Der Friese hieß Holger und hatte seinen grünen Fendt mitgebracht. Es bedurfte ein wenig gemeinsamer Überredungskunst, auch Jacek von der Notwendigkeit einer Rettung zu überzeugen, denn der weigerte sich zunächst, seinen Lkw zurückzulassen, aber ein Blick auf die Wetter-App das Landwirts überzeugte dann schließlich auch ihn. Der bisherige Schneesturm war offenbar nur die Vorhut gewesen. Da kam noch mehr, samt weiter sinkender Temperaturen und orkanartiger Böen.
Der Fendt des freundlichen Friesen duftete irritierenderweise nach Neuwagen. Und er hatte nur zwei Sitze. Wovon einer mit Holger belegt war, der uns einladend angrinste. Wir anderen quetschten uns also wie die Ölsardinen um den Fahrersitz herum. Es war wie Tetris mit menschlichen Gliedmaßen, äußerst unbequem, aber irgendwann hockte ich wie ein Klappmesser auf Bens Schoß und klammerte mich an einen der Haltegriffe neben der Tür, während mir Jaceks Knie unangenehm in die Nieren drückten. Erschwerend kam noch hinzu, dass Ben die ganze Zeit mit einem Fuß wippte.
Wir rumpelten los. Runter vom Parkplatz und auf ins weiße Wunderland, das im Schein der Treckerlichter verheißungsvoll glitzerte, während Frau Holle von oben noch ganze Wagenladungen an fetten Schneeflocken auf uns hinunterkippte. Und sie schien noch lange nicht fertig zu sein.
Der starke Motor dröhnte. Jacek murmelte etwas vor sich hin (ich glaube, er betete), und der Fendt rumpelte so heftig, dass Ben irgendwann, nachdem ich zweimal fast von seinem Schoß gerutscht wäre, die Arme um mich legte, um mich festzuhalten. Behutsam lehnte ich meinen Hinterkopf gegen seine Schulter. Es ging gar nicht anders, mein Kopf war im Weg und wankte bei den Erschütterungen, die der große Trecker produzierte, wie verrückt auf meinem Hals hin und her. Ben hörte auf, mit dem Bein zu zappeln. Ich schloss probehalber die Augen. Und ließ sie gleich zu, weil es mir für einen Moment sehr gut ging. Ich war warm und geborgen.
»Wir sind da!«, rief Holger irgendwann und riss mich damit aus meinem Dämmerschlaf.
»Wo?« Ich blinzelte in die Dunkelheit.
»Auf dem Dormann Hof.« Holger versuchte, sich aus den vielen Armen und Beinen und Rucksäcken hervorzuarbeiten, um die Tür zu öffnen. Ich rutschte von Bens Schoß und stürzte bei dieser Gelegenheit auch gleich noch fast aus dem Führerhäuschen. Zum Glück bekam ich im letzten Moment einen Teil der Tür zu fassen, und so landete ich zwar auf dem Hintern, aber wenigstens nicht kopfüber im Schnee.
Ben kam mit unserem notdürftig zusammengerafften Gepäck hinterhergeklettert, und so standen wir dann etwas verloren im wilden Schneetreiben auf einer kleinen Dorfstraße, die von einer einzigen Straßenlaterne spärlich beleuchtet wurde. Holger griff sich meinen Rucksack, und ich stapfte ihm nach, während Jacek von oben aus dem Fahrerhäuschen auf uns hinunterguckte und traurig winkte. Ich winkte zurück.
»Kann er nicht auch hierbleiben?«, rief ich gegen den Sturm an, doch Holger hatte schon ein riesiges eisernes Tor aufgestoßen und war über einen tief verschneiten Hof gestapft. Wir folgten ihm. Er klingelte an der uralten Holztür, deren schuppigen Farbeschichten sich in unterschiedlicher Reihenfolge von der Oberfläche lösten.
»Er kommt mit zu uns. Der Hof ist zwar schon voll, aber einer geht noch. Ich habe schon drei Wintercamper vom Campingplatz, zwei Gestrandete vom anderen Parkplatz und den Pastor auf dem Hof. Der hat es nur noch bis zur Kirche in Diggestorf geschafft und muss eigentlich zurück nach Husum. Aber so ein Pastor an Heiligabend in der eigenen Stube ist ja auch nicht schlecht.« Er grinste mich an und klingelte erneut.
Eine ganze Weile tat sich nichts, während wir langsam einschneiten. Eine dicke Flocke flog mir direkt ins linke Auge, und so verpasste ich vor lauter Blinzeln fast den Moment, als die Tür sich endlich öffnete. Vor uns stand ein riesiger Schäferhund. Was nicht schön war, denn er bellte uns zwar nicht aggressiv an, guckte aber ziemlich böse. Wenn er hier wohnte, wollte ich ungern das Haus betreten.
