Um kurz nach sieben weckte mich mein Handy – eine Uhrzeit, zu der ich üblicherweise noch im Schlummerland weilte. Immerhin war ich Freiberuflerin. Mein geringes Einkommen wurde zwar nicht vollständig, aber doch immerhin ein wenig durch flexible Arbeitszeiten ausgeglichen.
Mama blinkte auf dem Display. »Mama! Ist jemand gestorben?«
»Wer soll denn gestorben sein?« Meine Mutter. Mit einem offensichtlichen Fragezeichen in der Stimme.
»Warum rufst du so früh an?«, ächzte ich, während ich mich erleichtert zurück auf die Kissen sinken ließ.
»Früh?«, fragte meine Mutter und schien das Handy vom Ohr zu nehmen, um auf die Uhr zu gucken. Echte, altertümliche Armbanduhren besaß die Familie Bradford schon sehr lange nicht mehr.
»Zehn nach sieben. Das ist nicht früh. Das ist morgens. Dein Vater hat schon die Strandkörbe aus der Reparatur geholt und zum Strand gebracht.«
»Ja. Toll«, sagte ich resigniert.
»Und ich habe schon fast die ganze Buchhaltung von diesem Monat fertig gemacht und ein kleines Bild gemalt. Husum im Nebel. Also früh …«
»Ja«, wiederholte ich. »Ich hab’s verstanden. Also, warum rufst du an?« Ich zog mir die Bettdecke bis zur Nasenspitze, weil es im Haus trotz der warmen Tage immer noch recht frisch war. Das alte Bauernhaus brauchte offenbar ein wenig länger, um die Winterkälte loszuwerden.
Meine Mutter räusperte sich. Das tat sie immer vor gewichtigen Ankündigungen. »Ich habe die ersten Kapitel gelesen.«
»Oh«, sagte ich und war schlagartig wach. »So, äh, ganz? Gelesen?«, fragte ich schüchtern, und plötzlich schlug mir das Herz bis zum Hals.
»Lucy. Das ist ausgesprochen gut geschrieben. Und die Liebesgeschichte ist toll! Wenn auch das Setting ein wenig ungewöhnlich ist.«
Ich wartete, ob noch was kam. Ein Aber vielleicht. Doch meine Mutter schien auf eine Reaktion von mir zu warten.
»Es gefällt dir?«, fragte ich vorsichtig. Sie gab ein unflätiges Grunzen von sich.
»Es ist fantastisch! Und ich kenne mich aus. Ich lese ganz viele solcher Bücher. Meistens sage ich, dass die Autorin leider keine Ahnung hat. Aber hier ist es anders. Es geht nicht um die riesige, schnulzige Liebe, die mit der Realität überhaupt nichts zu tun hat. Die Liebe deiner Figuren kommt irgendwie ohne die üblichen Klischees aus. Die beiden sind so wunderbar echt und natürlich! Und sie passen einfach toll zueinander. Aber du hast auch den Schmerz und die Sehnsucht gut eingefangen, und die Angst, die die Liebe manchmal entfachen kann.«
Ich jauchzte stumm in mich hinein und stieß mit der Faust in die Luft. Yeah!
»Aber eine Sache wollte ich dir sagen.«
Oh. »Ja?«
»Warum bist du die ganze Zeit mit angezogener Handbremse unterwegs? Du hast unter deine Figuren ein gigantisches Sicherheitsnetz gespannt. Warum?«
Ich schwieg und starrte an die Decke.
»Lass dich fallen, Schätzchen. Lass deine Figuren los.«
»Okay«, sagte ich.
»Und schick mir den Rest, wenn du weiter bist«, erwiderte meine Mutter und legte auf.
Ich blieb noch ein paar Minuten liegen und starrte die Decke an. Dann kletterte ich aus dem Bett, schlüpfte in meine Strickjacke und trat auf den Flur. Ich brauchte einen Kaffee. Einen sehr starken Kaffee, um mich der nächsten Aufgabe des Tages zu widmen, nämlich meinen Lektor darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich die Pfade des Exposés verlassen hatte.
Also machte ich mich auf in die Küche – nur um wenige Schritte später erschrocken stehen zu bleiben, weil mir ein nackter Mann entgegenkam. Ben kam genau in dem Moment aus dem Bad, als ich daran vorbeigehen wollte. Und er hatte definitiv jegliche Form von Verhüllung vergessen.
