Vor einem halben Jahr hat sich mein Leben durch den Tod meiner Mutter insofern drastisch verändert, als ich den Gürtel plötzlich enger schnallen musste: Zwar habe ich Mutters Reihenhäuschen geerbt, aber ihre Rente fiel nun weg. Ich habe Klavierkammermusik mit Hauptfach Liedbegleitung studiert, aber leider keine Stelle an der Hochschule erhalten. Immerhin kann ich mich einigermaßen über Wasser halten, wenn ich täglich mindestens vier Gesangsstudenten und wöchentlich je einen Laien-, Kirchen- und Frauenchor betreue.
Als erste Sparmaßnahme vermietete ich eines der vier Zimmer an Justyna, die tagsüber als Altenpflegerin arbeitet und an zwei Abenden in der Volkshochschule Deutsch lernt. Sie war es auch, die schon nach wenigen Wochen mit einem jungen Kätzchen nach Hause kam, was meine strenge Frau Mama niemals geduldet hätte. Meine Schüler amüsierten sich sehr, wenn unser Lieschen oben auf dem Flügel Unsinn trieb und den zuckenden Schwanz abwärtsbaumeln ließ, während ich den Erlkönig samt Kron’ und Schweif begleitete.
An manchen Abenden, wenn sowohl Justyna als auch ich zu Hause sind, singt sie mir vor. Sie hat mir ein polnisches Liederbuch besorgt, denn sie selbst kennt und braucht keine Noten, die Texte hat sie sowieso im Kopf. Für mich ist es eine willkommene Abwechslung, nach unzähligen Winterreisen und Schönen Müllerinnen, Brahms- und Silcher-Liedern nun mal Poesie in einer fremden Sprache zu hören und eine unverbildete, aber hochmusikalische Sängerin zu unterstützen. Justyna hat eine kräftige Statur und ebensolche Altstimme, sie singt voller Inbrunst und ohne die geringsten Skrupel.
Eines Tages zog Justyna das polnisch-deutsche Wörterbuch aus dem Regal und begann zu blättern.
»Wenig geschlafen, sehr laut heute Nacht«, begann sie, pausierte und suchte weiter, »heute Nacht hat Katz …« Sie stoppte wieder, bis sie endlich das deutsche Wort fand. »Hatte Katz Geschlechtsverkehr!«, buchstabierte sie.
Ich war entsetzt. »Aber Lieschen ist ja noch ein halbes Kind!«, rief ich. »Und nicht sterilisiert! Sie wird Junge kriegen! Was machen wir nur!«
»Katz kriegt kein Baby, ist Mann«, sagte Justyna, und ich glaubte ihr, denn sie stammte vom Lande und kannte sich besser aus als ich. Der Kater wurde umgetauft, hörte nun ebenso wenig auf Fritz wie vorher auf Lieschen und durfte nachts das Haus nicht mehr verlassen. Am frühen Morgen wurde ich oft von seiner rauhen Zunge geweckt.
Ich war naiv genug, diese Geschichte bei den nächsten Chorproben sowie bei den Studenten zum Besten zu geben. Weil ich Männchen nicht von Weibchen unterscheiden konnte, brauchte ich fortan für den Spott nicht zu sorgen. Außerdem hatte ich nun einen weiteren Spitznamen weg: Katerlieschen.
Es hatte sich bald herumgesprochen, dass ich statt eines Mannes einen Kater im Bett hatte, und allerlei Schabernack war die Folge. Neulich erschien der Bariton mit einer Sopranistin im Schlepptau. Die beiden wurden sonst zu völlig unterschiedlichen Zeiten bestellt – jetzt wollten sie mit einem frechen Grinsen das Katzenduett von Rossini einstudieren. Und als ob das nicht schon genug war, wünschte sich der Kirchenchor ein Madrigal aus der Renaissance, bloß weil Hund, Katze, Kuckuck und Eule mit ihren ureigensten Lauten darin vorkommen. Contrapunto bestiale ist zwar ein hübsches Stückchen, doch die Banausen hatten es nur deshalb ausgesucht, weil sie für die anstehende Probe meinen tierischen Mitbewohner als Solisten einladen wollten, denn auch unter alten Betschwestern gibt es alberne Spaßvögel.
