Ich wartete. Schon seit zehn Minuten stand ich im härtesten Winter seit Anbeginn der Wetteraufzeichnungen am Straßenrand und wurde immer wütender. Meine Mitfahrgelegenheit entpuppte sich als unzuverlässig. Und das, noch bevor die Reise überhaupt losging. Da hätte ich meine Post vorhin gar nicht in größter Eile vorne in meinen Rucksack stopfen müssen, sondern die Briefe auch in aller Ruhe noch nach oben bringen können. Und vermutlich hätte ich auch noch Zeit für zwei Tassen Kaffee gehabt, während ich mir Gedanken machte, wie ich die Rechnungen – es konnte sich bei den Briefen nur um Rechnungen handeln, ich bekam nie etwas anderes – bezahlen würde.
Ich hätte den Zug nehmen sollen, dachte ich, während die Kälte mir in die Knochen kroch. Meine Mutter hätte mir sogar eine Zugfahrkarte spendiert. Aber nein, Lucy Bradford reiste auf eigene Kosten! Ein kleines Abenteuer in meinem sonst zu langweiligen Leben.
Meine Eltern hatten mir schließlich schon mein Studium finanziert. Irgendwann musste man dann doch auch mal auf eigenen Beinen stehen. Dass der Kühlschrank zuverlässig am Zwanzigsten jeden Monats leer war, verschwieg ich zu Hause wohlweislich, sonst hätte meine Mutter angefangen, Carepakete zu schicken. Oder sie wäre gleich selbst gekommen und bei mir eingezogen, um mein Leben in die Hand zu nehmen. Das galt es unbedingt zu verhindern. Zumal sie dann sofort begriffen hätte, wie unfassbar dröge der Alltag ihrer dreißigjährigen Tochter war, besonders im Gegensatz zu ihrem eigenen. Die Tage meiner Mutter waren eine bunt sprühende Fontäne an Ereignissen; sie lebte quasi am Strand, traf ständig interessante Leute, organisierte Lesungen und malte schrillbunte Bilder.
Hätte ja auch keiner ahnen können, dass ich nach meinem Literaturstudium anfangen würde, selbst zu schreiben. Seitdem war ich eine verarmte Künstlerin, von der noch nicht eine einzige Zeile gedruckt worden war. Ich versuchte dieses Defizit durch Kellnern, einen Nebenjob im Bioladen und das Übersetzen von Romanen aus dem Englischen auszugleichen, aber es gelang mir nur bedingt.
Der eisige Ostwind zischte über mich hinweg, und ich zog den Kopf noch weiter zwischen die Schultern wie eine Schildkröte. Meine Hände in den von meiner Mutter selbst gestrickten Fäustlingen spürte ich schon seit sieben Minuten nur noch schwach, und meine Füße gaben gar kein Lebenszeichen mehr von sich.
Ich trat ein wenig auf der Stelle und fing dann an zu hüpfen. Was es nicht besser machte, weil der Wind so eine wesentlich größere Angriffsfläche hatte und diese auch willig nutzte. Also kauerte ich mich in den Windschatten meines Koffers – was vermutlich recht sonderbar aussah, wenig half, aber immerhin eine Maßnahme darstellte.
Dort saß ich also, als ein uralter Golf in Signalrot neben mir anhielt, eine Tür klappte und sich jemand zu mir auf den Fußweg hockte.
»Geht es dir gut? Bist du Lucy? Brauchst du Hilfe? Ist was passiert?«, schoss dieser Jemand eine Reihe von Fragen auf mich ab. Er klang besorgt.
»Bist du Ben?«, fragte ich scharf und richtete mich auf.
»Ja.« Nun klang er vorsichtig, als wäre er auf der Hut. Gut so, denn ich war echt sauer. Und echt durchgefroren.
»Hör mal!« Ich streckte den Zeigefinger anklagend in seine Richtung, was er nicht sah, weil da noch die Fäustlinge drum herum waren. »Du bist dreiundzwanzig Minuten zu spät! Und das bei der Kälte!«
»Ja. Tut mir leid. Der Wagen ist nicht angesprungen.« Er richtete sich ebenfalls wieder auf, stand stramm und sah für einen Moment aus, als würde er gleich auch noch die Hacken zusammenschlagen.
»Dann hättest du dich ja mal melden können.«
»Du hättest auch einfach reingehen und drinnen warten können. Du wohnst doch hier.« Er deutete hinter mich und hatte natürlich recht. Hätte ich tun können. Hatte ich aber nicht. Weil ich gedacht hatte, das lohnt nicht. Er würde schon gleich kommen.