»Ben!«, rief ich empört, weil ein nackter Ben jetzt nicht das war, was ich in Anbetracht der eh schon komplizierten Gesamtlage gebrauchen konnte.
»Lucy!«, rief Ben offenbar ebenso entsetzt und machte einen Satz nach hinten, zurück ins Bad.
»Bist du bekloppt? Was machst du hier?«, fauchte ich und konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, mir eine Hand vor die Augen zu halten. Dabei war es dafür ja nun wirklich zu spät.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, gab Ben zurück, der sich jetzt hinter der Badezimmertür verschanzt hatte. »Es ist weit vor acht. Das ist doch keine Uhrzeit, zu der du freiwillig das Bett verlässt!«
Und dann fing mein Mitbewohner an zu lachen. So sehr, dass Helmut ins Obergeschoss getrabt kam, um zu erkunden, was hier so Lustiges zu dieser frühen Stunde passierte. Ich musste grinsen. Wenn auch verhalten. Das hier war nämlich alles andere als lustig.
»Ich gehe jetzt runter. Mach die Badezimmertür zu!«, sagte ich energisch. »Ich brauche Kaffee.«
»Guck doch einfach nicht hin«, erklärte Ben trocken und streckte doch tatsächlich den Kopf aus dem Bad, um mich anzusehen. Dabei grinste er so breit, dass seine Mundwinkel es fast bis zu seinen Ohren schafften. Seine Haare waren noch klitschnass, und er tropfte.
»Du kannst hier doch nicht nackt durch die Gegend rennen.«
»Das tue ich sogar jeden Morgen, seit wir hier wohnen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass die Eule plötzlich über Nacht zur Lerche wird.«
»Hmpf«, erwiderte ich.
»Du siehst zu dieser frühen Stunde übrigens ganz liebreizend aus«, stellte Ben fest und legte beide Hände an den Türrahmen, um sich weiter vorbeugen zu können.
Ich starrte ihn an, dann sah ich an mir herunter. Ich trug eine pinkfarbene, ausgeleierte Jogginghose, mintgrüne, selbst gestrickte Socken von Millie und ein T-Shirt, in dem ich meine alte Wohnung renoviert hatte. Es hatte dementsprechend Farbflecken. Und ein Loch rechts neben dem Schlüsselbein. Gekrönt wurde das Ensemble von einer roten Strickjacke.
»Ein bisschen wie eine Landstreicherin«, erklärte Ben fröhlich und grinste erneut.
Ich stöhnte. »Hinfort mit dir. Und zieh dir was an«, erwiderte ich so würdevoll, wie mir möglich war. Und dann sah ich zu, dass ich in die Küche kam, um den stärksten Kaffee ever zu kochen.
Ich ließ Helmut auf den Hof, ging dann in die Küche und öffnete alle Fenster, so weit es ging. Draußen sangen die Vögel. Die Sonne schaffte es schon über das Scheunendach und tauchte das alte Kopfsteinpflaster in flüssiges Gold. Während der Kaffee blubbernd vor sich hin kochte, stand ich herum und sah hinaus. Der Holunder draußen im Hof blühte in weißen Tuffs, und überall zwischen den Pflastersteinen strahlten kleine Hornveilchen in Gelb und Lila.
Helmut kam in die Küche getrabt. Er hatte seine morgendliche Hofrunde absolviert und fand, dass es an der Zeit war zu frühstücken. Ich riss mich vom Anblick des sommerlichen Hofes los und füllte seinen Futternapf. Danach nahm ich mir einen Kaffee, lief zurück zur Haustür und setzte mich auf die Treppenstufen zum Hof. Hinter mir kam nun auch Ben die Treppe runtergepoltert, vollständig bekleidet in einer zerschlissenen Jeans, Chucks und einem blauen Shirt. Er lief in die Küche und kam wenige Sekunden später ebenfalls mit einem Kaffee heraus. Mit vollem Körpereinsatz drängelte er sich zwischen Türrahmen und mir hindurch, um sich direkt neben mich zu setzen. So dicht, dass unsere Schenkel und Schultern sich berührten.
Ich seufzte.
»Was ist der Grund für dein frühes Aufstehen?« Er trank einen Schluck und sah mich an. Dabei zappelte schon wieder sein Fuß, und ganz automatisch legte ich eine Hand auf sein Bein.