Mit Sicherheit wurde bereits früher über mich gelästert. Die Sänger sind zwar zu anständig, um über mein Glasauge herzuziehen, aber mein rheinischer Tonfall reicht bereits für eine Parodie. Wahrscheinlich passt auch meine Vorliebe für heitere Farben nicht zu meinem Alter, weil man sie eher einem Teenager zubilligt: Rosa, Violett, Golden und Silbern. Doch warum soll ich in Grau, Braun oder Schwarz herumlaufen, wo ich schon im düsteren Ambiente meiner Mutter leben und bei öffentlichen Veranstaltungen wie ein Schornsteinfeger auftreten muss? Ich bin relativ klein und ein wenig kurzbeinig, Hosen stehen mir überhaupt nicht. Meine schwingenden bunten Röcke sind wohl für die Spießer in ewiger Einheitskleidung zu exotisch, sie würden mich lieber in Jeans und schwarzem Rollkragenpullover sehen. Bevor man mich Katerlieschen taufte, raunte man sich im Flüsterton spöttische Bemerkungen über Miss Piggy oder Funkenmariechen zu, was meinen Luchsohren jedoch nicht entging. Direkt bösartig war das alles nicht, ich konnte damit leben. Aber ich ärgerte mich durchaus, dass im Frauenchor bei meinem Eintreten Katzeklo gesungen wurde und ich zu Ostern Katzenzungen geschenkt bekam. Eines Tages beschloss ich, blöde Witze mit ebensolchen zu vergelten. Wenn ihr mich zur Katze macht, dann sollt ihr zu Mäusen werden, grau, wie ihr seid, dachte ich und beschloss, meinen langgehegten Plan endlich in die Tat umzusetzen: eine Oper zu schreiben. Musicals wie Cats und Aristocats waren ja bereits abgenudelt, aber gab es bereits eine Mäuse-Oper?
Zugegeben, mein Werk geriet eher zum kurzen konzertanten Singspiel, der Text des Librettos war mehr als dürftig, es gab nur drei Choreinsätze, keine Rezitative, kein Orchester und also auch keine Ouvertüre oder weitere Instrumentalstücke, doch für zwei meiner Studenten eine kleine Arie, für die beiden anderen ein Duett. Justyna war die Einzige, die ich einweihte, wahrscheinlich auch die Einzige, die von meinen kompositorischen Experimenten hellauf begeistert war. Die Aufführung sollte im Gemeindehaus der evangelischen Kirche stattfinden, weil dort keine Saalmiete zu entrichten war. Ein Bühnenbild oder Kostüme waren aus finanziellen Gründen leider nicht machbar, aber Justyna setzte sich kühn an die alte Tretmaschine meiner Oma und nähte aus den grauen Gardinen meiner Mutter zwei Paar überdimensionale Mausohren, mit denen sogar Micky Maus Staat gemacht hätte. Dazu ein paar aufgemalte Schnurrbarthaare, graue T-Shirts, ein Bindfaden als Schwänzchen, und fertig sei die Mäusetruppe, meinte sie stolz. Ich stellte mir den Gefangenenchor aus Nabucco vor und grinste. Wenn ich meine drei Gesangvereine gemeinsam auf die Bühne brachte, waren es insgesamt 72 graue Mäuse, die ihr trauriges Schicksal beklagen würden. Justyna schluckte ein wenig bei dem Gedanken, 144 Ohren nähen zu müssen; ich wies sie darauf hin, dass auch die vier Solisten Mäuse darstellten und noch 8 weitere Lauscher nötig seien. Wir beschlossen daher, die vier bereits fertigen Exemplare für die beiden Katzen zu verwenden, die 76 Mäuse sollten sich gefälligst ein Paar Ohren aus Pappe basteln.
Meine Mäuse probten – getrennt nach Solisten und drei größeren Gruppen – ganz gutwillig mit mir, ohne allerdings den genauen Inhalt der Oper zu kennen; auch meine eigene Rolle verschwieg ich tunlichst. Erst bei der Generalprobe sollten alle gemeinsam auftreten. Die Chorsänger waren zwar etwas befremdet über ihren Text, bildeten sich aber ein, dass es für die Stimmbildung wohl erforderlich sei, nicht immer nur mimimimi und falalalala, sondern auch mal leise und kläglich piepiepiep zu intonieren.
