Einleitung

Michael Hofmann

Der vorliegende Band bietet auf neuestem Stand der Forschung einen Überblick über die wichtigsten Autoren, Strömungen und Tendenzen der deutschen Aufklärungsliteratur. Der Begriff „Aufklärung“ – und dies ist besonders zu betonen – bezeichnet einerseits die hier interessierende historische Epoche, die weitgehend mit dem 18. Jahrhundert gleichgesetzt werden kann, andererseits aber auch eine Geisteshaltung, die als grundlegend für die europäische Moderne anzusehen, gleichzeitig aber auch heftig umstritten ist. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule (mit Max Horkheimers und Theodor W. Adornos berühmtem Text „Dialektik der Aufklärung“) und der Poststrukturalismus sehen in der Aufklärung das negative Paradigma der Unterdrückung der Natur, des Leiblichen und des Individuellen, der „großen Erzählungen“ (Jean-François Lyotard), mit deren Hilfe gesellschaftliche und technisch-industrielle Großeinheiten die Lebenswelt der Einzelnen kolonialisieren und unterdrücken. Der Rationalismus der Aufklärung erscheint in diesem Sinne (mit-)verantwortlich für die großen Probleme unserer Zeit, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, die Technisierung und Mechanisierung des Massenmords im Genozid, aber auch den Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse etwa in der Gentechnologie. Aber selbst die harschen Kritiker der Aufklärung kritisierten nicht die Aufklärung an sich, sondern deren einseitige Ausprägungen und Konsequenzen. Das Streben nach Mündigkeit und Selbstdenken, der Geist kritischer Prüfung alles Althergebrachten und der Kampf gegen Vorurteile und ungerechte Herrschaft gehören zu dem Erbe der Aufklärung, das auch die Kritiker einer unheilvollen Dialektik der Aufklärung nicht herzugeben bereit sind.

Der Blick auf die historische Literatur der Aufklärung und ihre Strömungen und Tendenzen zeigt in diesem Zusammenhang, dass bereits die historische Aufklärung einseitigen Rationalismus und abstrakte Denkmodelle einer schematischen Vernunft deutlich in Frage gestellt hat. Aufklärung ist nicht immer gleich Rationalismus, Aufklärung ist ein in sich differenzierter Prozess, der die eigenen Grundlagen und Voraussetzungen kritisch hinterfragt. Die Geschichte der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts lässt sich in diesem Sinne als ein komplexer Entwicklungsprozess verstehen, in dessen Rahmen zunächst der Versuch unternommen wird, die Literatur dadurch zu legitimieren und gesellschaftsfähig zu machen, dass ihre Vereinbarkeit mit den Ansprüchen einer aufgeklärten Rationalität dargelegt wird. Das Werk und die Person Gottscheds stehen für den Anspruch, die Literatur von dem zu befreien, was der Leipziger Professor für Literatur und Lehrer Goethes als Ausdruck barocker Irrationalität empfand. In der Welt des aufgeklärten Rationalismus sollte die Literatur gegenüber der Philosophie, der Theologie, aber auch der aufgeklärten Moral und Politik als nützliche und vernünftige Instanz verteidigt werden. Dass sich an dieser Position sehr schnell und gerade im Ausgang von der poetischen Praxis eine gewaltige Polemik entzündete, ja dass die literarische Praxis geradezu im Widerspruch gegen die normativen Ansprüche Gottscheds vorankam, sollte den heutigen Betrachter nicht dazu verleiten, die historische Bedeutung einer Etablierung der Literatur als einer Instanz vernünftigen Denkens zu unterschätzen. Dennoch zeigte sich in der weiteren Entwicklung, dass die Literatur zum Anwalt derer wurde, die sich einer Unterordnung unter eine abstrakte Rationalität widersetzten. Es war kein Irrationalismus, der sich gegen die Forderungen Gottscheds zur Wehr setzte, sondern das Unbehagen an einer allzu reduktionistischen Auffassung von Vernunft, die zu Schematismus und Sterilität führte. Empfindsamkeit, neue Formen religiöser Dichtung (Klopstock) und die Entwicklung einer Wissenschaft der Sinnlichkeit (Ästhetik) sind die Stichworte, mit denen die inneraufklärerische Opposition gegen einen einseitigen Rationalismus bezeichnet wird. Dabei zeigen sich nach 1750 in der Opposition gegen die Vorherrschaft von Wissenschaft und Philosophie Ansätze zu einer Autonomie der Kunst und Literatur, die später von der Weimarer Klassik und der Romantik entschieden verteidigt werden wird. Lessing und Wieland bilden die literarischen Modelle der Hochaufklärung aus, die den Prinzipien einer kritischen Aufklärung verpflichtet sind und das bohrende Fragen und die skeptische Ironie an die Stelle fester Wahrheiten setzen. Und die Spätaufklärung beginnt – parallel zu Kants epochalem Unternehmen der Transzendentalphilosophie – die Grundlagen des rationalen Denkens und der konventionellen Moral, aber auch konventioneller literarischer Muster kritisch zu befragen. Die Literatur der Aufklärung stellt somit ein geistiges Abenteuer dar, das in seiner Komplexität und Vielfalt immer wieder neu zu entdecken ist. Zu dieser Entdeckung laden die Beiträge des vorliegenden Bandes ein.