»Meine Mutter hat mich angerufen, um mir mitzuteilen, dass sie schon die Buchhaltung für diesen Monat gemacht hat. Und ein Bild hat sie auch schon gemalt. Alles vor acht.«
»Ah«, machte er. »So aus pädagogischen Gründen? Frei nach dem Motto: Der frühe Vogel fängt den Wurm?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nee. Eigentlich waren das nur nebensächliche Informationen, weil sie nicht glauben kann, dass es Menschen gibt, die nicht jeden Morgen quietschvergnügt um halb sechs aus dem Bett springen. Eigentlich hat sie angerufen, weil sie die ersten zehn Kapitel von meinem Buch gelesen hat.«
Ich spürte, wie Ben den Atem anhielt. Als ich nicht weitersprach, fragte er: »Und? Wie hat es ihr gefallen?«
Ich streckte die nackten Füße aus und wackelte mit den Zehen in der Sonne.
»Gut«, beschied ich knapp.
»Wie? Gut. Das war alles?«
Ich seufzte. »Sie mochte es sehr. Sie sagt, ich habe das sehr gut gemacht.«
Ben lachte, was seine Augen strahlen ließ. »Ich will es auch lesen.«
Das wusste ich. Aber ich wusste auch, das zu verhindern. »Klar, irgendwann«, erklärte ich freundlich. Und unverbindlich.
»Lucy, warum lässt du mich nicht deinen Roman lesen?« Ben legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen und betrachtete mich sehr genau. Bei dieser Musterung wurde mir ein wenig unwohl.
»Es ist sehr persönlich«, erklärte ich leise. Weil diese Geschichte tief drinnen verdammt noch mal von Ben und Lucy handelte und meine Mutter mir auf den Kopf zugesagt hatte, dass ich mit angezogener Handbremse unterwegs war.
Ben schien für einen Moment zurückzuzucken. »Na, persönlicher, als wir hier leben, geht es ja wohl kaum noch«, brummte er, stand auf und verschwand im Haus. Ich blieb noch einen Moment sitzen, und mein Magen zog sich ein wenig zusammen. War Ben jetzt beleidigt? Aber er konnte diesen Roman unmöglich lesen. Ich wackelte noch ein wenig mit den Zehen in der Sonne und wartete darauf, dass das ungute Gefühl in meinem Magen wieder verschwand. Doch es blieb hartnäckig.
Helmut kam um die Ecke und setzte sich neben mich auf die Treppe. Er leckte sich das Maul.
»Gutes Frühstück?«, fragte ich ihn, und er guckte mir kurz, aber intensiv in die Augen. Seine waren bernsteinfarben. Er hatte sehr schöne Augen. Dann schüttelte er sich ein wenig, woraufhin ich meinen Kaffee retten musste, und ließ sich komplett neben mir auf die Treppe sinken, die Beine unter den Körper gezogen, die Schnauze auf meiner pinkfarbenen Jogginghose platziert. Ich legte meine freie Hand auf seinen Kopf und kraulte ihm das weiche Fell zwischen den Ohren. Helmut gefiel das, er schloss genießerisch die Augen.
»Zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich, dass alles so bleibt, wie es ist«, sagte ich zu ihm. Die Worte kamen direkt aus meinem Herzen und hatten nicht den Umweg durch mein Hirn genommen. Erschrocken lauschte ich ins Haus, ob Ben mich vielleicht gehört hatte, aber in der Küche klapperte es. Er räumte offenbar die Geschirrspülmaschine aus.
»Es ist wahr«, sagte ich zu Helmut, der mir, immer noch mit geschlossenen Augen, ergriffen zu lauschen schien.
In meinem Leben vor Bredenhofe hatte ich mir immer gewünscht, dass alles anders war. Dass ich mehr Geld verdiente, dass ich mehr Freunde hatte, dass ich nicht ständig so alleine war, dass diese verflixte Einsamkeit endlich aufhörte, dass ich sportlicher war, weniger aß, dass es mehr Sinn in meinem Leben gab. Und jetzt war alles gut so, wie es war. Also fast gut. Ich lehnte meinen Kopf gegen die alte Eingangstür. Das Holz war warm von der Sonne.