»Herzlich willkommen!«, flötete der Schäferhund, und es dauerte ein wenig, bis ich begriff, dass hinter dem riesigen Tier eine zarte Elfenfrau aufgetaucht war. Sie war so klein, dass sie sich ohne Mühe hinter dem Hund hätte verstecken können. Dünn und zart und mit Sicherheit sehr alt. Mehr eine Elfenoma in einer rosafarbenen Kittelschürze.
»Kommt herein! Kommt herein!«, rief sie, was aber sehr leise klang und von dem tosenden Sturm fast weggetragen wurde.
»Ich fahr gleich weiter, Dorle. Danke, dass du einen Schlafplatz für die beiden hast!«, rief Holger über den Sturm hinweg. Dann drehte er sich um und trabte über den Hof zu seinem Trecker zurück. Ich winkte ihm hinterher und entdeckte Jacek, der im Schein der Innenraumbeleuchtung sein Gesicht an die Scheibe drückte und uns sehnsuchtsvoll nachsah.
Vorsichtig schoben wir uns seitlich an dem Schäferhund vorbei, der wie festgewurzelt mitten in der Tür stand und keine Anstalten machte, auch nur einen Millimeter zur Seite zu rücken.
»Herzlich willkommen! Ich bin Dorle Dormann!« Die kleine Frau freute sich offenbar sehr, dass wir ausgerechnet am Heiligen Abend unangekündigt bei ihr hereinschneiten. Im Schein der hutzeligen Deckenleuchte wirkte sie sogar noch älter, als ich auf den ersten Blick angenommen hatte. Genau wie der Flur, in dem wir standen, und der eigentlich nur aus einem alten, schwarz-weiß gemusterten Steinboden und abblätternder Farbe an den Wänden bestand. Außerdem zog es wie Hechtsuppe.
»Ich bin Lucy Bradford«, sagte ich, zog mir den Fäustling von den Fingern und reichte ihr meine Hand, die sie enthusiastisch schüttelte. Es fühlte sich an, als würde ich einem Schmetterling den Flügel kraulen, weil ihre Hand so klein war.
»Benedict Greifenberg«, schloss Ben sich der kleinen Vorstellungsrunde an, schüttelte Dorle Dormann ebenfalls die Hand und deutete dann mit fragend hochgezogener Augenbraue auf den Hund, der sich doch zumindest zu uns umgedreht hatte.
»Helmut«, erklärte Frau Dormann und nickte bekräftigend. »Er ist ein bisschen …«, fügte sie flüsternd hinzu und deutete auf ihren Kopf, um uns mit der allgemeingültigen Geste für »leicht verrückt« verständlich zu machen, dass der Hund einen an der Waffel hatte. Was ich außerordentlich beunruhigend fand. Ben scheinbar auch, denn er rückte ein wenig zur Seite.
»Aber kommt doch rein!« Wir schickten uns an, die Schuhe auszuziehen, woraufhin Frau Dormann entsetzt die Hände hob. »Lassen Sie die bloß an! Ich habe eine ganz neue Heizung, und die ist schon kaputt. Einen Monteur bekommt man über die Feiertage ja nicht, deswegen heizen wir so, wie dieses Haus die letzten dreihundert Jahre auch geheizt wurde. Mit dem alten Holzofen in der Küche.«
Wir folgten ihr also in kompletter Montur durch den zugigen Flur in die Küche, die aussah, als würde sie nicht zu diesem alten, maroden Haus gehören. Der Boden bestand aus aufgearbeiteten Dielen, auf denen einige hübsche Teppiche eine wohlige Stimmung verbreiteten. In der Mitte des Raumes stand ein alter Ofen, der mit blau-weißen Kacheln geschmückt war. Davor befanden sich ein gemütliches rosafarbenes Sofa und ein alter Hochlehnsessel. Die Küchenzeile war alt, aber sehr gepflegt, und gegenüber den zauberhaften Sprossenfenstern stand ein alter Holztisch mit einer Bank, auf der blau-weiße Kissen lagen. Es roch nach Holz und Glühwein. Und Zimt.
»Das ist aber hübsch bei Ihnen!«, sagte ich und ließ meinen Rucksack auf den Boden gleiten. Es war wirklich hübsch, aber leider auch hier nicht sonderlich warm.
Der komische Helmut war uns hinterhergetrottet, wanderte weiter zu einem riesigen Körbchen und beschnüffelte es, als müsse er sich erst versichern, dass es auch seins war, bevor er sich mit einem tiefen Seufzer darin auf die Seite fallen ließ. Ich sah erst den Hund an, dann Frau Dormann, die aber völlig unbeeindruckt von diesem Spektakel begonnen hatte, in ihrer Küche zu werkeln. Es wäre ihr ja sicherlich aufgefallen, wenn der Hund in diesem Moment gestorben wäre.
