Johann Christoph Gottsched – Maß und Gesetz

Marie-Hélène Quéval

Gottsched (1700–1766) spielte in der Geschichte des deutschen Theaters eine zu seinen Lebzeiten zwar nicht unumstrittene, jedoch erstrangige Rolle. Ihm ging es vor allem um die Reformierung der deutschen Sprache und die Rationalisierung der Ästhetik. Den Barockschwulst hat er endgültig besiegt, seine Zeitgenossen zur Pflege der eigenen Kultur erfolgreich ermahnt, gleichzeitig die deutsche Sprache und Bühne modernisiert. Die Sprache wurde von dialektalen und ausländischen Ausdrücken gereinigt, die Syntax und Grammatik vereinfacht. Unübersehbar ist seine Beziehung zu Frankreich; viel weniger Interesse hat dagegen sein Verhältnis zu England und dessen Philosophen Hobbes, Locke oder auch Shaftesbury, Addison, Steele und Pope geweckt.1 Dabei wurden die englischen Einflüsse auf seine literarischen Studien sowie seine gute Kenntnis der englischen Sprache unterschätzt: Nicht zufällig berief er sich im „Versuch einer critischen Dichtkunst“2 auf Shaftesbury, um die Notwendigkeit strenger Regeln in der Kunst zu beweisen, die es allein vermochten, die Eingebungen der Phantasie in Kunst zu verwandeln.3 Denn gerade dieses paradoxe Verhältnis zwischen rationaler Distanziertheit und ungebundener Phantasie machte das Wesen der Kunst aus. Seine theoretischen Werke lieferten schließlich ein brauchbares Kompendium des bisher Erreichten und das benötigte theoretische Fundament, auf dem die nächsten Generationen bauen würden. Selbst Goethe sollte später die Nützlichkeit seiner „Critischen Dichtkunst“ erkennen, die ihm im Gegensatz zu Breitingers großem „Irrgarten“ Klarheit verschafft hätte.4

Bei den französischen Klassikern Corneille, Racine und vor allem ihrem Nachfolger Voltaire schätzte er die logische Klarheit und Anordnung der Gedanken, die in der Regelmäßigkeit ihrer Werke ihren Ausdruck fanden, während er die feurige Phantasie, den Wahrheits- und Freiheitssinn der Engländer zutiefst bewunderte. Da der anerzogene und oft nur gefühlsmäßige gute Geschmack zum Kunstverständnis nicht ausreichend war, versuchte Gottscheds Ästhetik die Subjektivität des Schönheitserlebnisses zugunsten der Allgemeingültigkeit zu überwinden. Mit seiner „Critischen Dichtkunst“ legte Gottsched tatsächlich vor Baumgarten und Kant den Grundstein zur Ästhetik als Teil der Philosophie.

Nach einem Studium der Theologie in Königsberg und mit dem akademischen Grad eines Magister Artium versehen, verließ der 24-jährige Preußen, um sich nach Leipzig zu begeben, wo ihn Prof. Johann Burckhardt Mencke in die gute Gesellschaft einführte. Leipzig war damals das kulturelle Zentrum Deutschlands. Im Romanushaus5 führte Christiane Marianne Ziegler (1695–1760) nach französischem Vorbild einen literarischen und musikalischen Salon. Dort traf Gottsched nicht nur durchreisende Literaten und Virtuosen, sondern auch die geistige Elite der Stadt, so u.a. Johann Sebastian Bach (1685–1750). Nach der Eheschließung mit Luise, geb. Kulmus, sollte deren Salon zum Anziehungspunkt für die gebildete Jugend, Diplomaten, Adlige und Fürsten werden. Wie im Romanushaus wurde die französische Tradition der Geselligkeit gepflegt. Aus dem Gottsched-Kreis ging die „scherzhafte Gesellschaft“ hervor, die Leichtsinn und Ernst zu verbinden wusste. Sonntags wurden am Tische von Graf von Manteuffel der lockere Umgang, Eleganz und Raffinement gepflegt. Scherz und Witz vertrieben den verpönten pedantischen akademischen Stil aus dem Salon, wo sich die Aletophilen gern über ernsthaftere Materien wie die Wolff-Leibniz’sche Philosophie und die Monaden unterhielten. Man tauschte Gedanken aus, belustigte sich bei der Verfassung von Satiren über altmodische Theologen. Mit Christian Wolff (1679–1754) und Christian Thomasius (1655–1728) hob man den praktischen Nutzen der Philosophie hervor … Die Philosophie war salonfähig geworden.

