Gibt es eigentlich vollkommen selbstlose Liebe, die keiner Erwiderung bedarf? Wenn wir uns mit Hingabe unseren Herzallerliebsten zuwenden, wollen wir möglichst viel zurückbekommen, sonst werden warme Gefühle irgendwann erkalten. Freundschaften, Ehen, Partnerschaften, Familien basieren auf einem unausgesprochenen Deal: Gib und dir wird gegeben. Ausnahmen sind wohl jene besonders idealistisch oder gläubig veranlagten Menschen, die aus altruistischen Gründen jede Kreatur ins Herz schließen und nicht nach einer Gegenleistung streben – aber sicherlich lassen sie sich auch ein geheimes Hintertürchen offen. Zu dieser karitativen Gruppe möchte ich mich nicht zählen, und doch gibt es auch für mich eine große Liebe, die ich für nahezu uneigennützig halte.
Schon lange hatten seine Eltern auf das ersehnte Kind warten müssen. Und auch wir Großeltern hofften, zitterten und bangten mit unserer Tochter. Nach neun Monaten saßen wir wie auf glühenden Kohlen, ständig auf der Lauer nach einem Anruf. Irgendwann klingelte tatsächlich das Telefon, ich nahm ab und hörte nichts als kräftiges Gebrüll. Man hatte dem neuen Erdenbürger direkt nach der Entbindung ein Handy vorgehalten. Dieser erste Schrei löste etwas aus, das sich nur schwer in Worte fassen lässt – war es ein animalischer Beschützerinstinkt oder eine postklimakterische Ausschüttung des Bindungshormons Oxytocin oder am Ende gar Liebe? Nicht auf den ersten Blick, sondern auf den ersten Schrei? Auch bei der Geburt unserer anderen Enkel wurden wir sofort informiert, aber stets durch die begeisterten Eltern und nicht durch die Protagonisten persönlich.
Um das Enkelkind kennenzulernen, setzte ich mich schleunigst in den Zug und fuhr nach Berlin. An die Reise, die Fahrt mit dem Taxi und die Ankunft kann ich mich nicht erinnern, nur an das überwältigende Glücksgefühl, als ich das Neugeborene im Arm hielt. Wir wärmten uns gegenseitig, und ich erkannte voller Stolz, dass es ohne mich diesen kleinen Menschen niemals gegeben hätte. Wir Großeltern freuten uns sehr, als unsere Tochter nach zwei Jahren mitsamt ihrem kleinen Sohn zurück in die alte Heimat zog.
Auch andere Großmütter haben das Vergnügen, schon in aller Frühe von der berufstätigen Tochter angerufen zu werden: »Ich bringe dir gleich ein kotzendes Kind!« Dann vergeht der Vormittag mit Enkel und Eimer und stundenlangem Vorlesen. Tucholsky sagte: Liebe ist, wenn sie dir die Krümel aus dem Bett macht. Liebe ist natürlich auch, wenn man ohne einen Laut des Ekels den Eimer leert, stillschweigend Chaos beseitigt, lächelnd über Legosteine stolpert, verschütteten Apfelsaft aufwischt, zerbrochene Gegenstände hinter dem Rücken des Opas entsorgt, Fahrdienste leistet und dabei niemals flucht. Wenn man ohne mit der Wimper zu zucken das Sofa neu beziehen lässt, weil es als Trampolin diente. Wenn man sich auch noch freut, zur Weihnachtszeit im Theater zu sitzen, um mit lauter Zwergen das tapfere Schneiderlein zu bewundern oder um mit fremden Eltern, Tanten und Omas auf unbequemen Stühlchen zu hocken und bei der Einschulung des Enkels eine Träne abzuwischen. Wenn es kein Erwachsener sieht, lässt man sogar hässliche Plastikfigürchen über den Teppich hoppeln und behauptet abwechselnd mit dem infantilen Spielpartner: Aber meiner täte jetzt sagen …
Unvergesslich bleibt mir eine kleine Reise ins Engadin – gemeinsam mit dem neunjährigen Enkelkind. Beim Abendessen im Hotel bekommt nach und nach fast jeder Gast sowie die Kellner und Kellnerinnen einen appetitanregenden Witz zu hören. Kannibalensohn mault: Mama, ich mag meinen Lehrer nicht! Kannibalenmutter befiehlt in strengem Ton: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt! Die meisten im Restaurant müssen lachen, aber ein älterer Herr starrt etwas befremdet auf die eigene Fleischportion und dann auf den kleinen Kerl, der von seinem Erfolg als Entertainer so hingerissen ist.