Tja.
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, noch ein wenig rumzumotzen, sah dann aber davon ab. Lieber betrachtete ich Ben ein wenig genauer, er sah nämlich gut aus. Ziemlich groß, mit einer hellblonden Bad-Boy-Frisur – oben lang und verstrubbelt, die Seiten raspelkurz rasiert. Dazu ein markantes Kinn, ein etwas verwegen wirkender Wikingerbart und strahlend blaue Augen.
»Ich nehme deinen Koffer.« Er packte meinen Überseekoffer und lud ihn in den Kofferraum, als wäre er eine Feder. Was er nicht war. Er wog exakt fünfunddreißig Kilo. Ich hatte ihn vor meinem Aufbruch auf die Waage gestellt. Das tat ich immer, auch wenn ich nicht flog und es eigentlich keine Rolle spielte. Aber es war doch gut zu wissen, wie viel Kilogramm Heimat man mit sich herumzerrte. In diesem Fall also fünfunddreißig, bestehend aus dem Inhalt meines Kleiderschranks und zwei Kilo Käse. Für Papa. Er liebte Käse. Und dieser Käse, der trotz mehrfacher Umwickelung mit Alufolie meine Klamotten verpestete, kam direkt aus der Schweiz und war aus der Milch von sehr glücklichen Kühen auf sehr hohen Bergen hergestellt. Das Geschenk für meine Mama war sogar noch schwerer. Sie liebte Steine, und ich hatte ihr einen riesigen Rosenquarz und mehrere kleine Bergkristalle gekauft. Mein Bruder bekam nichts. Der durfte sich daran erfreuen, dass ich Klein Wöhrde besuchte. Während er auch da war. Ich vermied sonst Besuche, wenn er auch da war. Liam war anstrengend, und außerdem hatte ich meine Eltern lieber für mich allein.
Mit einer galanten Bewegung riss Ben die Beifahrertür auf, und ich ließ mich hoheitsvoll auf den Sitz fallen.
Unauffällig beäugte ich das Innere der alten Kiste. Schäbig war noch untertrieben. Nun hatte ich damit theoretisch kein Problem, aber diesem Auto sah man seine sehr lange Laufbahn einfach an.
Es muffelte auch leicht, was der Duftbaum (Es gab sie wirklich, ich hatte sie für einen Mythos gehalten!) nicht übertünchen konnte. »Weihnachtliche Freude« stand auf dem am Rückspiegel baumelnden Teil. Wie schön, dass in diesem Moment auch noch »Last Christmas« aus den Lautsprechern tönte.
»Na, dann wollen wir mal nach Husum fahren!« Ben schien bester Stimmung zu sein. Ich zückte den Umschlag mit dem Fahrtgeld und legte ihn in die Mittelkonsole.
»Danke«, sagte er und lächelte, während er den Motor anließ und die alte Kiste Richtung Autobahn steuerte. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal mit einem derart gut aussehenden Mann unterwegs gewesen war. Es war offenbar ziemlich lange her, denn mir fiel kein konkretes Ereignis ein. Ich lehnte den Kopf an die Stütze und setzte mich so, dass ich Ben ein bisschen angucken konnte.
»Und du willst deine Eltern besuchen?« Er warf mir einen Seitenblick zu. Vielleicht irritierte es ihn, dass ich ihn so anstarrte, deswegen schaute ich erst mal wieder auf die Straße.
»Ja, einmal im Jahr zu Weihnachten trifft sich die ganze Familie am Ende der Welt. Das heißt in Schleswig-Holstein Klein Wöhrde, und da ist mal so gar nichts los.«
Er lachte. »Der Weihnachtsklassiker. Alles strömt an den Feiertagen zurück nach Hause.«
»Du also auch?«, fragte ich ihn.
»Meine Eltern leben in Island«, sagte er. »Ich fahre nach Husum, da wohnen Freunde von mir.«
»Was machen deine Eltern in Island?«, fragte ich. Island! Wie toll!
Bens Lächeln bekam etwas Unverbindliches. »Ach, dies und das. Und was machen deine Eltern in Klein Wöhrde?«
»Sie vermieten Strandkörbe«, erklärte ich. Sie taten noch weit mehr als das, aber ich wurde abgelenkt. »Oh. Es schneit!« Kindliche Freude flutete mich. Es hatte die letzten Jahre fast nie geschneit, dabei hatte ich es mir jeden Winter aufs Neue gewünscht.
