Wenn ich früh am Tag – noch im Morgenrock – unsere Zeitung aus dem Briefkasten hole, treffe ich oft einen gutgenährten Stubentiger.
»Guten Morgen, Katzmarek«, begrüße ich ihn. Seinen wahren Namen kenne ich nicht.
Anscheinend hat er schon auf mich gewartet, denn er stellt sich sofort in Positur. Mit sanftem Druck streiche ich mit Zeige- und Mittelfinger sein Rückgrat hinunter, mindestens dreimal vom Nacken bis zur Schwanzwurzel. Wenn Katzmareks Wollust hiermit befriedigt ist, führt er mir vor, wie man unseren Fliederbaum in einen Zottelbär verwandeln kann. Er bearbeitet einen dicken, schrägen Ast so ausgiebig, bis sich Baststreifen ablösen. Nach dieser Vorführung verabschieden wir uns, und jeder geht seines Weges.
Im Laufe meines langen Lebens lernte ich viele Katzen kennen. Die erste hieß Minne-Minne und war ein roter Wildfang. Meine Schwestern und ich haben Minne-Minne zwar nicht direkt gequält – das hätten unsere Eltern nie zugelassen –, doch leider wie eine lebendige Puppe behandelt. Zum Beispiel feierten wir ihren Geburtstag mit einem Kuchen aus Sand und Zahnpasta, bekränzten sie mit Gänseblümchen, spielten Friseur und kürzten ihre Barthaare oder tauften sie mit Regenwasser. Es ist erstaunlich, dass sie trotz aller ungestümen Liebkosungen oder gar Demütigungen unsere Nähe suchte. Minne-Minne ließ es sich sogar gefallen, dass wir ihr Kleider anzogen, sprang dann allerdings schnell aus dem Puppenwagen und kletterte auf einen Baum. Wie ein Zirkusäffchen blieb sie in rotem Rock und Häubchen dort oben hocken, bis es uns zu langweilig wurde. Was aus Minne-Minne geworden ist, kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann verschwand sie von der Bildfläche.
Das Aussitzen eines Problems – wie es auch Politiker zuweilen tun – habe ich noch Jahrzehnte später bei vielen Katzen beobachtet. Wenn unser Hund eine Katze aus dem Garten jagen wollte, saßen die Dachhasen im Nu auf einem hohen Ast, darunter der ungeduldige Hund. Aus luftiger Höhe wurde miaut, tiefer unten gejault. Im Allgemeinen gab der Hund als Erster auf.
Vor allem unser Mischling Jacobowsky hielt es für seine Pflicht, Eindringlinge aus seinem Terrain zu verscheuchen. Mitunter glückte das recht schnell. Doch wenn ein wehrhafter Kater einfach stehen blieb, die Krallen ausfuhr und fauchte, traute sich Jacobowsky keinen Zentimeter näher heran und versuchte erfolglos, den Störenfried durch Kläffen in die Flucht zu schlagen.
Im Inneren aber war besagter Jacobowsky, ein hochbeiniger Halbdackel, trotz seines Namens eine Hündin mit mütterlichen Instinkten. An einem warmen Sommerabend wurde bei uns gegrillt, der Geruch von gebratenem Fleisch lockte ein winziges Kätzchen aus der näheren Umgebung heran. Das kleine Ding war noch so jung, dass es nichts von der uralten Feindschaft zwischen Hund und Katz ahnen konnte. Furchtlos, neugierig näherte es sich unserem Jacobowsky, der ein wenig ratlos und verlegen reagierte. Einen solchen Dreikäsehoch konnte er beim besten Willen nicht davonjagen.
Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine rührende Tierfreundschaft. Jacobowsky pflegte sein adoptiertes Baby immer wieder gründlich abzuschlecken. Unsere Kinder nannten das Kätzchen Tamerlan, und seit sie den Zeichentrickfilm Aristocats kannten, war klar, dass Katzen viel Musik brauchen. Also sangen wir ein Lied, dessen Text von Tucholsky stammt:
Tamerlan war Herzog der Kirgisen,
Und jeder Mensch in Asien wusste, wo er war.
Tamerlan ritt über grüne Wiesen
Und wo der Junge einmal hintrat, wuchs kein Gras …
Unser Kirgisenherzog schien dieses Lied zu lieben. Im Gegensatz zu seinem Namensgeber war er feinsinnig – und nicht mehr heimatlos. Die Nachbarn, denen Tamerlan ursprünglich gehörte, sahen bald ein, dass es keinen Zweck hatte, seine Anhänglichkeit zu unterbinden. Jacobowsky und Tamerlan lagen einträchtig auf unserem Sofa, teilten sich Katzen- oder Hundefutter und vergnügten sich in unserem und anderen Gärten. Nach etwa einem Jahr wurde Tamerlan überfahren, das traurige Los vieler frei herumlaufender Katzen. Jacobowsky vermisste seinen Augapfel, das Fressen schmeckte ihm nicht mehr. Eine Zeitlang war er untröstlich, benahm sich fortan aber nachsichtiger im Umgang mit streunenden Katzen.
Schon früher hatte ich einträchtiges Zusammenleben von Hund und Katze beobachten können.