Gerade die Rolle des geselligen Austauschs nach dem Modell der italienischen Renaissance unterstrich Gottsched in seinen moralischen Wochenschriften, insbesondere in „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ (1725–1726), die die Atmosphäre des Salons sehr realistisch widerspiegelten: die Galanterie, der leichte und doch kultivierte Umgang mit den Frauen, die Coquetterie, die Glücksspiele, die Posen der Freigeister und die Oberflächlichkeit der Petits maîtres … Wahrscheinlich waren Gottscheds Portraits zu genau. Die Publikation musste eingestellt werden. Aber auch die ernsthafteren literarischen Diskussionen über Ziele und Aufgaben der Dichtkunst waren Gegenstand der lebhaften Auseinandersetzungen: die Reinigung der Sprache, die Theaterreform, die Kritik des galanten zugunsten des philosophischen sozial- und religionskritischen Romans. Bodmers „Diskurse der Mahlern“ (1721–1723) wurden lediglich wegen der Vermischung lateinischer und französischer Ausdrücke Gegenstand der beißenden Satire der „Tadlerinnen“: sicherlich ein Faux-pas, mit dem er sich die Feindseligkeit der Schweizer zuzog. Der ernsthaftere Biedermann (1727–1729) führte die Debatten über den Gesellschaftsvertrag6 und den Patriotismus weiter. Nicht ohne Humor vertrat er fortschrittliche Theorien über die neue eudaimonische Ethik, die Kindererziehung, die vernünftige Liebe, die auf gegenseitiger Neigung ruhen sollte, sowie die Frauenemanzipation, insbesondere das Recht der Frauen auf Bildung und Arbeit. Mit den eingeflochtenen übersetzten Kurzgeschichten von Fontenelle, Swift oder auch Marguerite de Navarre wurden die Absurditäten des herkömmlichen Religions- und Ethikverständnisses aufgedeckt.

Vernunft und Natur sollten die Gewähr für eine neue Authentizität bilden. Fontenelles Schäferdichtung beschwor ein verlorenes goldenes Zeitalter herauf, als Mensch und Natur harmonisch zusammen lebten, während seine philosophischen Novellen, wie das religionskritische Mreo, ihn zutiefst prägten. Allein der Titel seiner nächsten Wochenschrift „Die Belustigungen des Verstandes und des Witzes“ (1741–1747) verkündete sein Programm: die Verbindung von Kultur, Wissenschaft und Lebensfreude. Ihm ging es darum, die neuen Erkenntnisse der akademischen Wissenschaft an eine breite Öffentlichkeit zu bringen, indem er die von ihm herausgegebenen Wochenschriften zum Sprachrohr der Aufklärung machte. In seinem Bestreben, die Gelehrsamkeit von der Theologie und der Kirche zu emanzipieren, sie aus dem engen Kreis der Universität einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, gründete er hoch gepriesene gelehrte Gesellschaften und Zeitschriften. Seine Tätigkeit als Publizist sollte vor allem den Frauen die Teilnahme am allgemein einsetzenden Emanzipationsprozess ermöglichen. Er förderte die poetischen Versuche junger Dichterinnen wie C. M. von Ziegler, Sidonia Hedwig Zäunemann (1711–1740), und nicht zuletzt die seiner eigenen Frau Luise.

Im Anschluss an die französische von Mme de Sévigné und Ninon de Lenclos popularisierte Briefkultur7 war der Brief zum beliebtesten Mittel für Erziehung, Bildung, Freundschaft und Austausch über schwierige philosophische Materien geworden. Der junge Magister pflegte die Gattung in seinen moralischen Zeitschriften auf spielerisch satirische Art, während er seine Gedichte auch als Briefe verstand und deshalb „Poetische Sendschreiben“ betitelte.8 „Die Vernünftigen Tadlerinnen“ beriefen sich ausdrücklich auf das Vorbild von Melle de Scudéry (1607–1701) und Voiture (1598–1648). Wie bei seiner Theaterreform war Frankreich lediglich der notwendige Umweg für die Rückeroberung der eigenen Identität.