Marie-Hélène Quéval zeigt in ihrem leidenschaftlichen Plädoyer für den Frühaufklärer Gottsched, dass dessen Verdienste um die Entwicklung der deutschen Literatur immer wieder und immer noch unterschätzt werden, und sie liefert Argumente für eine Neubewertung des vermeintlich schematischen Rationalisten Gottsched. Ebenso zeigt Sikander Singh die Potentiale Christian Fürchtegott Gellerts im Spannungsfeld zwischen Rationalismus und Empfindsamkeit. Dass der große Dichter Klopstock in seiner Bedeutung für die Entwicklung vor allem der deutschen Lyrik unumstritten ist, setzt Kevin F. Hilliard in seinem Beitrag voraus; er zeigt, dass die poetische Innovation auch im 18. Jahrhundert durchaus auch mit konventionellen theologischen Denkmustern einhergehen kann. Helga Meise verdeutlicht, dass im Kontext der Empfindsamkeit weibliche Autorschaft denkbar wurde und dass Sophie von La Roches Werk vor allem im Rahmen des Genderdiskurses von wegweisender Bedeutung war. Die zentrale Position Lessings innerhalb der deutschen Aufklärung steht außer Frage – Hugh Barr Nisbet, der Autor einer epochalen neuen Lessing-Biographie, verdeutlicht in einem prägnanten und besonders pointierten Beitrag, warum wir diesem Allgemeinplatz auch heute noch zustimmen können. Und in ähnlicher Bestimmtheit und Klarheit zeigt Jutta Heinz, dass Christoph Martin Wieland als Epiker der Aufklärung immer wieder neu zu entdecken ist. In diesem Kontext ist die Entwicklung des Romans als literarischer Gattung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von immenser Bedeutung, worauf Nikolas Immer unter Berufung auf Friedrich von Blanckenburg und den Roman der Spätaufklärung verweist. Dass nicht nur große Namen die Literatur der Aufklärung bestimmen, sondern weitere wichtige Perspektiven vor allem in weniger bekannten Entwicklungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu erkennen sind, zeigen die folgenden Beiträge. Norbert Waszek würdigt kenntnisreich Moses Mendelssohn und die jüdische Aufklärung in Deutschland, Stefan Greif stellt die Bedeutung Georg Forsters im Blick auf die Auseinandersetzung der Aufklärung mit dem Fremden in eindringlicher Weise heraus, während Arnd Beise den komplexen Denker Georg Christoph Lichtenberg in einem brillanten Porträt vorstellt. Carsten Zelle stellt mit seiner Analyse des anthropologischen Wissens der Aufklärung ein vielseitiges und reiches aktuelles Forschungsfeld aus der Perspektive eines innovativen Anregers vor. Abschließend bietet Roland Krebs ein Bild der Auseinandersetzung der deutschen Aufklärung mit der radikalen Philosophie des französischen Materialismus und Volker C. Dörr zeigt, wie stark der Weimarer Klassiker Schiller vom Denken und von der Literatur der Aufklärung geprägt war.

Insgesamt verdeutlichen die Beiträge somit die Vielfalt und die Fülle der deutschen Aufklärungsliteratur, die sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Vorläufer der Moderne zeigte. Die Vielfalt des Themas spiegelt sich in der Vielfalt der Beiträgerinnen und Beiträger, die sich insbesondere in der starken Beteiligung renommierter französischer und britischer Forscherinnen und Forscher zeigt. Der vorliegende Band bietet auf aktuellem Forschungsstand eine lebendige und engagierte Auseinandersetzung mit der deutschen Literatur der Aufklärung, deren historische Einbindung ebenso wie ihre aktuelle Bedeutung anschaulich und fesselnd dargestellt wird.