Eine Stunde später schneite es immer noch. Fünfmal hatte meine Mutter seitdem angerufen und mich vor lang anhaltendem Schneefall im Norden Deutschlands gewarnt.
Der Norddeutsche an sich war beim Erscheinen von Schneeflocken ja doch schnell überfordert. Also, nachdem er gestaunt hatte (Oh, Schnee!), sich gefreut hatte (Toll! Endlich mal!) und dann eine Panikattacke bekommen hatte (Oh Gott! Wir werden einschneien! Hilfe! Eine Naturkatastrophe!).
Wir waren immer noch erst kurz hinter Hamburg und bewegten uns im Schneckentempo vorwärts. Ben war vollkommen entspannt, ich hingegen das genaue Gegenteil. Schließlich war ich genetisch betrachtet sehr norddeutsch, während Bens Vorfahren irgendeiner Dynastie bayrischer Milchbauern entstammten, so viel hatte er mir bis jetzt von sich erzählt. Und er schien sich besser mit Schnee auszukennen als ich.
»Das Problem ist auch nicht der Schnee selbst, sondern mehr die Tatsache, dass kurz hinter Hannover alle Autofahrer aufhören, Auto zu fahren und stattdessen verkrampft herumschleichen. Wenn man einfach aufmerksam, aber trotzdem zügig weiterfahren würde, würde nichts passieren«, erklärte er gerade, hielt dabei aber das Lenkrad etwas fester umklammert, als man es gemeinhin tun würde. Sein Handy klingelte. Er deutete mit dem Kinn zur Mittelkonsole.
»Könntest du …?«
»Klar.« Ich griff mir das Handy und fuhr mit dem Finger über das Display. »Hallo, hier ist Lucy, die Mitfahrgelegenheit von Ben. Der fährt und kann grad nicht telefonieren.«
»Ah, Max hier. Bens Weihnachtsdate. Die Unwetterzentrale meldet gravierenden Schneefall. Ist der schon bei euch angekommen?«, fragte Max. Im Hintergrund hörte ich ausgelassenes Gelächter, und sogar das Gläserklirren kam ziemlich deutlich bei mir an. Ich starrte auf die fetten Flocken vor der Windschutzscheibe.
»Jo«, antwortete ich und lauschte der ausgelassenen Feierstimmung. »Aber Ben fährt sehr vertrauenerweckend, und der Golf hat Winterräder. Sagt Ben zumindest.«
»Okay, dann gute Weiterfahrt. Sag ihm bitte, dass Alex morgen zum Frühstück kommt. Das sollte er vielleicht wissen. Und haltet uns auf dem Laufenden!«
Ich legte das Handy wieder in die Mittelkonsole. »Wir sollen deine Freunde auf dem Laufenden halten, und Alex kommt morgen zum Frühstück«, erklärte ich Ben, der daraufhin eine Augenbraue hochzog. Und sie in dieser Position hielt, bis ich fragte: »Alles okay?« Ich fühlte mich dazu bemüßigt, denn mein Chauffeur sah plötzlich ein wenig angegriffen aus. So als wäre eine der beiden Informationen, die ich gerade an ihn weitergegeben hatte, ein herber emotionaler Schlag gewesen.
»Prima«, sagte er und ließ die Augenbraue wieder sinken. Eine Weile schwiegen wir, während Frau Holle uns unablässig mit Schnee puderte. Es war mittlerweile so viel, dass die Fahrbahn komplett weiß war und man sich eigentlich nur noch an den Spuren der voranfahrenden Autos orientieren konnte.
»Und, Lucy«, sagte Ben irgendwann. »Was machst du so, wenn du nicht grad in den Norden reist?«
Ich zögerte kurz, nahm dann aber meinen Mut zusammen und antwortete: »Ich schreibe. Bücher.«
Ben warf mir einen kurzen, überraschten Seitenblick zu, die übliche Reaktion auf diese Aussage, meistens gefolgt von der Frage, ob man was von mir kennen müsse (Nein, wie auch?), und der Frage, ob man davon leben könne (Himmel, so was von nein!). Aber Ben fragte stattdessen: »Woran schreibst du gerade?«
»An einem Liebesroman«, erwiderte ich. Dabei schrieb ich schon seit Tagen nicht mehr. Ich kam nicht weiter. Was schlecht war, denn irgendwann würde ich das Ding fertig haben müssen. Es war mir nämlich gelungen, den Roman an einen ziemlich großen Verlag zu verkaufen, und zwar mit einem Umfang von 380 Seiten. Von denen es aktuell genau fünfzig gab. Ich blickte nach vorn auf die verschneite Straße und wartete auf eine abfällige Reaktion, so etwas wie: »Ach, Liebesromane! Ha ha!«. Liebesromane verkauften sich gut, Unmengen von Leuten mussten sie also auch lesen. Aber keiner gab es zu.
