmete tief durch und stellte fest, dass sie Luca mochte. Und nicht nur das, sie konnte ihn gut riechen.

Hier nahm ich einmal die Finger von den Tasten, betrachtete mit gerunzelter Stirn das Manuskript und die letzten drei Sätze und schrieb dann einfach weiter.

Bis Ben irgendwann auftauchte und mich vom Schreiben abhielt, um mir einen Vortrag über den Zusammenhang zwischen der empfindlichen Bindehaut des Auges und eventuellen emotionalen seelischen Schieflagen zu halten. Es war durchaus interessant, aber ich fand, dass es langsam an der Zeit war, dass Doktor Ben sein umfangreiches Wissen an seine Patienten weitergab. Und nicht nur an mich. Außerdem spukten mir Kaya und Luca im Kopf herum. Irgendetwas war passiert.

Der nächste Tag war ein Freitag. Ich mochte Freitage. Freitage waren verheißungsvoll, weil das ganze Wochenende sich hinter ihnen versteckte. Und Wochenenden mochte ich mittlerweile auch, weil ich nicht mehr krampfhaft bemüht war, eine Struktur zu finden. Es gab hier jeden Tag die gleichen Abläufe. Vielleicht war das für viele Menschen langweilig, aber für mich war es äußerst angenehm. Helmut musste raus, die jungen Stauden mussten gewässert werden, weil es einfach nicht regnen wollte, Millie brachte Kuchen – Ben und ich wetteten jeden Tag aufs Neue, mit was sie uns diesmal beglücken würde –, dann kochte Ben irgendwann Essen, und um fünf tranken wir Tee. Oft mit den Menschen, die gerade so da waren. Millie oder Esat, Melanie, der Mulchexpertin von nebenan, Millies Freundin Marga mit dem stechenden Blick oder irgendeinem anderen Dorfbewohner, der sich auf der blauen Bank eingefunden hatte. Zwischen diesen einzelnen Programmpunkten arbeitete ich. Und danach gingen Helmut und ich zum Waldrand. Während er dort auf der großen Wiese herumlief und Hundedinge tat, stand ich mit dem Rücken zum Wald und betrachtete den kleinen Ort, der in der Abendsonne glitzerte.

Jeden Tag das Gleiche. Ich war in kürzester Zeit das spießigste Wesen in ganz Norddeutschland geworden. Vermutlich würde ich mir bald eine Kittelschürze von Millie ausleihen, jeden Freitag die Gosse reinigen und sogar die Gardinen nach einem festen Plan mehrmals im Jahr waschen.

Ich putzte sogar. Gerade hatte ich die Spüle gewienert und bewunderte mein Werk. Dann wusch ich mir die Hände und desinfizierte sie mir – wenn ich das nicht mindestens einmal an Tag tat, hielt Ben mir endlos lange Vorträge über Hygiene. Ich befand normales Händewaschen ja als absolut ausreichend, aber Ben nicht, weil hier ja ständig Infekte und Bindehautentzündungen herumliefen.

Nachdem ich keimfrei war, zog ich das karierte Geschirrhandtuch von Millies Teller und verleibte mir noch im Stehen ein großes Stück Schmandkuchen ein. Helmut, der gelangweilt neben mir herumstand, bedachte ich mit einem homöopathisch kleinen Krümelchen, weil er ja offiziell keinen Zucker fressen durfte. Dann schnappte ich mir meinen Laptop und eine Tasse Kaffee, schlüpfte in die Gummistiefel, weil man dafür keine freie Hand zum Anziehen brauchte, und schlurfte in den Obstgarten, wo mein kleiner Tisch schon auf mich wartete.

Die Apfelbäume blühten um die Wette. Für einen Moment stand ich mit geschlossenen Augen einfach nur da und sog ihren Duft tief in meine Lungen. Das Land konnte manchmal bestialisch stinken, wenn nämlich unser Nachbar seine Gülle aufs Feld fuhr. Aber dafür gab es hier auch Düfte, die ich in der Stadt nie zuvor gerochen hatte. Wie die Apfelbaumblüte, die ersten Kräuter in dem kleinen Beet neben dem Tor zur Scheune und die frisch erwachte Erde, deren würziges Aroma über allem lag.

Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und klappte den Laptop auf. Helmut, der mittlerweile auch mein Schatten genannt wurde, denn wo ich war, war auch er, rollte sich mir zu Füßen zusammen und verfiel augenblicklich in einen zarten Schnarchrhythmus. Ich las die letzten beiden Seiten in meinem Manuskript. Und dann öffnete ich wieder mein Herz, wie Ben gesagt hatte. Ich knüpfte an das an, was ich das letzte Mal geschrieben hatte, und der Film in meinem Kopf sprang sofort an.

Nicht nur, dass meine Figuren sich plötzlich gut riechen konnten, auch der Schauplatz hatte sich drastisch verändert. Ich befand mich nicht länger im nebeligen Hamburg der 2000er-Jahre, plötzlich spielte der Roman in einer dystopischen Zukunft. Die Weltordnung stand Kopf, der Planet lag in Trümmern. Und Luca war krank. Er hatte eine seltene Blutkrankheit, die unweigerlich zum Tod führte, wenn er nicht regelmäßig ein bestimmtes, sehr teures und sehr seltenes Medikament bekam. Aber genau dieses Medikament war nirgends mehr zu bekommen, und Kaya, die ihn mit jeder Faser ihrer Existenz liebte (wo auch immer das hergekommen war, es schien absolut schlüssig zu sein), setzte nun alles daran, ihn zu retten. Alles. Sie handelte aus reiner, purer Liebe heraus und hatte gar keine Zeit für große Gesten oder irgendeine Form von Romantik. Und trotzdem gab es intensive Nähe zwischen den beiden. Eine unaufgeregte Nähe, die viel mehr prickelte als die ganz große Liebesgeschichte, die ich bisher im Kopf gehabt hatte.

Ich schrieb fast eine Stunde und vollendete sogar das zehnte Kapitel. Als ich danach den neuen Text noch einmal las, wunderte ich mich über mich selbst. Die Geschichte hatte eine solche Kehrtwendung vollzogen, dass ich gar nicht hinterherkam. Nicht nur das Setting war völlig anders, nein, auch die Figuren hatten eine neue Tiefe bekommen. Ich begann, in den schon existierenden Kapiteln alles zu markieren, was ich würde anpassen müssen, und konnte nur hoffen, dass dem Verlag dann auch noch gefiel, was meine beiden Figuren hier trieben.

Ich tippte die nächsten Worte und verfiel in einen regelrechten Schreibrausch, bis der Bildschirm plötzlich schwarz wurde. Entsetzt riss ich die Finger von der Tastatur. Akku leer. Mein alter Backstein war so alt, dass er es noch nicht mal mehr schaffte, mich vorzuwarnen. Er schaltete sich einfach irgendwann aus.

Ich stürzte in die Scheune und suchte das rote Verlängerungskabel. Als ich es endlich fand, war es hoffnungslos vertüddelt, und ich verlor wertvolle Zeit mit dem Entwirren. In meinem Kopf fühlte es sich an, als würde in meiner Romanwelt die Geschichte weiterlaufen, nur ohne mich! Ich war nämlich nicht da, um alles aufzuschreiben.

Vielleicht waren alle schon tot, wenn ich den Backstein endlich wieder in Gang gebracht hatte!

Hektisch stöpselte ich das Kabel in die einzige Steckdose in der Scheune und zerrte es hinter mir her, um es ans Ladekabel des Laptops zu stecken. Es dauerte endlos lange Minuten, bis das System sich wieder hochgefahren hatte, doch gerade, als endlich mein Text wieder auf dem Bildschirm erschien, tauchte Marga hinter den Apfelbäumen auf.

»Frau Doktor!«, rief sie energisch und wedelte mit ihrer Krücke.

»Hmpf!«, antwortete ich und versuchte gleichzeitig so auszusehen wie jemand, der gerade nun wirklich keine Zeit hatte.

»Das war aber ein schönes Frühlingsfest, was?«

»Mhm.«

»Im November ist Grünkohlessen der freiwilligen Feuerwehr. Soll ich euch da auch schon mal anmelden?« Marga war zwischen den Bäumen stehen geblieben und nagelte mich mit ihrem Diamantenblick förmlich fest.

