Viele Hotels haben über die Weihnachtsfeiertage geschlossen, meines nicht – im Gegenteil, wir sind stets bis zur letzten Mansarde ausgebucht. Die überdurchschnittliche Belegung liegt wohl an unserem speziellen Programm, das besonders kinderlose Paare anspricht. Schon an den Adventssonntagen wird eine Kutsch- oder Schlittenfahrt angeboten. Jeden Nachmittag gibt es Spekulatius und Glühwein am Kaminfeuer, und das Schlemmermenü am Heiligen Abend zieht sich über Stunden hin. An den folgenden Feiertagen sind kulturelle Veranstaltungen wie Kirchenkonzerte oder Ballettaufführungen angesagt. Unsere Gäste trinken relativ viel und sind dankbar, dass sie dem Trubel oder auch der Besinnlichkeit am Heimatort entfliehen konnten und weder einen Baum schmücken noch eine Gans braten oder gar ihre eigenen Besucher bewirten müssen.
Ich spreche zwar immer von meinem Hotel, aber natürlich gehört das Schlosshotel nicht mir persönlich; immerhin bin ich in der zweiten Etage für Ordnung und Sauberkeit verantwortlich. Im Allgemeinen steigen keine Hungerleider in unserem Fünfsternepalast ab, und deswegen ärgert es mich, wenn sich gerade die Reichen als ausgesprochene Geizkrägen, ja Diebe erweisen.
Um nur ein Exempel herauszugreifen: Die gefällig in plissiertem Seidenpapier eingewickelten Miniaturseifen à 15 Gramm, die in jedem Badezimmer zur Verfügung stehen, werden in der Hälfte aller Fälle von den Gästen einfach mitgenommen. Schon mehrfach wurde ich von Freunden gefragt, was denn ein Hotel mit angebrochenen, aber wenig benutzten Seifen anfangen soll, aber da gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Cordula, die Frau unseres Direktors, traf zum Beispiel ein Abkommen mit einem katholischen Kindergarten, den sowohl meine als auch ihre eigene Tochter besucht. Die Puppenseifen, wie unsere Kinder sie nennen, sind wie geschaffen für schmutzige kleine Pfoten. Meine Sophie ist ganz stolz, wenn sie wieder einmal einen vollen Beutel bei den Erzieherinnen abgeben darf.
Doch wenn es nur die Seifen wären, die unsere Hotelgäste mitgehen lassen, dann würde ich kein Wort darüber verlieren. Jeden Morgen schiebe ich den schweren Reinigungswagen durch die Flure und ersetze Aschenbecher, Kugelschreiber, Flaschenöffner, Hotelbibeln, Kleiderbügel, ja Frotteemäntel oder Badematten. Es gibt sogar clevere Gäste, die alle Fläschchen der Minibar austrinken und mit Wasser auffüllen. Laut Cordula handelt es sich bei dem – in Fachkreisen Schwund genannten – Verlust im Laufe eines Jahres um 5-stellige Beträge, wobei ein Grandhotel wie meines noch besser davonkommt als eines mit nur vier Sternen. Als irgendwann sogar eine große Tagesdecke aus altrosa gestreiftem Chintz verschwand, beschloss ich zurückzuschlagen.
Schon immer interessierten mich die Kosmetika weiblicher Gäste, und ich prüfe alle Produkte mit sachkundiger Bewunderung. Nur wer bloß einen einzigen Tag bleiben will, belässt seinen Kram bisweilen im Beauty Case. Die meisten Frauen packen ihren Kulturbeutel als Erstes aus und stellen ihre Döschen, Tuben und Fläschchen dekorativ auf der Glaskonsole ab. Inzwischen habe ich die Preise für sämtliche Markenartikel im Kopf und kann sofort feststellen, in welcher Parfümerie die Damen einkaufen. Es gibt sündhaft teure Tages- und Nachtcremes, die völlig unerschwinglich für mich sind. Der Mehrheit unserer Ladys sieht man es ohnedies nicht an, was für ein Vermögen sie sich ins Gesicht schmieren. Und wie verbraucht sie ohne Intensivpflege aus ihrer Seidenwäsche gucken würden, will ich lieber gar nicht wissen.
In meiner Kitteltasche stecken ein paar Plastikdöschen und ein Teelöffel, mit dem ich beim Aufräumen der Badezimmer winzige Mengen der Wunderelixiere abzweige. Und damit meine Finger keine Spuren hinterlassen, benütze ich, auch aus hygienischen Gründen, ein Glasstäbchen zum nachträglichen Glattstreichen. Klar ist auch, dass ich mich niemals mit fremdem Parfum einsprühe, wie neulich eine dumme kleine Praktikantin.