Aber Ben lachte nicht. »Und worum geht es?« Er schien ernsthaft interessiert zu sein.
»Um die Liebe.« Ich wollte eigentlich gar nicht so wortkarg sein, aber bei diesem Thema wurde ich immer sehr norddeutsch. Ich konnte überhaupt nicht gut über meine größte Leidenschaft sprechen. Es war wie verhext: Sobald es ums Schreiben ging, schrumpfte ich zu einer klitzekleinen Maus zusammen, die nichts mehr zu sagen hatte. Dabei war ich sonst keinesfalls auf den Mund gefallen.
Ich starrte weiter auf die immer dichter werdenden Flocken. Der großen Liebe auf die Spur zu kommen, war eben ein ambitioniertes Vorhaben. Das war eine echt große Nummer.
»Ich würde gern mal ein Buch von dir lesen«, verkündete Ben, was ich irgendwie süß fand. Und lustig. Es gab ja kein Buch von mir. Noch nicht. »Ich lese sonst nämlich nur Fachzeitschriften.«
»Ich habe noch nichts veröffentlicht«, wandte ich vage ein. »Eigentlich lebe ich aber vom Übersetzen. Meistens übersetze ich Liebesromane vom Englischen ins Deutsche«, schob ich hinterher.
»Dann ist der Name Bradford tatsächlich so englisch, wie er klingt?«
»Du kennst meinen Namen?«, fragte ich zurück, und Ben schenkte mir ein einseitiges Grinsen. »Dann kenne ich auch deinen Namen«, fügte ich hinzu, aber der wollte mir wirklich nicht einfallen. Bei der Mitfahrzentrale musste man immer seinen vollen Namen angeben, und ich hatte ihn sogar meiner Mutter geschickt, damit sie wusste, mit wem ich unterwegs war, aber ich hatte ihn vergessen. In meinem Kopf waren zu viele Dinge.
»Benedict Greifenberg«, half Ben mir auf die Sprünge.
»Oh. Ja. Sorry.« Ich grinste verlegen. »Mein Vater kommt aus Cornwall. Du hast also recht, mein Name ist sehr britisch, und ich bin zweisprachig aufgewachsen. Was natürlich für den Job enorm hilfreich ist«, erklärte ich, und dann trat Ben voll auf die Bremse, und wir rutschten quer über die Autobahn. Ich packte den Griff an der Tür und schnappte nach Luft. Wir waren so langsam gewesen und hatten trotzdem noch so viel Schwung drauf. Ein paar Zentimeter neben mir zog die Leitplanke vorbei. »Scheiße!«, brüllte ich inbrünstig, als wir endlich zum Stehen kamen. Ohne eines der anderen Autos zu treffen. Oder von der Straße zu rutschen, in der Leitplanke zu landen oder gleich per Überschlag an der Böschung kleben zu bleiben.
»Hmpf«, erwiderte Ben. Um uns herum standen noch mehr Autos quer auf der Straße, und einige Leute stiegen aus. Ben ebenfalls, weswegen ich beschloss, erstmal sitzen zu bleiben. Draußen hatte sich eine weiße Wand vor den Golf gestellt, die mir Angst machte. Wenige Minuten später tauchte Ben schneebedeckt wieder auf. Kaum saß er neben mir, fing ebendieser Schnee an zu schmelzen und tropfte in den Fußraum.
»Da war doch tatsächlich einer mit Sommerreifen unterwegs. Der ist jetzt allerdings in der Leitplanke gelandet. Ist niemandem was passiert«, setzte er hinzu, als er mein erschrockenes Gesicht sah, und begann, sich mit einer Decke vom Rücksitz trocken zu tupfen.
Ich atmete erleichtert auf. »Mein Bedürfnis nach Abenteuer ist jetzt schon gedeckt«, erklärte ich und ließ zitternd den Türgriff los, den ich immer noch umklammert gehalten hatte.
»Du hast ein Bedürfnis nach Abenteuer?« Ben legte die Decke zurück auf den Rücksitz und schnallte sich wieder an.