Mit der Theaterreform vollzog sich zusätzlich ein erheblicher Wandel der Beziehung zwischen Autor und Schauspielern. Als außerordentlicher Professor für Poesie, Logik und Metaphysik genoss der selbstherrliche Autor eine bis dahin unbekannte finanzielle Unabhängigkeit und intellektuelle Freiheit. Sie erlaubte ihm, der Geschäftstüchtigkeit der Schauspieler seine Vorstellung der Eigenständigkeit der Kunst entgegenzusetzen und seine Reform des deutschen Nationaltheaters nach dem Vorbild der französischen Klassiker Corneille, Molière, Racine und ihrer Epigonen Voltaire und Destouches durchzusetzen.9 So übernahm die von Friederike Caroline (1697–1760) und Johann Neuber (1697–1759) geleitete Truppe die wichtigsten Elemente der Reform: die strenge Einhaltung der drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung), die einfache einheitliche Kulisse (Einheit der Zeit) und das auf komplizierte Maschinen-Effekte verzichtende und dadurch asketisch wirkende Bühnenbild (Einheit des Ortes). Dank der drei Einheiten konnte die wichtigere, konfliktreiche innere Handlung auf einen Knotenpunkt fokalisiert werden. Der Alexandriner erforderte vom Schauspieler mehr Konzentration. Wegen der schwierigen Kunst der Deklamation musste sein Bildungsniveau erhöht werden. Dadurch vollzog sich eine ethische und soziale Aufwertung eines bisher eher verachteten Standes. Die Schauspielkunst wurde zu einer Berufung, das Theater zum Ort der moralischen Bildung. Schauspielschulen sollten entstehen, die das Amateurhafte von der Bühne vertreiben und das Berufsbild verbessern sollten; durch eine angemessene Entlohnung wollte Gottsched schließlich die finanzielle Selbständigkeit sichern und das mit ihr einhergehende Selbstwertgefühl der Schauspieler stärken. Nicht nur die Schauspieler mussten umlernen, sondern auch das an bilderreiche Bühneneffekte gewohnte Publikum. Trotz der schnellen Erfolge kam es bald zu Zerwürfnissen mit der Neuber’schen Truppe vor allem in der Kostümfrage. Weder das Publikum noch die Schauspieler selbst waren bereit, die Hofkostüme, Allongeperücken und die von ihm als lächerlich verworfenen Federhüte mit den historischen und nationalen Trachten zu tauschen. Mit dieser Forderung war Gottsched seiner Zeit voraus. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sollte sich das historische Kostüm mit Garrick (1717–1779), Melle Clairon (1723–1803) und Le Kain (1729–1778) in Paris durchsetzen.10

1731 kam es zu der triumphalen Uraufführung seiner mustergültigen regelmäßigen Tragödie „Sterbender Cato“ in Leipzig. Dabei meinte Gottsched, das Beste aus den französischen und englischen Traditionen übernommen zu haben: die formale Perfektion aus Frankreich und die Freiheitsliebe aus England. Im Anschluss an Voltaire versuchte er die französische Liebestragödie zugunsten des philosophisch politisch engagierten Trauerspiels zu überwinden und stellte statt der Liebe gesellschaftspolitisch relevante Themen in den Mittelpunkt. Um die Gefühle des Zuschauers zu wecken, wurde die politische Haupthandlung nach französischem Vorbild in eine private symbolträchtige Nebenhandlung verwickelt. Arsenes zärtliche Neigung zu Cäsar wirkt in der Tat wie eine Übertragung der Haupthandlung in die private Sphäre. Indem die junge Königin zu entsagen lernte, hob sie sich zur tragischen Figur empor. Kaum von der Pflicht befreit, die sie im Namen der absolutistischen Staatsräson zu einer unerwünschten Eheschließung zwang, musste sie auf die Erfüllung ihres Gefühls verzichten, um nach väterlichem Vorbild das Wohl des Staates über das eigene zu setzen. Als Catos Tochter legte sie die Krone ab, erkannte die gerechte gesetzmäßige Regierungsform und entwickelte sich zur edlen selbstlosen römischen Bürgerin. Mit ihrer Figur wurden zwei politische Modelle entgegengesetzt: das Ancien Régime mit seiner Bündnis- und Heiratspolitik, die durch Heiratsallianzen lediglich dynastische Interessen verfolgte, einerseits, und die auf das allgemeine Wohl bedachte Staatsführung andererseits. Gleichzeitig werden mit Arsenens Königwürde, Catos bürgerlicher Gesinnung und Cäsars Imperium drei Regierungsformen vorgeführt: die absolutistische, die republikanische und die tyrannische.11 Die Monarchie wird nicht an sich angefochten, da die Königin vom Volk eine Macht erhalten habe, die selbst vom römischen Republikaner für legitim gehalten wird: „Nunmehr erwegt es wohl: Da Euer Vater fällt und Euch ein stolzes Volk die Krone zugestellt.“ (SC 79f.)12