Helmut seufzte. Und dann seufzte das Haus, ganz tief, als würde dieser Seufzer vom Keller bis zum Dachboden hallen, und ich seufzte gleich mit.
Ben polterte immer noch in der Küche herum. Ich schob Helmuts Kopf sanft beiseite und stand auf. Die Kaffeetasse nahm ich mit, an der konnte ich mich festhalten. Ben räumte tatsächlich die Geschirrspülmaschine aus. Vorher hatte er aber noch die Spüle geputzt und den Herd auf Hochglanz poliert. Zwei Schubladen standen offen, woraus ich schloss, dass er sie ausgeräumt, ausgewischt und wieder eingeräumt hatte. Ein Putzflash.
Ich räusperte mich.
Ben arbeitete ungerührt weiter.
»Ben«, sagte ich energisch. »Wollen wir Uno spielen?« Ein Friedensangebot. Er schnaubte belustigt.
»Hör zu …« Endlich blickte er auf. »Das ist dein Roman. Der dich die ganze Zeit über begleitet. Wenn du nicht übersetzt, schreibst du an dem Ding. Er ist ein Teil von dir geworden. Du bist ja nicht verpflichtet, ihn mir zu zeigen, aber ich habe mittlerweile das Gefühl, dass du da an einem Geheimprojekt arbeitest. Und ein bisschen komisch ist das schon. Ich breite mein ganzes verdammtes Leben vor dir aus, jedes beschissene Detail, und du …«
»Das ist etwas anderes«, unterbrach ich ihn.
»Nein, ist es nicht. Steh zu deinen Worten. Zu deinem Buch und zu dem, was es aussagt. Zu dem, wie du die Liebe siehst. Und dann halte es aus, was andere sagen. Sonst wird das nichts.« Er rieb sich jetzt mit der freien Hand die Stirn. »Wie irre ist es bitte, dass ich mich darüber aufrege?«, fragte er in den stillen Raum hinein. »Es geht mich nichts an. Das ist es doch, was hier klar wird. Du hast dein Leben …« – er deutete auf mich und dann auf sich –, »… und ich habe meins.«
»Ben. Das ist doch Blödsinn. Bitte«, versuchte ich ihn zu unterbrechen.
»Tut mir leid. Es geht mich nichts an. Dein Roman, dein Leben. Ich putze jetzt weiter die Küche.« Und damit drehte er sich in einer abgehackten Bewegung um und tat genau das. Die Küche putzen.
Und ich? Ich stand belämmert herum und sah ihm dabei zu. Nach einer Weile kehrte ich schweigend zur Eingangstreppe zurück und hockte mich dort wieder hin. Die Sonne war gewandert und schickte mir ihre goldenen Strahlen jetzt durch den wilden Wein, der sich an der Hauswand emporrankte. Helmut lag immer noch auf den Stufen und betrachtete mich sorgenvoll, als ich mich neben ihn setzte.
»Alles Scheiße«, setzte ich ihn in Kenntnis und vergrub meine Hände in seinem dichten Pelz. Steh zu dem, wie du die Liebe siehst. Bens Worte hallten in mir nach. Wie sah ich die Liebe denn?
Ich schluckte trocken. Nun. Wohl genau so, wie ich es in den letzten zehn Kapiteln geschrieben hatte.
Ich hörte ihn durch den Flur poltern. Er lief die Treppe rauf und wieder runter. Oben hörte ich die Waschmaschine anlaufen. Hinter mir fing er an, unsere Schuhe zu sortieren und aufzureihen. Ben schaffte Ordnung. Vielleicht um Ordnung in seine Gedanken zu bekommen. Vielleicht aber auch einfach nur für uns. Ich blieb erst mal einfach so sitzen. Und irgendwann, Ben hatte noch eine weitere Runde durch das Haus gedreht, tauchte er hinter mir auf und zwängte sich in die Lücke zwischen Helmut und mir.
»Ich wäre jetzt bereit, eine Runde Uno zu spielen«, verkündete er trocken und hielt mir eine frische Tasse Kaffee entgegen. Und die Karten auch gleich noch.
»Tut mir leid«, sagte ich leise. »Es ist alles ganz anders, als du denkst.«
»Mir tut es auch leid«, erwiderte er. Und wenigstens für den Moment schien das Unheil abgewendet zu sein. Alles war wieder wie immer, aber mich beschlich langsam das Gefühl, dass es nicht so bleiben würde.