Ich sah, dass Ben, der ein wenig hinter mir stand, ebenfalls den Kopf reckte. »Er atmet noch«, raunte er mir zu, und ich musste grinsen. Ganz offensichtlich hatte er das Gleiche gedacht.
»Setzt euch doch bitte!«, rief Frau Dormann, die jetzt begonnen hatte, uns zu duzen und Brote zu schmieren. »Ihr könnt mich Dorle nennen. Ich bin ein wenig aufgeregt. Das erinnert mich alles an die Schneekatastrophe von 1978. Da war es auch so. Sehr aufregend.« Sie blickte auf und strahlte, aber einen Atemzug später verdüsterte sich ihre Miene wieder. »Na ja, es sind auch Menschen gestorben. Furchtbar war das. Aber dieses Haus hier ist fast dreihundert Jahre alt. Das hält Schnee, Sturm und Katastrophen aus. Und ich habe Holz für mindestens vier Wochen in der Scheune. Zum Glück habe ich es nicht verkauft, wie Fredo gesagt hat. Weil ich doch die neue Heizung habe. Aber man sieht ja, nicht alles, was neu ist, ist auch gut.« Sie nickte bekräftigend und machte sich weiter an den Broten zu schaffen. Ich ging zum Sofa hinüber und ließ mich nieder. So dicht am Ofen war das Prasseln des Feuers deutlich zu hören, und eine angenehme Wärme erfüllte die Luft. Ben war mir gefolgt und setzte sich neben mich.
»Das ist doch mal ein anderer Verlauf als der, den ich geplant hatte«, sagte er leise und zog sein Handy aus der Jackentasche. Er tippte ein wenig darauf herum und schob es dann zurück. »Ich helfe Ihnen, Frau Dormann, äh, Dorle«, erklärte er und stand wieder auf, um unserer spontanen Gastgeberin in der Küche zu helfen. Was ich ebenfalls hätte tun sollen, aber ich konnte nicht. Mit einem Mal fühlte ich mich furchtbar müde, und außerdem musste ich dringend meine Familie über meinen Verbleib in Kenntnis setzen. Nicht, dass Papa doch noch mit dem Fendt aufbrach. Seiner war auch nur ein ganz kleiner, sehr alter Trecker, mit dem er sonst die Strandkörbe herumfuhr. Seine Chancen bei diesem Wetter standen vermutlich nicht besser als die von Bens Golf. Ich schrieb: »Wir sind gerettet! Sind jetzt auf dem Dormann Hof bei Dorle Dormann. Hier ist es nett. Tut mir leid, aber ihr müsst ohne mich feiern. Lasst mir Stollen übrig! Ich liebe euch. Lucy.« Ich drückte auf »Senden« und beobachtete einen Moment lang mein Handy, bis es mir mitteilte, dass die Nachricht rausgegangen war. Als ich es in meinen überfüllten Rucksack zurückschob, rutschten die drei Briefe heraus, die ich vor der Abfahrt noch aus dem Briefkasten geholt hatte, und landeten auf dem Teppich. Ich wollte sie schon wieder zurückstopfen, da fiel mir der Briefkopf meines Vermieters ins Auge. Er war sehr prägnant und bestand aus einem Wildschweinkopf. Was gut zu meinem Vermieter passte, denn der benahm sich oft selbst wie ein Wildschwein. Er hatte zum Beispiel begonnen, einzelne Wohnungen in unserem Haus zu sanieren. Was nicht nur einen Mordslärm machte, nein, hinterher kosteten die Wohnungen dann auch gleich das Doppelte an Miete. Und dabei war es ihm egal, ob die Menschen, die zum Teil schon sehr lange in diesen Wohnungen gelebt hatten, sie sich dann noch leisten konnten. Konnten sie übrigens nicht, weswegen die vier neuen Mieter, die in den letzten Monaten ins Haus eingezogen waren, ziemlich hip und offensichtlich auch recht wohlhabend waren. Und laute Partys feierten. Letztens war ich über zehn leere Champagnerflaschen gestolpert, die einer der Neuen vor seine Tür gestellt hatte.
Ich hatte immer gehofft, dass Herr Drobenhahn meine kleine Dachgeschosswohnung vielleicht vergessen würde. Sie war wirklich klitzeklein und absolut unauffällig, aber hübsch, wie ich fand. Und vor allen Dingen: bezahlbar.
Beim Anblick des Wildschweinkopfes hatte mein Herz angefangen, schneller zu schlagen. Die Briefe von meinem Vermieter beinhalteten meistens keine guten Nachrichten. Ich blickte zur Küchenzeile hinüber. Ben plauderte freundlich mit Frau Dormann, die weiter unbeirrt Brote schmierte. Mit leicht klammen Fingern riss ich den Brief am oberen Ende auf und las. Meine Augen weigerten sich zuerst, den Sinn der Worte zu erfassen.