Nach dem Muster der Corneille’schen Tragödie13 werden die Gefühle einem überpersönlichen Gesetz, der Vaterlandsliebe, unterordnet. Dem Staate opfert Cato das eigene und das familiäre Wohl, das Leben seines Sohns und das eheliche Glück seiner Tochter. Obwohl der stoische Übermut, das selbstlose Heldentum und die absurde Selbstaufopferung der Figur ihre tragische Dimension verleihen, wirkt diese übermenschliche Tugend befremdend: „Und muß die Tugend denn Natur und Trieb ersticken?“ (SC 1215) Genauso wenig strebt er die politische Macht an. Indem er Cäsars großzügiges Angebot der Machtteilung ablehnt, bewirkt er seinen Untergang, ohne damit Roms Verwüstung durch den Bürgerkrieg zu verhindern. Catos Freiheitsliebe ist unbedingt; sie macht ihn blind und führt ihn in den Tod. Ihre Kompromisslosigkeit verschließt sich jedem Friedensangebot, jedem Bündnis. Sein Selbstmord ist kein Akt der Verzweiflung, sondern ein Opfer, das er der republikanischen Ehre bringt: „Es ist ein großer Schimpf, wenn man Tyrannen glaubt/Und gar von ihrer Hand sein Leben will erhalten.“ (SC 950f.) Catos tragischer Irrtum besteht in der Annahme, er sei nur sich selbst und seinem Ehreverständnis verpflichtet. In den Augen des Autors ist aber das Individuum nicht nur sich selbst, sondern der Gesellschaft schuldig: Mit seinem Selbstmord hätte sich Cato der Aufgabe entzogen, die römische Republik gegen Cäsars Imperium weiterhin zu schützen.

Andererseits teilte Gottsched als Verfechter des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts Catos patriotischen Eifer. Die Allianz zwischen Cato und Arsene zeigt, dass die Republik und die Monarchie nicht als unversöhnliche Staatsformen angesehen werden, solange man sich dem Recht der Natur, dem Jus naturae unterwirft. Die Macht wird allerdings nur durch den Willen des Volkes legitimiert. Mit seiner Tragödie veranschaulicht Gottsched Samuel Pufendorfs (1632–1694) Theorie des Gesellschaftsvertrags, der zwischen dem vom Volke unterzeichneten Unterwerfungsvertrag und dem vom König angenommenen Herrschaftsvertrag unterscheidet; dabei verpflichten sich beide Teile, sich dem Wohle des Ganzen zu widmen: „Das Recht beschützt Euch selbst; drum dämpfet Gram und Pein/Und bauet nur, wie Rom, hinfort auf mich allein.“ (SC 137–140) Gottsched wollte lediglich seine Mitbürger von der unrechtmäßigen Herrschaft willkürlicher Fürsten und vom abergläubischen Festhalten an überholten religiösen Dogmen befreien. Aus ihm einen Republikaner zu machen, wäre übertrieben: Sowohl Catos Vorstellung einer freiheitlichen republikanischen Grundordnung als auch Agis’ Vision eines egalitären Staats sind zum Scheitern verurteilt. Vielmehr als das republikanische Modell vertritt Gottsched mit Pufendorf und Wolff die Idee des Rechtsstaates. Recht und Gesetz sollten die göttliche Autorität und die Willkür des Fürsten ersetzen.14

In Gottscheds zweiter Tragödie „Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra“15 nutzt die herrschsüchtige Catherine de Medicis die religiösen Konflikte zur eigenen Machtsicherung aus, während der tolerante Henri IV.16 das Schweigen lernt. Dies sollte nicht als Ablehnung der Monarchie an sich gedeutet werden, sondern als Kritik an den machiavellistischen Auswüchsen dieser Regierungsform. Wichtiger als die Frage, ob eine Republik oder eine Monarchie die beste Regierungsform sei, war das Jus naturae und die Gesetzestreue des Monarchen. Recht und Gesetz waren ihm wichtiger als Heldentum und Herrschaft. Auch der Monarch musste sich in dem Rechtsstaat dem Gesetz unterwerfen. Das naturrechtliche Denken der Aufklärung war im Ideal der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz verankert.