»Ja«, sagte ich. »Klar. Aber jetzt muss ich arbeiten.«

»Ach, herumsitzen und denken, was?«, knurrte sie, ging aber tatsächlich wieder. Nur um eine halbe Sekunde später von unserem Nachbarn Manfred abgelöst zu werden, der mit seinem Trecker hinter den Obstbäumen auftauchte. Die Wiese hinter den Bäumen, die sich bis zum Wald erstreckte, diente als Kuhweide, aber Manfred hatte ein riesiges Teil hinter seinem Trecker hängen, dessen Anblick mich erschrocken ahnen ließ, dass der Kuhweide vielleicht ihr letztes Stündchen geschlagen hatte. Womöglich wollte er sie jetzt und hier zum Acker umpflügen. Ich starrte auf den riesigen Traktor. Manfred saß hinter dem Lenkrad, trank Kaffee aus einem Thermobecher und blickte versonnen in die Ferne. Das tat er so lange, mit laufendem Dieselmotor, bis ich ein unartikuliertes Knurren von mir gab und langsam aufstand. Ich musste verdammt noch mal schreiben! Gerade wollte ich zum Trecker stürmen, als Manfred mich entdeckte, grüßend die Hand hob und einfach so wieder davonfuhr.

»Himmel, Arsch und Zwirn!«, entfuhr es mir, und ich sank zurück auf meinen Stuhl. Doch kaum hatten sich meine Fingerspitzen wieder auf die Tastatur gesenkt, tauchte Ben hinter mir auf.

»Hast du Lust auf einen Kaffee?«, fragte er arglos.

»Hast du einen an der Waffel?« Ich fuhr auf meinem Stuhl herum und sah ihn mit vernichtendem Blick an, woraufhin er förmlich in seiner Bewegung einfror. Einen Fuß noch erhoben, den anderen am Boden, drehte er sich in Zeitlupe um und lief dann zurück in die Scheune.

»Argh«, brummte ich und rieb mir den Schädel. Meine Figuren hatten sich mittlerweile beide auf das zerschlissene Sofa in der alten Ruine gelegt, in der sie Unterschlupf gesucht hatten, nachdem die Apokalypse über die Welt gekommen war. Sie schliefen und schienen auf mich zu warten. Wie nett von ihnen!

Aber jetzt hatte ich Ben gegenüber ein schlechtes Gewissen.

Seufzend stand ich auf und trat durch die Scheune hinaus auf den Hof. Ben lud gerade eine Kiste Wasser aus dem Golf, um sie ins Haus zu tragen. Direkt vor ihm blieb ich stehen. Helmut, der mir natürlich an den Fersen gehangen hatte, konnte nicht mehr bremsen und rammte mir von hinten gegen die Beine.

»Tschuldigung«, sagte ich atemlos.

»Ist okay«, sagte Ben trocken. »Du bist immer so, wenn du schreibst. Oder übersetzt.«

»Bin ich so?«, fragte ich erstaunt, und Ben nickte. »Ja«, sagte er dann gedehnt und stellte die Kiste auf das Kopfsteinpflaster.

»Aber erst war der Akku alle, und dann kam Marga, und dann stand Manfred mit dem Trecker da rum … und dann kamst du«, sagte ich ein wenig kleinlaut.

»Na, so bist du halt.« Er zuckte mit den Schultern, schnappte sich den Wasserkasten und ging. Ich sah ihm hinterher. So war ich halt?

»Ist es okay, dass ich halt so bin?«, brüllte ich ihm nach. Ich musste das wissen. Es war so immens wichtig. Ich musste wissen, ob es ein resigniertes »So bist du halt!« gewesen war oder ein freundliches. Eines, bei dem man halt damit lebte, aber persönlich keinen schweren Schaden davontrug? Oder eines, das einen wirklich störte? Ben blieb kurz vor der Treppe ins Haus stehen und drehte sich langsam zu mir um. »Wie meinst du das?«

»Das war eine einfache Frage. Ist es okay, dass ich so bin?«

»Lucy. Du bist völlig okay. Ein bisschen schräg, verträumt, manchmal ein wenig biestig. Wenn du versuchst zu kochen, muss man hinterher die Küche renovieren, aber das ist alles völlig okay. Man kann gut mit dir zusammenleben.« In Bens linkem Mundwinkel zuckte ein Grinsen. Es kletterte in seine Augen und erhellte das tiefe Blau seiner Iris.

»Du bist ganz wunderbar«, sagte er dann so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob er das wirklich gesagt hatte. Dann drehte er sich um und ging.