Notwendige Sanierungsmaßnahme … Abriss des Dachstuhls … Schaffung von Wohnraum … Wir würden uns freuen, Sie weiterhin als Mieterin zu behalten …
Und dann stand da noch, dass meine Wohnung, beziehungsweise die Wohnung, die mithilfe meiner alten Wohnung entstehen sollte, fast 100 Quadratmeter haben und 1400 Euro kalt kosten würde. Mir klappte der Mund auf.
Das war bestimmt nicht erlaubt.
Ich ließ den Brief sinken. Es war bestimmt nicht erlaubt, aber ich erinnerte mich an meine Nachbarin aus dem Haus gegenüber, die eine ähnliche Kündigung bekommen hatte und erst in einem langwierigen Gerichtsverfahren feststellen lassen konnte, dass das nicht erlaubt war. Dafür hatte ich kein Geld. Ich lebte momentan hauptsächlich von dem großzügigen Vorschuss, den der Verlag mir gezahlt hatte, aber dafür musste ich liefern. Also hatte ich für solche Sperenzchen auch keine Zeit. Und Nerven schon mal gar nicht. Meine Fingerspitzen zitterten, und mir wurde übel. Für einen einzigen Tag war das jetzt aber verdammt viel Abenteuer.
Ich stopfte den Brief zurück in meinen Rucksack, woraufhin Helmut den Kopf hob und mich mit finsterer Miene betrachtete. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich jetzt losgeheult. Ich war aber nicht allein. Tapfer blinzelte ich die Tränen weg und blickte wieder zur Küche hinüber, wo Ben und Frau Dormann sich noch immer angeregt unterhielten. Ich seufzte. Nun würde ich mir doch eine WG suchen müssen. Das hatte ich schon einmal versucht. Ich war einfach nicht gerne allein und dachte damals, dass es eine gute Lösung sein könnte. War es aber nicht. Aus vielen Gründen.
»Meine liebe Lucy.« Frau Dormann riss mich mit erstaunlich kraftvoller Stimme aus meinen Gedanken. »Könntest du vielleicht den Tisch decken?«
»Natürlich, Frau Dormann«, erwiderte ich schnell und sprang eilfertig auf die Füße.
»Nenn mich bitte Dorle!«, sagte Frau Dormann freundlich. Wie unachtsam von mir, hier einfach auf dem Sofa rumzusitzen, während die anderen beiden das Abendessen vorbereiteten, zumal Frau Dormann, also Dorle, ja nicht mit Gästen gerechnet hatte. Ich lief zu der kleinen Küchenzeile hinüber und blieb erstaunt stehen. Es gab nicht nur belegte Brote. Weit gefehlt! Offenbar hatte Dorle ihren gesamten Vorratsschrank geplündert: Es gab Mixed Pickles, ein Nahrungsmittel, bei dem ich mich im Supermarkt immer schon gefragt hatte, wer das denn kaufen mochte. Nun wusste ich es: Dorle Dormann! Und dann gab es noch essigsaure Gurken – in rauen Mengen. Gleich drei Sorten. Gerade kochte sie weiße Bohnen in roter Soße, und Ben versuchte eine Scheibe Glibber mit Glibber auf ein bereits gebuttertes Brot zu manövrieren. Schnell griff ich mir die Teller und trug sie zum Tisch.
»Da ist es zu kühl, wir sollten vor dem Ofen essen«, rief Dorle mir hinterher, und ich änderte sofort den Kurs. Neben dem Kamin an der Wand standen zwei kleine Klapptische, die ich kurzerhand aufbaute. Dorle brachte die nächste Platte mit belegten Broten und stellte sie etwas umständlich ab. »Es tut mir leid, dass ich keinen Weihnachtsbaum habe. Und ich habe auch gar keinen weihnachtlichen Schmuck«, sagte sie plötzlich und griff nach meinem Pulloverärmel.
»Das macht doch …«, wollte ich sagen, doch sie unterbrach mich.
»Früher hatte ich ganz viel Schmuck. Lichter in den Fenstern! Und goldene Kugeln! Und einen großen Weihnachtsmann aus Holz, den hat mein erster Mann Helmut gebaut. Aber das ist alles auf dem Dachboden, und da komme ich nicht mehr hin.«
Ich nickte freundlich, während ich noch verarbeitete, dass der Schäferhund offenbar genauso hieß wie der ehemalige Herr Dormann.
Dorle sah mich ernst an, dann blitzte plötzlich etwas in ihren grauen Augen auf, und sie sagte: »Früher gab’s mehr Lametta!«