Mit der Ständeklausel akzeptierte Gottsched die historische Einteilung des adligen Trauerspiels und des bürgerlichen Lustspiels. Die Tragödien spielten lediglich in der Welt des Adels und waren für die Hofgesellschaft bestimmt. Catos Persönlichkeit erhob jedoch das Bürgertum in die höhere Sphäre der Tragödie. Gerade in der Annäherung des Bürgertums an den Adel liegt das Neue seiner Reform. Mit Cato wurde der Adel moralisch gewertet: Nicht die Geburt, sondern die Tugend bestimmte den Adel des tragischen Helden. Wie bei Sophokles entsprang die tragische Dimension, das Leiden des Helden, aus seiner seelischen Größe, aus seinem geistigen Adel. Dabei wurde eine gewaltige Korrektur vollzogen, indem das Bürgertum an dem Spiel teilhaben und ein bürgerlicher Zuschauer sich mit Cäsar, Agis und Heinrich IV. von Navarra identifizieren durfte. Mit Cato ebnete Gottsched indirekt den Weg zum bürgerlichen Trauerspiel. Auch die Geschlechtscharaktere wurden im Sinne der Naturrechtslehre neu geschildert. So führte Thalestris als gleichberechtigte emanzipierte Frau einen unerbittlichen Krieg gegen die traditionelle Rollenverteilung und das männliche Geschlecht, dessen Mut und Tapferkeit sie in vollem Maße besaß.

Nicht die Monarchie an sich kritisierte Gottsched, sondern ihre entartete Form der Tyrannei. Im Anschluss an den Monarchomachen vertrat er das Widerstandsrecht gegen die Tyrannen, d.h. gegen die uneingeschränkte Souveränität des Herrschers, wie sie von Bodin und Hobbes definiert wurde.

Wenn ein Tarquin entspringt, sind hundert Bruti da,

Die man noch nie gebückt zu deinen Füßen sah.

Man spricht dereinst von uns wie wir von unsern Vätern:

Sie straften Könige, wir tun es an Verrätern. (SC 961–964)

Mit ihren ungeheuren Machtansprüchen stürzten Cäsar, Catherine de Medicis, Thalestris ihre Untertanen ins Unglück, statt sich um ihr Wohl zu bemühen. Gottscheds Tragödien, „Der sterbende Cato“ (1731), „Die parisische Bluthhochzeit König Heinrichs von Navarra“ (1745), „Agis, König zu Sparta“ (1745) und „Thalestris, Königin der Amazonen“ (1766), engagierten sich für die bürgerlichen Freiheiten in einem Rechtsstaat, gegen die willkürliche absolutistische Monarchie im Sinne eines Ludwig XIV., für die von Friedrich II. in Preußen vertretene Auffassung des aufgeklärten Monarchen, gegen die religiöse Intoleranz, für die Annäherung der Konfessionen, gegen die Unterdrückung der Frauen und für die Gleichstellung der Geschlechter. Bei allen Hauptfiguren bestand das Tragische in einem falschen übertriebenen Tugendverständnis. Denn der stoischen Selbstopferung und Weltabkehr zog der Aufklärer die eudaimonistische Moralvorstellung vor. Tugendhaft war die Haltung, die die eigene und allgemeine Glückseligkeit förderte.