Auf diese dezente Weise konnte ich nicht nur jahrelang meinen täglichen Bedarf decken, sondern auch einen kleinen Vorrat für Urlaubstage anlegen. Ich hatte noch nie ein schlechtes Gewissen und Angst vorm Erwischtwerden, denn welcher Frau wird es gleich auffallen, wenn eine derart geringe Portion fehlt?
Gegen reiche Frauen, wenn sie für ihr Spitzengehalt hart arbeiten müssen, habe ich nichts. Auch die zahlreichen Geliebten, die sich zur Kongresszeit mit ihrem verheirateten Lover hier einquartieren, verdienen eher mein Mitgefühl. Wenn ich attraktive junge Frauen an der Seite eines alten Fettsacks sehe, denke ich mir, sie bekommen ihren Luxus nicht geschenkt. Meine Aggressionen richten sich gegen die Prinzessinnen, die Erbinnen, denen ohne jegliche Gegenleistung ein Vermögen zugefallen ist. Bei ihnen bediene ich mich häufiger als bei den anderen. Soll mir keiner nachsagen, ich machte keinen Unterschied.
Seit Ewigkeiten residierte Mary Schönwald jeweils vier Wochen im Sommer und im Winter im Schlosshotel. Bis zu ihrem sechzigsten Lebensjahr soll sie ihre jeweiligen Verlobten oder Geliebten mitgebracht haben, zu meiner Zeit kam sie ohne Begleitung. Sie gehörte zu jenen Auserwählten, deren Cremetöpfe ich fast täglich plünderte. Mary war so reich, dass sie ihre Perlenkette oft achtlos herumliegen ließ und nicht in den Safe zurücklegte. Für mich wäre es ein Leichtes gewesen, ihre Kette oder einen Ring unter dem Bett hervorzuangeln und einzustecken. Aber ich wollte auf keinen Fall dem Ruf meines Hotels und seiner Besitzer schaden.
Abends schaue ich in den Zimmern nur schnell nach dem Rechten, decke die Betten auf und lege ein Zellophantütchen mit Champagnertrüffeln aufs Kopfkissen. Falls es nötig ist, wechsle ich auch die Handtücher. Eigentlich wollte ich gerade am Heiligen Abend möglichst früh zu Hause sein, weil meine Mutter und meine Tochter mit der Bescherung auf mich warteten. Andererseits war ich mir sicher, dass mich jetzt kein Hotelgast überraschen konnte, denn sie saßen alle beim 6-gängigen Festmahl. Auch meine beiden Kolleginnen vom Spätdienst hatten sich bereits verabschiedet, und ich war ganz allein auf meiner Etage.
Wie so oft herrschte Chaos in Marys Suite, denn sie hatte sich wohl erst in letzter Minute umgezogen. Zu ihren Gunsten muss ich sagen, dass sie zwar nicht zu den Trophäenjägern und Langfingern gehörte, dafür legte sie ihre angebissenen Äpfel stets in das Obstkörbchen zurück, was mich ebenso zur Weißglut brachte. Und so war es auch diesmal. Als ich den Granny Smith entsorgt, ihren Pelzmantel und die Klamotten wieder auf die Bügel gehängt und die Schuhe in den Schrank gestellt hatte, beschloss ich, diesmal etwas tiefer in ihre Salbentöpfe zu langen. Was sprach dagegen, mich gleich an Ort und Stelle für das Weihnachtsfest hübsch zu machen? Ganz professionell begann ich das Abschminken mit Reinigungsmilch und adstringierender Lotion, massierte dann eine orientalische Wundercreme ein und trug ein schimmerndes Fluid mit Marys Naturschwämmchen auf. Ich hatte meine Kittelschürze abgelegt, um sie nicht mit Make-up zu beschmieren, und war noch längst nicht mit Rouge und Wimperntusche fertig, als ich einen feinen, schabenden Ton im angrenzenden Schlafzimmer hörte, der mir das Blut in den Adern gerinnen ließ. Mary konnte es kaum sein, da sie bei festlichen Gelegenheiten die Letzte war, die es ins Bett zog. Lautlos zog ich die angelehnte Badezimmertür einen Spaltweit auf und sah im Toilettenspiegel zwei gelbe Gummihandschuhe, die sich am Safe zu schaffen machten.