Der große Tag der Generalprobe war gekommen, die Sänger waren ein wenig aufgeregt. Nach dem Einsingen formierten sie sich auf der Bühne und fingen sofort an zu tuscheln, denn sie kannten Justyna nicht. Einer riesigen ägyptischen Bastet-Katze gleich thronte sie im Hintergrund auf einem Podest, hatte die großen Ohren angelegt, trug den räudigen Fuchsmantel ihrer Großtante und erhob wie Minz und Maunz warnend ihre Pfoten. Jetzt erst dämmerte es dem Mäusechor, dass sie Leibeigene einer mächtigen Herrscherin und ihre Lieder das reine Lamento waren. Nach dem ersten Einsatz ihrer tristen Piepserei klagte der Tenor in einer melodiösen Arie über das trostlose Schicksal seines Volkes, es schloss sich erneut das Gewinsel der grauen Masse an und schließlich die Arie einer schmächtigen Sängerin, deren schrille Stimme in unübertroffene Höhen kletterte.
Ich bewundere alle Musiker, die improvisieren können, denn mir ist es leider noch nie gelungen. Zu meiner höchsten Verwunderung fing nach dem letzten Solo, das ich in Ermangelung eines Klaviers oder gar Flügels auf dem Keyboard begleitet hatte, Justyna nicht etwa zu singen an, sondern bizarre Töne von sich zu geben. Sie schnurrte, miaute und maunzte so hemmungslos und atonal, dass sie wohl auf den Darmstädter Tagen für Neue Musik den ersten Preis errungen hätte. Regungslos lauschten die Chorsänger, den vier verblüfften Studenten stand der Mund offen. Schließlich stürmte Justyna wie eine Furie vom Podest herunter, fuhr die Krallen aus und scheuchte die Mäuse mit polnischen Flüchen und furchterregendem Fauchen bis an den vordersten Bühnenrand; der Bass stürzte polternd hinunter. Da die Probe an einem Nachmittag stattfand, saßen die Kinder vieler Chorsänger im Publikum. Man hatte sie zwar zuvor ermahnt, artig still zu sitzen und zuzuhören, aber nun sprangen sie auf, schrien und hielten sich wie bei einem spannenden Film die Hände vor die Augen.
Schleunigst bedeutete ich sowohl Justyna als auch allen anderen, sich wieder auf ihre Plätze zurückzuziehen, und gab den Einsatz für das nächste Stück. Nach einem etwas tranigen Duett von Bariton und Sopran folgte der letzte Chorgesang, dann mussten sich alle rechts und links von mir aufstellen, weil mein eigener Part das Finale krönen sollte.
Doch die große polnische Katze hatte Blut geleckt. Justyna war es gewohnt, pflegebedürftige Senioren aus ihren Betten zu wuchten, und es machte ihr kaum Mühe, ein Leichtgewicht wie mich zu packen und mit Schwung auf ihre starken Schultern zu hieven. In meinem schwarzen Anzug, den ich mit rosa Schleifen etwas aufgebrezelt hatte, saß ich dort wie ein Äffchen auf dem Schleifstein.
»Nu sing du!«, zischte sie mir zu. In dieser erhöhten – ebenso unbequemen wie ungewohnten Position – verharrte ich sekundenlang wie paralysiert, aber da es inzwischen mucksmäuschenstill geworden war, musste ich über kurz oder lang die Katze aus dem Sack lassen. Etwas nervös und heiser sang ich also die Arie wider die Mäuseplage:
Graue Mäuse können piepen,
können pfeifen, können fiepen,
aber singen leider nicht.
Grausam ist das Strafgericht!
Lasst ihr nicht die Flausen sausen,
wird euch bald die Katze mausen!
Nieder mit euch in den Staub!
Zittert bang wie Espenlaub!
Auf die Knie mit euch Getier,
denn die große Katz’ ist hier!
Niemals solltet ihr vergessen:
Jede Maus wird mal gefressen.
Daraufhin fielen die armen Nager auf die Knie und flehten um Gnade. Es war ein großer Triumph für Justyna und mich, der sich bei der Premiere und jeder weiteren Aufführung wiederholte, ja steigerte.