Eines konnte Carlo nicht leiden: Wenn man an ihm herumfummelte. Seine Mama hatte einen unersättlichen Pflegetrieb, der sie dazu verleitete, anderen Leuten – speziell ihrem Sohn – Haare und Nägel zu schneiden, Ohren mit Wattestäbchen zu putzen, Pickel auszudrücken und was es dergleichen sonst noch gibt. Am schlimmsten war es natürlich, wenn man krank war, dann konnte sie sich richtig austoben.
Deswegen war Carlo hocherfreut, als seine Mutter eines Tages noch ein Baby erwartete, an dem sie ihre Gelüste würde ausleben können. Die Eltern hatten Carlo abends ins Wohnzimmer gerufen. Papa trank Sekt, Mama nur Wasser.
»Es gibt etwas zu feiern, Carlo«, hatte der Vater gesagt. »Komm, wir stoßen mit dir an!« Carlo erhielt eine Apfelschorle, sein Lieblingsgetränk, und erfuhr, dass er einen kleinen Bruder oder eine Schwester bekommen würde.
»Wann?«, fragte er und betrachtete prüfend den Bauch seiner Mutter. Es würde noch eine Weile dauern, hatte die Mama lachend gesagt und Carlo umarmt, und sie würde erst noch ganz kugelrund. Aber Carlo bekam plötzlich Bedenken, denn er dachte an seinen Freund Jan, dem die kleine Schwester oft die schönsten Lego-Konstruktionen zerstört hatte. Außerdem fiel ihm Mehmet ein, der in seine Klasse ging und ganz in der Nähe wohnte. Mehmet hatte immer seinen dreijährigen Bruder Mustafa im Schlepptau, und das war mehr als lästig. Wenn sie auf der Straße spielten, war Mustafa viel zu lahm beim Wettrennen, und beim Verstecken hatte er so laut geheult, dass man ihn gar nicht erst zu suchen brauchte. Bestimmt lag es an dem kleinen Bruder, dass die anderen Kinder nicht gern mit Mehmet spielten.
Doch die Eltern hatten Carlos Zweifel zerstreut und immer wieder lustige Geschichten von kleinen Geschwistern erzählt, die sie selbst erlebt hatten. Die Mutter mochte auch Mustafa gut leiden; und sie erklärte, wenn der Kleine nicht mit den Großen mitspielen dürfe, würde er kein Deutsch lernen. Es sei sehr anständig von Carlo, dass er Mehmet und Mustafa auch mal gemeinsam zu sich nach Hause mitbrachte.
Dann fing das Problem mit dem Namen des Babys an. Carlo war für Dennis. Er kannte einen großen Jungen aus der vierten Klasse, der so hieß. Der hatte zwei ältere Brüder, einen eigenen Fernseher und ein super Rennrad. Aber die Eltern waren für Jakob, was Carlo gar nicht passte. Nur gut, dass sich das Problem bald in Luft auflöste, denn das Baby wurde eine Kathrin.
Als Mama ins Krankenhaus musste, kam Oma angereist, denn Carlo und Papa kamen allein nicht so gut zurecht. Mit ihrer Hilfe aber klappte es: Oma kochte, Papa ging einkaufen. Carlo kümmerte sich um den Dackel und goss die Blumen auf dem Balkon. Die Betten aber machten Papa und Carlo erst, kurz bevor die Mutter mit dem Baby heimkommen sollte. Dabei bemerkten sie, dass der Hund sich oft in Mutters Bett verkrochen hatte und alles voller Haare war. Oma bestand auf einem frischen Bettbezug.
Schließlich holte der Vater die Mama und das Kleine vom Krankenhaus ab. Alles war fast wie an Weihnachten, die halbe Verwandtschaft kam zu Besuch. Außer der Oma noch Onkel Herbert, Tante Alma und Tante Marie. Oma hatte vier Kuchen gebacken und die Kaffeetafel mit dem besten Tischtuch gedeckt. Carlo hatte ein Willkommensschild gemalt.
Alle starrten das Schwesterchen an und bewunderten es, dann wurde es ins Schlafzimmer getragen, weil dort die Wiege stand. An der Kaffeetafel ging es hoch her, und Carlo kam alles so seltsam vor wie ein Traum. Auf einmal musste er weinen und wusste gar nicht, warum. Seine Mutter sagte, sie sei müde und wolle sich ein bisschen hinlegen, und Carlo solle ihr Gesellschaft leisten und sich zu ihr setzen.
Als Carlo an Mutters Bett saß, durfte er Kathrinchen vorsichtig auf den Arm nehmen und konnte sie zum ersten Mal richtig lange anschauen. Er war ganz überwältigt, dass dieses Wesen mit den winzigen Fingern zu seiner Familie gehören sollte. Die Mutter erzählte von früher, als Carlo geboren wurde, wie sehr sie sich damals gefreut hätten. Es war warm und gemütlich im Schlafzimmer, und Carlo wurde müde von der ganzen Aufregung. Er legte sich in Papas Bett neben Mama, die das kleine Schwesterchen stillte. Schläfrig streichelte er hin und wieder Kathrinchen. Unter dem Bett schnarchte leise der Dackel.
Vom Wohnzimmer allerdings drang Lärm herüber, der Vater schien immer wieder Wein aus dem Keller zu holen. Einmal hörte man ganz deutlich, wie Tante Alma sagte: »Herbert, trink nicht so viel!«
Schließlich gab es noch viel Gepolter, lautes Lachen, Türenschlagen und Abschiedsrufe, dann schienen alle Gäste fort zu sein. Irgendwann kam der Vater laut singend ins Schlafzimmer. Er entdeckte Carlo in seinem eigenen Bett und trug ihn ins Kinderzimmer. »Du bist jetzt ein großer Bruder«, sagte er.