Aufgabe der neu entstehenden ästhetischen Wissenschaft war es nun, die verborgenen Mechanismen der Kunst zu verstehen. Dies war die Aufgabe des Kunstkritikers, der kein Kunstrichter war. „Critisch“ war Gottscheds Dichtkunst, weil sie sich mit dem Wunder des Kunstwerks rational auseinandersetzte. Nicht die Kunst war rational, sondern die sich mit ihr auseinandersetzende Philosophie: die Ästhetik. Das französische „Je ne sais quoi“ reichte nicht aus, um das Besondere am Kunstwerk zu definieren. Die Regeln – das hatte Goethe sofort erkannt – betrafen nur das äußerlich Formelle, das mit der Vernunft Fassbare. Das Talent – später Genie genannt – wurde vorausgesetzt. Es befand sich im Spannungsfeld zwischen Gefühl und Phantasie einerseits, Vernunft und Wissenschaft andererseits, und blieb ein Mysterium. Die Ästhetik wurde als eine akademische Wissenschaft betrieben; wie das Kunstwerk selbst entstand, blieb verborgen. Das Feuer der Leidenschaft gehörte dazu, da die Kunst eine sinnliche Erfahrung war. Doch: erst mit deren Bändigung durch die Vernunft entstand das Kunstwerk. Damit hatte Gottsched mit Diderot das Paradoxe an der Kunst erkannt: Der Dichter musste die wilden Leidenschaften selbst erfahren haben, bevor er zur Feder griff. Um sie in Kunst zu verwandeln, musste ihnen die Vernunft Einhalt gebieten. Denn nur im nüchternen Zustand konnte der Dichter über seine Gefühle und Leidenschaften schreiben. Das Wesen der Kunst bestand damit in dieser Wechselwirkung von Gefühl und Vernunft. Das Gefühl war die Grundvoraussetzung; die Vernunft schuf die nötige Distanz: der Dichter brauchte Maß und Gesetz, um nicht von der Leidenschaft vernichtet zu werden.17 Lange wurde Gottscheds Kritik an der Phantasie mißverstanden. Nicht gegen die Phantasie an sich richtete sich die Kritik, sondern gegen die Unfähigkeit, sie zu beherrschen und ihre Bilder in Kunst zu verwandeln. Der Dichter beschreibt mit seiner Vernunft die Leidenschaften, die er zwar selbst empfunden hat, nur nicht im Augenblick des Schreibens empfinden darf: Formell ist die Dichtung ein Werk der Vernunft, ihr Gehalt entstammt jedoch aus den wilden Leidenschaften und der Phantasie.18

Im Gegensatz zur trockenen und rationalen Philosophie hatte die Kunst19 den großen Vorteil, tief in die Seele einzudringen und ihre Wirkung dadurch zu intensivieren.20 Und doch musste die Vernunft eingreifen, um die Gefühle in Kunst zu verwandeln. Solange sie es nicht tat, blieb man auf der Ebene der individuellen Erfahrung und des guten Geschmacks.21

Aus diesem Widerspruch der durch die perfekte rationale Form gezähmten Leidenschaft entstand das Erhabene. Zentral für Gottscheds Verständnis des Erhabenen war die Abhandlung „Peri hypsous“ des Longinos; in dieser Schrift wurde das Erhabene als dasjenige beschrieben, das die Hörer verrückte und erschütterte. Als gründlicher Leser von Addison übernahm er von ihm die Unterscheidung zwischen dem Großartigen (great), dem Schönen (beautiful) und dem Ungewöhnlichen (uncommon). Dem Wunderbaren zog Gottsched das Erhabene vor: Die auf spektakulären Überraschungseffekten gründende Dramaturgie des Barock und der Wanderbühnen wurde zugunsten einer Wirkungsästhetik der Bewunderung und der Rührung aufgegeben, wie sie schon von Batteux (1713–1780) vertreten werden sollte. Für die aristotelische Katharsis als eine Reinigung der tragischen Leidenschaften „Furcht“ und „Mitleid“ zeigte er mit Corneille und Voltaire wenig Verständnis.22

Gerade diese Diskussion zog Gottsched in den fünfzehnjährigen Streit (1730–1745) mit den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783), Johann Jakob Breitinger (1701–1776) (Genie gegen Vernunft) und dem Hallenser Jakob Immanuel Pyra (1715–1744) (Gefühl gegen Vernunft) hinein. Seit Ende des 20. Jahrhunderts wird im Rahmen der Rehabilitation Gottscheds dieser Streit neu bewertet. Gottscheds Bewunderung für Corneilles „Cid“ beweist, wie zwiespältig wahre Kunst sein kann. Gerade am Beispiel des „Cid“ zeigte sich, dass die Einhaltung der Regeln allein noch kein Kunstwerk ausmachen könnte, und dass das Ziel des Trauerspiels die emotionale Wirkung sei. Die rationalen Regeln standen gerade im Dienst des Gefühls!