Mir wurde speiübel vor Angst, denn ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Eingangstür abgeschlossen hatte. Nur ein Profi konnte so geräuschlos eindringen. Würde er mich entdecken und als unwillkommene Zeugin auf der Stelle beseitigen?
Ohne den erbarmungswürdigen Laut von mir zu geben, der mir in der Kehle steckte, kroch ich unter das Waschbecken und stellte mich tot. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass meine Schürze an der Außenseite der Türklinke hing und mich verraten würde. Mein armes Kind!, dachte ich, gerade am Heiligen Abend wird es zur Waise werden!
Plötzlich hörte ich eine mir bekannte Stimme Schlamperei sagen. Die gelbe Gummihand grabschte nach meiner Schürze und fegte sie vom Griff herunter. Fast gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen, meine Chefin stand auf der Schwelle und sah mich auf dem Boden kauern.
»Was machst du denn da?«, fragte sie. Geistesgegenwärtig behauptete ich, nach einer Haarnadel zu suchen, die mir gerade heruntergefallen sei.
Cordula und ich kennen uns noch von der Hotelfachschule her. Damals wurden wir fast gleichzeitig schwanger und mussten unsere Ausbildung abbrechen; sie hatte allerdings bessere Karten als ich, weil sie sich den Juniorchef unseres Hotels angelacht und zum Vater ihrer Tochter gemacht hatte. Mein damaliger Freund war ein Japaner, der sich leider jeglicher Verantwortung entzog und auf Nimmerwiedersehen in seine Heimat entschwand. Unsere zeitgleiche Schwanger- und Mutterschaft ließ uns schnell zu Freundinnen werden; ich verdanke Cordula den Job im Hotel und die Aussicht auf eine besser bezahlte Stelle als Leiterin des Etagenservices.
Noch nie hat sich die schlaue Cordula täuschen lassen. Ihre flinken Augen wanderten zu den offenstehenden Cremetöpfen, der Puderdose und dem feinen Haarpinsel, der eine dunkle Spur Mascara auf der marmornen Ablage hinterlassen hatte. Dann sah sie mir voll ins Gesicht und erkannte sofort, wie gekonnt ich meine Kreativität dort eingesetzt hatte.
Wortlos reichte sie mir meine Schürze, in der es peinlicherweise klapperte.
»Was haben wir denn da?«, fragte sie, griff in die Tasche und zog die gutgefüllten Döschen und den Teelöffel heraus. Ich antwortete ihr nicht, sondern setzte ein dümmliches Grinsen auf. Meine Beförderung konnte ich ein für alle Mal vergessen, wahrscheinlich endete mein Vergehen sogar mit einem Rausschmiss.
Ein paar Sekunden lang musterte Cordula mich nachdenklich.
»Woher konntest du so schnell wissen, dass sie erst vor wenigen Minuten gestorben ist?«, fragte sie.
Tot? Wer? Ich verstand gar nichts. Dann erfuhr ich, dass Mary Schönwald bereits bei der Gänseleberpastete kreidebleich zusammengesackt war. Man half ihr unauffällig wieder auf die Beine, bettete sie im Büro auf ein Sofa und ließ sofort den Notarzt kommen, der ihr aber nicht mehr helfen konnte.
»Mein Gott, sie hat noch die Rechnung vom Sommer offen!«, klagte Cordula, »wer weiß schon, wann die Erben ermittelt sind und sich zum Bezahlen bequemen! Wahrscheinlich hast auch du bis jetzt kein Trinkgeld erhalten.«
Das stimmte. Gemeinsam räumten wir nun das Sicherheitsfach aus, denn die geistesgegenwärtige Cordula hatte Marys Handtasche mit Zimmer- und Safeschlüssel sofort an sich genommen. Die Beute legten wir auf die Bettdecke und freuten uns wie kleine Mädchen am Funkeln und Glitzern.
»Die gesamten Kronjuwelen kann man nicht gut einsacken«, meinte Cordula, »die Steine sind leider allzu exklusiv. Am besten nimmt man reines Gold, das lässt sich überall an den Mann bringen.«
Ich war unendlich erleichtert und begann flink, die Schönheitsmittel aufzuräumen.
»Lass mal sehen«, sagte Cordula, »womit hat sich die Alte denn ihre Furchen zugekleistert? Myrrhe-Lotion? Weihrauch-Creme? Das ist ja wie bei den Heiligen Drei Königen, nur das Gold hat noch gefehlt.«
Jetzt nicht mehr. Schwer beladen ging ich am späten Abend nach Hause und leuchtete dort mit dem Tannenbaum um die Wette.