Kaum wurde Kathrinchen ein wenig älter, merkte man, dass sie den großen Bruder am liebsten hatte. Wenn Carlo sich an ihr Bettchen stellte und ein bisschen Quatsch machte, fing die Kleine an zu jauchzen. Und wenn er wieder wegging, brüllte sie. Carlo brachte jetzt oft seinen Freund Mehmet mit, denn der war Experte in Sachen Säuglinge. Doch wo immer Mehmet auftauchte, war auch Mustafa dabei, er klebte fest an seiner Hand. Mustafa war zwar kein Baby mehr, aber Mehmet hatte zu Hause auch noch Ali, und der war nur vier Wochen älter als Kathrin. Carlo ging zum ersten Mal mit Mehmet nach Hause, um sich Ali einmal anzusehen. Obwohl das Türkenkind viele Haare und tiefschwarze Augen hatte, gefiel ihm die eigene Schwester trotz Glatze doch besser. Im Spaß stritten Mehmet und Carlo manchmal, welches Baby schöner und klüger war. Bei seinen Besuchen in der kleinen Wohnung bekam Carlo immer ein Stück Baklava zu essen, das schmeckte sehr süß, und einmal trank er süßen Tee aus einem Glas.
Mehmet kannte sich mit Babys aus, fast wie eine Mutter. Nur die anderen Freunde hatten Kathrinchen schon ein paarmal durch ihr wildes Getobe erschreckt. Wenn Mehmet und Mustafa bei Carlo waren, kamen allerdings keine anderen Kinder. Ein Mädchen aus ihrer Klasse hatte gesagt, sie spiele nicht mit Türken, weil die nach Knoblauch stänken.
»Riechst ja selbst nach Stinkerkäse!«, hatte Carlo ihr zurückgegeben, aber damit war das Problem nicht gelöst. Leider wurde Mehmet von den anderen auch nie zum Geburtstag eingeladen. Carlo fand das richtig gemein.
Eines Tages nach dem Mittagessen, als Mutter die Oma schnell zum Bahnhof brachte, spielte Carlo mit Mehmet im Wohnzimmer Mensch ärgere Dich nicht. Mustafa guckte mit großen Augen zu, er konnte kaum bis drei zählen. Doch Mehmet war plötzlich mit den Gedanken woanders. »Du, Carlo, hör mal – das Baby!« – »Ach was«, sagte Carlo. »Kathrin schläft, wir sollen sie nicht wecken. Du bist dran …« Er schob seinem Freund den Würfelbecher hin. Mehmet aber lauschte wieder und fand, sie müssten einmal nachschauen gehen. Unwillig erhob sich Carlo. Jetzt hörte auch er ein seltsames Japsen. Sie rannten ins Nebenzimmer und bekamen einen furchtbaren Schreck: Das Schwesterchen hatte sich in seinem Schlafsack völlig verdreht, dabei hatte sich eines der Bändchen eng um seinen Hals geschlungen. Die Kleine konnte gar nicht mehr schreien, sondern nur noch röcheln. Carlo versuchte, mit zitternden Händen die Verschnürung zu lösen, aber es ging nicht. Mehmet behielt dagegen die Ruhe.
»Schere«, sagte er wie ein erfahrener Chirurg, und Carlo rannte weinend zu Mutters Nähtisch.
Schnipp, schnapp schnitt Mehmet alle Bändchen durch, und das arme Kathrinchen konnte wieder atmen. Es schnappte recht beängstigend nach Luft und schrie auf einmal wie am Spieß. In diesem Moment hörte man die Tür gehen, die Mutter kam zurück. Als sie das Baby brüllen hörte und Carlo obendrein, ließ sie Tasche und Schlüssel fallen und kam hereingeschossen.
Völlig außer sich riss sie Kathrinchen aus dem Bett, aber die Kleine schrie weiter und wollte sich überhaupt nicht beruhigen. Auch Carlo konnte vor Schreck und Aufregung kaum sprechen, dafür erstattete Mehmet einen genauen Bericht.
Ein paar Tage später malte Carlo seinen Freund mit einer riesigen Schere in der Hand und schrieb darunter: DER RETTER. Das Bild schenkte er Mehmets Eltern. Und in der Schule erzählte er der ganzen Klasse mitsamt der Lehrerin, wie Mehmet seine kleine Schwester aus großer Gefahr befreit hatte.
Von nun an nahm Carlos Mutter Mehmet immer mal die Sorge um seinen kleinen Bruder ab. Bei schönem Wetter zogen alle miteinander zum Spielplatz im Schlosspark. An der Spitze des Konvois fuhren Carlo und Mehmet mit dem Fahrrad, es folgten zwei Jungen auf Inlineskates, dahinter Mutter mit dem Hund an der Leine und Kathrin im Kinderwagen, an dem sich Mustafa festklammerte. Im Park setzte sich die Mutter auf eine sonnige Bank. Der Hund fraß Gras, Mustafa buddelte im Sandkasten, und Kathrin freute sich, so viele interessante Dinge beobachten zu können. Die großen Kinder kletterten auf den Gerüsten herum oder sausten auf den Rädern durch den Park. Mehmet lernte jetzt endlich Rad- und sogar Rollschuhfahren, mit Mustafa an der Hand hatte das nie geklappt.
Wenn sie schließlich heimkamen, gab es Apfelschorle, und jeder durfte sich nach Herzenslust von den frischen Muffins nehmen. Bald darauf wurde Mehmet auch zu den Geburtstagen von Carlos Freunden eingeladen.