»Ja. Gestern noch habe ich gedacht, mein Leben wär total langweilig. Heute allerdings muss ich sagen, es reicht völlig aus, hin und wieder eine neue Kaffeesorte auszuprobieren. Das hier brauche ich so schnell nicht wieder.« Plötzlich begannen unsere Handys zu klingeln, und da es in diesem Moment eh nicht weiterging, konnten wir auch beide gleichzeitig und höchstpersönlich die aufgelösten Menschen beruhigen, die auf uns warteten. Bei mir waren allerdings nur meine Mutter und mein Vater aufgelöst. Mein Bruder brüllte aus dem Hintergrund – vermutlich mit heißer Schokolade auf dem Sofa vor dem Weihnachtsbaum sitzend –, er würde mir keinen Krümel vom Christstollen übrig lassen. Was mich zugegebenermaßen schwer verletzte. Ich liebte Christstollen.
Seufzend legte ich auf und blickte zu Ben hinüber. Der tat es mir gleich und griff dann erneut auf die Rücksitzbank, um eine Dose mit Weihnachtsplätzchen hervorzuziehen. »Von einer Patientin«, erklärte er, öffnete den Deckel und hielt mir den Inhalt vor die Nase. Die Plätzchen sahen aus, als hätten sie in einem Weihnachtsspecial irgendeiner dieser Food Blogs die Statisten gespielt. Zumindest die obersten waren ganz und gar gleichförmig in Engelsform ausgestochen, glänzten matt vom Zuckerguss, und die bunten Streusel glitzerten verheißungsvoll im Schein der dämmrigen Innenraumbeleuchtung des Golfs.
»Die besten Weihnachtskekse ever«, erklärte Ben, vielleicht weil ich die Dose immer noch anstarrte. Ich sah auf.
»Eine Patientin?«, fragte ich, während er sich einen kompletten Engel quer in den Mund schob.
Vorsichtig nahm ich ebenfalls einen Keks und biss eine Ecke ab. Er schmeckte so perfekt, wie er aussah.
»Bist du Arzt?«, fragte ich, weil Ben immer noch kaute. Er nickte. »Was denn für ein Arzt?«, fragte ich weiter.
»Allgemeinmediziner.«
Wow. Allgemeinmediziner. Ich hätte mit so manchem gerechnet – Rockstar, Model, irgendein Start-up-Gründer für die alternative Gewinnung von Ionenlithium oder so etwas –, aber nicht damit. Außerdem dachte ich immer, Ärzte wären reich. Und wenn nicht reich, dann doch mindestens so vermögend, dass sie einen schnittigen Neuwagen fuhren. Ben blinzelte mich mit seinen irritierend blauen Augen an. Er sah nicht so aus, als wollte er diese erstaunliche Information weiter kommentieren, sondern angelte sich stumm ein Vanillekipferl vom Boden der Dose.
Nach einer gefühlten Ewigkeit konnten wir endlich weiterfahren. Außerordentlich langsam, aber es ging voran. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, aber je weiter wir in den Norden kamen, desto dichter fiel der Schnee. Mittlerweile waren wir fast zwei Stunden unterwegs, doch bei dem Tempo hätten wir genauso gut zu Fuß gehen können. Da man aber vor lauter Flocken die eigene Hand vor Augen nicht mehr sehen konnte, hätten wir uns vermutlich verlaufen. Dann doch lieber der alte, muffige Golf, in dem die Heizung wenigstens rudimentär funktionierte.
Wir schwiegen. Im Radio liefen abwechselnd Weihnachtslieder und Unwetterwarnungen. Als der Radiomoderator irgendwann mit ernster Stimme sagte, spätestens jetzt solle jeder zusehen, dass er ins Haus kam, warf ich Ben einen Seitenblick zu. Er wirkte hoch konzentriert und hielt das Lenkrad so fest, dass seine Fingerknöchel ganz weiß waren. Ben bemerkte meinen Blick. »Es sind nur noch knapp hundert Kilometer.«
Seine Worte sollten mich beruhigen. »Klar. Das schaffen wir locker!« Ich fühlte mich aber nicht beruhigt. Ich meine, wenn schon der Mann im Radio sagte, man sollte sich umgehend einen festen Unterschlupf suchen, musste es wirklich ernst sein. Das war nämlich der gleiche Typ, der auch Montagmorgens moderierte, und zwar mit einer Gagdichte, die mich regelmäßig dazu brachte, mein Radio aus dem Fenster werfen zu wollen. Der Kerl schien sonst Stimmungsaufheller zu frühstücken. Aber heute war er so ernst wie ein Pastor, der über die Erbsünden sprach und unter Verstopfung litt.
Aber Ben blieb vollkommen ruhig. Zumindest äußerlich.
Also riss ich mich zusammen. Cool bleiben, Lucy. Du hättest es schlimmer erwischen können.