Höhepunkt und Abschluss der Reise soll eine gemütliche Kutschfahrt durchs autofreie Fextal werden. Ich bin begeistert vom Alpenpanorama mit den Schneebergen im Hintergrund und will meinen Enkel dauernd auf die Schönheiten der Natur aufmerksam machen: auf grasende Kühe, Lamas, unsere braunen Freibergerpferde und das fröhliche Gebimmel der Glöckchen. Anscheinend kann ich meinen Enthusiasmus nicht mit ihm teilen.
»Oma, soll ich mal eine Geschichte erfinden?« – »Besser heute Abend, dann erzählen wir uns beide etwas Schönes vor dem Einschlafen. Jetzt wollen wir doch die Kutschfahrt genießen!« Aber er legt trotzdem los. Kapitel eins: Die Abenteuer der drei Chimären. Jede dieser Kreaturen besteht wiederum aus drei anderen Tieren, zum Beispiel Chamäleon, Löwe und Kolibri. Und da es sich um außerordentlich seltene Exemplare handelt, werden die Fabelwesen zu Forschungszwecken gefangen gehalten.
»Schätzchen, sieh mal, ein Wasserfall!« – Nur ein kurzer Blick. »Oma, jetzt wird es richtig spannend. Das Gehege der Versuchsanstalt ist zwar echt cool, also total modern, aber die Wärter sind so was von gemein!« – »Hast du gerade gehört, unsere Rösslein schnauben! Ob sie es wohl aus purer Lebensfreude tun?« – »Das machen doch alle Pferde. Oma, hörst du mir überhaupt zu? Die dritte Chimäre besteht aus Waschbär, Ente und Marienkäfer und kann deswegen laufen, klettern, schwimmen und fliegen …«
Es muss wohl Liebe sein, dass ich zwar seufze, ihn aber nicht mehr unterbreche, obwohl ich eigentlich den Zauber dieser Landschaft einatmen möchte. Mein kleiner Junge ist nicht mehr zu bremsen und berieselt mich ununterbrochen wie der plätschernde Bach, der uns so munter begleitet. Bei der Ankunft im Hotel geht es gleich weiter. Erst der Kannibalenwitz für den Portier, dann Kapitel zwei für die müde Oma: die Flucht der drei Chimären. Und ich sage immer noch nicht: »Halt endlich mal die Klappe!«
Gelegentlich gibt es jedoch Fragen, die mir zu denken geben. Als Vierjähriger wollte der Enkel bereits wissen: »Oma, wenn du dich totgelebt hast, kriege ich dann deine silberne Taschenlampe?«
Im Gegensatz zu den habgierigen Enkelkindern handeln wir Großeltern ziemlich uneigennützig, sind aber doch etwas erleichtert, wenn die Kleinen wieder abgeholt werden. Allerdings ertappe ich mich gelegentlich bei dem Gedanken: Wenn er ein paar Jahre älter ist, könnte er vielleicht den Rasen mähen. Und in acht Jahren macht er den Führerschein und wird dann bestimmt mal tanken und meinen Wagen durch die Waschstraße fahren … Denn ganz ohne gesunden Egoismus klappt es nicht mit der selbstlosen Liebe.