Ein anderer wichtiger Aspekt des Streites mit den Schweizern war die Religion: Obwohl Gottscheds Deismus heute noch nicht allgemein angenommen wird23, ist er kaum zu bestreiten.24 Aus dieser Position des Deismus heraus lehnte er religiöse Themen als Gegenstand der Literatur ab. Vielmehr als seine ästhetischen Ansichten, die sich nicht grundsätzlich von denen der Schweizer unterschieden, war seine Ablehnung des christlichen Epos entscheidend. Gottsched verband nämlich die Kritik am Wunderbaren mit dem Kampf gegen die Offenbarung. In diesem Sinne sollte man auch seine Stellungnahme in der zeitgenössischen Diskussion um John Miltons religiösen und von Bodmer 1732 übersetzten Epos „Paradise Lost“ (1667) und Klopstocks „Messias“ (1751) sowie auch seine Vorliebe für Schönaichs Nationalepos „Hermann“ (1751) verstehen.25 Nur so ist Voltaires Unterstützung in diesem Streit zu verstehen: es ging nicht so sehr um eine ästhetische als um eine ideologische Auseinandersetzung. Gottsched und Voltaire einigten sich sowohl in dem Kampf gegen die Allmacht des Klerus als auch in der inhaltlich philosophischen, wenn nicht formellen Erneuerung der klassischen Tragödie französischer Prägung.

Als Dichter und Theaterautor ist Gottsched in die Geschichte eingegangen. Wenig Beachtung fand dagegen sein philosophisches Werk. In der Tat ließ er sich gern mit Fontenelle und Voltaire vergleichen und zählte sich selber zu den „neuen Philosophen“. In ihnen fand er mutige Vorbilder, die sich öffentlich für die Toleranz gegen die Amtskirche und die von ihr verbreiteten religiösen Vorurteile eingesetzt hatten. Mit den „neuen Philosophen“ stellte er seine Position und sein Talent als Redner in den Dienst der Vernunft und Gerechtigkeit und bemühte sich ein Leben lang um die Aufklärung seiner Mitbürger. So nutzte er seine Stellung als Rektor und Professor, um nicht nur durch die eigenen Schriften und die Veröffentlichung verruchter Werke von Fontenelle26, Bayle27, Terrasson28, Helvétius29 u.a., sondern auch in seinen öffentlichen Reden meinungsbildend zu wirken. Durch sein entschiedenes Auftreten in der Öffentlichkeit entfernte er sich vom alten Modell des zurückgezogenen Schulgelehrten: Die Rhetorik pflegte er als eine Kunst, die er gern außerhalb des akademischen Lehrbetriebs in den von ihm neu gegründeten Gesellschaften lehrte. Wegen der dort deistischen und gewagten vorgetragenen Thesen durfte allerdings nur eine kleine sorgfältig ausgesuchte Anzahl von Studenten und Freunden an seiner Societas Conferentium (1732–1734) teilnehmen.

Gerade diese Erneuerung der Redekunst bewirkte den massiven Andrang bei seinen Vorlesungen: Seinen Vortrag über Opitz hielt er vor vierbis fünfhundert Studenten und von ihm eingeladenen Freunden.30 Hier drückte er vor einem begeisterten Publikum einen echten patriotischen Eifer aus; denn sein Anliegen bestand darin, ein neues Selbstwertgefühl bei seinen Landsleuten zu wecken, sie zur Eigenleistung zu ermuntern und zur Pflege der eigenen Sprache und Literatur zu ermahnen. Mit seiner Opitz-Rede31 zog er sich allerdings den Neid eines Heinrich Klausing (1675–1745) zu, der ihn wegen öffentlichen Ärgernisses anzeigte. Ärgerlich war sicherlich die Auslassung von Luthers Verdiensten für die Fortschritte der Wissenschaft und Philosophie, oder die direkte Attacke gegen die lateinische Sprache als Instrument der „Finsternis“ und gegen die Intoleranz der Kirchen. Am eigenen Leibe erfuhr er, wie gefährlich es war, den vorgegebenen akademischen Rahmen zu sprengen, und sein Mäzen Manteuffel musste sich für ihn einsetzen.