Als ich ein Teenager war, schenkte man meinen Eltern zwei kleine Siamkätzchen, unzertrennliche Brüder. Wir nannten sie Mao Zedong und Dschingis Khan, kurz Mao und Dsching. Als die Zwillinge bei uns einzogen, besaßen wir bereits einen Jagdhund, Katzenfeind von Berufs wegen. Es war eine umständliche Prozedur, den Hund an die neuen Familienmitglieder zu gewöhnen. Täglich gab es eine Stunde Unterricht: vom bloßen Anschauen bis zum Beschnüffeln, anfangs mit Maulkorb und Leine. Nach ein paar Wochen waren alle drei gute Freunde. Leider fand diese rundum harmonische Zeit ein trauriges Ende: Der inzwischen stattliche Dsching sollte Vater werden und wurde zu diesem Zweck ausgeliehen. In den frühen fünfziger Jahren waren reinrassige Siamkatzen mit blauen Augen noch eine Rarität. Nach erfolgreicher Tat brachte man Dsching wieder heim, doch von da an war es um die innige Zuneigung der Brüder geschehen. Sie bissen sich so heftig und ausdauernd, dass wir Dsching weggeben mussten. Mao freundete sich dafür immer enger mit dem Jagdhund an; sie schliefen zusammen in einem Korb, fraßen aus einem Napf wie Jahre später unser Jacobowsky und Tamerlan. Als Mao viele Jahre später starb, war die Trauer des Hundes besorgniserregend.
Bei einem Urlaubsaufenthalt in den neunziger Jahren lernten mein Mann und ich einen deutschen Schriftsteller kennen, der ganzjährig auf Mallorca lebte. Anfangs hatte seine Frau nur eine einzige Katze gefüttert, die herrenlos und hungrig um ihr Haus strich. Mit der Zeit war die Zahl der Asylanten immer größer geworden. Jeden Abend klopfte mein Kollege mit einem Holzlöffel auf einen Kessel und rief mit lauter Stimme wie im Märchen vom Kleinen Muck: »Kommt alle herbei, gekocht ist der Brei!«, und aus den Büschen, unter parkenden Autos, zwischen Beeten und Müllcontainern huschten die Gäste hervor und fraßen gierig aus den vielen aufgestellten Schüsseln und Näpfen. Mit der Zeit wurden die Katzen zutraulicher und bekamen für Regentage auch ein Quartier angeboten. Unter der Pergola türmten sich bald Schuhkartons, ausrangierte Einkaufstaschen, Pappschachteln, zerlöcherte Körbe und andere ausgepolsterte Schlafgelegenheiten. »Not macht erfinderisch« – es war ein kunterbuntes Durcheinander wie in einer brasilianischen Favela.
Um die Zahl der Tiere in Grenzen zu halten, fuhr die Frau des Schriftstellers regelmäßig den einen oder anderen Schützling zum Tierarzt und bezahlte die Sterilisation oder Kastration. Ein Fass ohne Boden, denn es kamen immer neue Zuwanderer. Was man auch versuchte – es war alles für die Katz.
Ebenfalls auf Mallorca erfuhren wir mit leichtem Befremden, wie rassistisch Katzen sein können. Da gab es einen kleinen Kater, der von den anderen nicht an die Futterquelle herangelassen wurde. Der abgemagerte El Negro stellte sich bettelnd bei uns ein und wurde natürlich aufgepäppelt. Er war der einzige völlig Schwarze unter der getigerten und gefleckten Schar; offenbar hatte man in der mallorquinischen Katzenwelt noch nichts vom Ende der Apartheid gehört.
Als meine jüngste Schwester erfuhr, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, wünschte sie sich ein Haustier zum Schmusen; die Wahl fiel auf eine Kartäuserkatze. Es sollte kein junges, verspieltes Tier sein, sondern eines von zurückhaltendem Temperament und mit dem Bedürfnis nach Ruhe und Zärtlichkeit. Der Züchter empfahl eine ältere Mieze, die von ihren Genossen nicht gut gelitten wurde. Bei Einzelhaltung würde sie mit Sicherheit aufblühen.
Diese Kartäuserin war bildschön und hochgradig neurotisch. Die ersten Wochen lebte Mielchen unter einem Schrank und kam nur nachts zum Toilettengang oder Fressen heraus. Von Knuddeln, Kraulen und Streicheln konnte keine Rede sein. Durch die Geduld ihrer Herrin taute sie nach längerer Zeit immer mehr auf, aber Besucher bekamen sie nie zu Gesicht. Manchmal sah ich einen grauen Schatten blitzschnell irgendwo verschwinden, das war alles. Aber meine Schwester hatte mit viel Liebe und Zuwendung ihr Ziel erreicht: die Freundschaft und Gesellschaft eines spinnenden Kätzchens an ihrem Krankenbett.
Meine Schwester starb. Sie lag friedlich im Bett und sah aus, als schliefe sie. Nachdem ich Abschied genommen hatte und die Tote, meinen Schwager und meinen Neffen verlassen wollte, tauchte Mielchen plötzlich auf und setzte sich vor mich auf einen Sessel. Ich redete leise auf sie ein, wollte sie trösten, konnte aber letzten Endes nur schluchzen. Die Katze hörte sehr aufmerksam zu, ließ mich näher kommen, ließ sich hinter den Ohren kraulen und begann, sanft zu schnurren. Es schien, als wolle sie sagen: Ich weiß genau, dass etwas sehr Trauriges geschehen ist.
Mein Schwager war fassungslos über die Reaktion der Katze, die sich einer fremden Person bisher noch nie gezeigt hatte, geschweige denn sich von ihr anfassen ließ. Die Antennen dieser kleinen Raubtiere sind wohl sensibler, als es sich unsere Schulweisheit träumen lässt. Und Empfindungen wie Liebe, Eifersucht, Schmerz oder Trauer sind bei ihnen sicherlich ebenso intensiv wie bei uns Menschen.