Der Erzähler ist stets auf der sicheren Seite, wenn seine Geschichte so spannend ist, dass die neugierigen Zuhörer oder Leser unbedingt wissen wollen, wie es weitergeht. Die selbst erlebten Anekdoten sind allerdings schnell aufgebraucht. Doch jetzt beginnt die eigentliche Lust des Schriftstellers: Er wird zum Allmächtigen, darf einen neuen Kosmos erfinden und Menschen mit einem eigenen Schicksal erschaffen – einem spektakulären oder ganz alltäglichen, je nach List und Laune.
Beim Schreiben schlüpfen viele Schriftsteller in eine Rolle, fühlen sich in ihre Figuren ein und überlegen, wie sie an ihrer Stelle handeln und empfinden würden. Manchen Autoren gelingt es besonders gut, wenn sie in der Ichform erzählen und sich somit wie im Film in eine andere Person verwandeln. Und doch ist ein Schriftsteller nicht immer ein begnadeter Darsteller; er will zwar seine Leser fesseln, scheut aber oft eine öffentliche Inszenierung.
Als ich bereits im reiferen Alter mit großem Lampenfieber die ersten Lesungen hinter mich brachte, half mir die Illusion, dass gar nicht ich selbst es war, die fremden Menschen etwas vorlas. Ich spielte eine Schriftstellerin und verkleidete mich so, wie ich mir diese Spezies vorstellte: möglichst schwarz. Inzwischen habe ich solche Hilfsmittel nicht mehr nötig, aber die Hemmungen, die ich vor großen Auftritten habe, kann ich immer noch durch den bewährten Trick überwinden. Bei einigen Schauspielern ist es genau umgekehrt: Glaubhaft wurde mir versichert, dass sie privat eher scheu oder gar schüchtern seien und erst auf der Bühne ihre Unsicherheit ablegten.
Aber zurück zu alltäglichen Situationen. Vom Erzählen zum Schreiben ist es ja nur ein Schritt, und erzählt wird immer und überall und besonders gern beim Essen und Trinken. In familiären und Freundeskreisen profiliert sich meistens ein besonders begabter Schwadronierer. Es ist unwahrscheinlich, dass ein Paar aus zwei gleich guten Erzählern besteht. Aber selbst wenn sie fast als ebenbürtig gelten, wird doch immer nur einer die Geschichte zum Besten geben, während der andere – der oft alles miterlebt hat und genau Bescheid weiß – zum Schweigen verdammt ist. Der stumme Partner hat die undankbare Aufgabe, etwas hundertmal Gesagtes schon wieder anhören zu müssen. Er rächt sich durch Boykott.
Wenn ich unserer Tischgesellschaft weismache: »Hunderte säumten die Straße«, wird mein Mann mit Sicherheit sagen: »Es waren genau vierzehn!« Es soll allerdings bei anderen Paaren noch krassere Reaktionen geben, wie zum Beispiel unüberhörbares Gähnen oder Sprüche wie: »Aber ich bitte dich, das ist doch alles längst bekannt.«
Schon bei meinen Eltern wurde es mir vorgelegt: Mein Vater erzählte abenteuerliche Begebenheiten, meine Mutter schwieg und litt. Unsere Besucher hingen an den Lippen meines Papas, der eine Ungeheuerlichkeit nach der anderen vortrug, am liebsten von gefährlichen Jagdexpeditionen. Wie er zum Beispiel in den Weiten der Mongolei auf einem Nomandenpferdchen ritt, auf einen kapitalen Steinbock anlegte und ihn verfehlte. Durch das vielfache Echo des Schusses erschrak der Tianshan-Argali allerdings so heftig, dass er bei seiner panischen Flucht eine Gerölllawine lostrat, die ein weiteres Hornvieh mitriss. Und wie durch ein Wunder plumpste ein anderer Argalibock meinem Väterchen tot vor die Füße, es fehlte nur noch ein mongolisches Edelweiß im Äser. Die Gäste waren begeistert und verlangten nach Zugaben. Meine Mutter schaute stumm auf dem ganzen Tisch herum, und auch wir Kinder wurden eines Tages erwachsen und machten uns so unsere Gedanken …
Ebendarum ist es lohnender, wildfremden Menschen eine Geschichte zu erzählen. Staunend werden sie lauschen und den Wahrheitsgehalt vorerst nicht hinterfragen. Jeder weiß, dass der Prophet im eigenen Land wenig gilt und der Erzähler am eigenen Esstisch noch weniger. Und seit die Clans nicht mehr aus einer gewaltigen Sippe, sondern aus Kleinfamilien bestehen, muss man sich nach einem neuen Publikum umschauen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum die Anzahl der Schriftsteller wächst und wächst.
Ob wir nun im Familienkreis, in der Freundesrunde oder am Stammtisch eine Geschichte zum Besten geben, in einer Buchhandlung, einer Bibliothek oder in einem großen Saal aus einem Roman vorlesen, wir Erzähler sind nichts anderes als Entertainer. Neidlos, mit Bewunderung und großem Respekt verneigen wir uns vor jenen Lichtgestalten unserer Zunft, deren Bücher Klassiker und die selbst unsterblich sind. Ihre Texte üben durch den kunstvollen Stil, die originelle Handlung, die besondere Sprache, die berührende Menschlichkeit und kritische Weltsicht eine zeitlose Faszination aus. Und wenn unsere unerreichbaren Vorbilder obendrein noch spannend erzählen können, dann steht ihnen der Nobelpreis zu.