Mit ihm löste sich die akademische Gelehrsamkeit von der Theologie. Und mit dem Begriff der Weltweisheit meinte er mehr als die Philosophie. Es ging ihm wirklich darum, die Physis zu erforschen und die Transzendenz als nutzloses Irren abzutun. Gleichzeitig gewann der Begriff der Vernunft ein neues Gewicht: Das Individuum sollte sich nicht mehr den Vorschriften der Theologie unterwerfen; Ziel der Moral war nicht mehr Gott, sondern das eigene Wohl in einer wohlhabenden Gesellschaft. In diesem Sinne war die Moral Ausdruck der Vernunft. Und vernünftig war nur die Natur. Die Aussicht auf Strafen und Belohnungen im Jenseits garantierte die Autorität der moralischen Regeln nicht mehr. Vernünftig war die Moral erst dann, wenn sie im Dienste des Lebens stand. Die Beziehung zum Jenseits wurde aufgegeben. Die Ethik regelte lediglich das Verhältnis der Menschen zueinander und das des Individuums zu sich selbst. Die Vernunft schrieb die Pflichten vor, indem sie das dem Menschen Nützliche erkannte. Die Tugend hatte nichts mehr mit Opfer und Disziplin zu tun. Die Regeln fand man nicht mehr in der Bibel, sondern im Buch der Natur.

Gottsched befand sich an der Schwelle zwischen Tradition und Modernität: Traditionsbehaftet war seine Verbindung von Rhetorik und Poesie32; neu dagegen waren der sozial-politische Gehalt seines Werkes und die Suche nach Authentizität. Nicht seinem literarischen Talent verdankte Gottsched seinen Ruhm. Sehr schnell wurden seine poetischen Versuche Gegenstand der Satire. Dabei darf man nicht vergessen, dass selbst die edelsten Tragödien auf den Wanderbühnen parodiert wurden. Sein Verdienst ist es, durch seine klaren und mutigen Stellungnahmen gegen die Orthodoxie und den Obskurantismus für die natürliche Religion, die Wissenschaft und eine engagierte Literatur gefördert zu haben.

Er wirkte in der privateren Sphäre des Salons, veröffentlichte Zeitschriften, die ein nicht akademisches Publikum erreichen sollten, und hielt öffentliche, manchmal sogar frei zugängliche und immer gut besuchte Vorlesungen, wo er sein wirkliches rhetorisches Talent entfalten konnte. Eine weltfremde akademische Wissenschaft lehnte Gottsched ab, und das Theater bot gerade die Möglichkeit, die Erkenntnisse der Aufklärung einer breiteren Öffentlichkeit näher zu bringen. Selbst offizielle Gelegenheitsreden gaben ihm die Möglichkeit, Einfluss auf das Zeitgeschehen zu üben. Mit Gottsched fand schließlich Christian Wolffs emanzipatorische Botschaft ihre Verwirklichung auf der Bühne. Nicht zufällig wurde der Spruch der Aletophilen „sapere aude“ mit Immanuel Kant zur Devise der Aufklärung erhoben.

 

 

   1 Marie-Hélène Quéval: Johann Christoph Gottsched und Pierre Bayle – Ein philosophischer Dialog. Gottscheds Anmerkungen zu Pierre Bayles Historisch-critischem Wörterbuch, in: Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched, hg. von Gabriele Ball, Helga Brandes und Katherine R. Goodman, Wiesbaden 2006, S. 145–168, hier S. 159.

   2 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst, in: Ders.: Schriften zur Literatur, hg. von Horst Steinmetz, Stuttgart 1982 [Nachdruck], S. 12–196.

   3 Ebd., S. 151f.

   4 Johann Wolfgang Goethe: [Sämtliche Werke]. DTV-Gesamtausgabe [einmalige Taschenbuchsonderausgabe in 45 Bde.], hg. von Peter Boerner, München 1961ff., Bd. 23: Dichtung und Wahrheit – Aus meinem Leben, Teil II, 2. Auflage, München 1969, S. 47.

   5 Detlef Doering: Die Leipziger Lebenswelt der Luise Adelgunde Victorie Gottsched,in: Ball [u.a.] (Hg.) [Anm. 1], S. 39–63, hier S. 57.

   6 Marie-Hélène Quéval: Le Contrat social dans l’œuvre de J. C. Gottsched, in: La Crise de la Modernité européenne, hg. von Barbara Koehn, Rennes 2000, S. 17–36.

   7 Robert Vellusig: Aufklärung und Briefkultur. Wie das Herz sprechen lernt, wenn es zu schreiben beginnt, in: Kulturmuster der Aufklärung. Ein neues Heuristikum in der Diskussion, hg. von Daniel Fulda, Wolfenbüttel 2011, S. 154–171 (Das achtzehnte Jahrhundert 35, 2011, H. 2).

   8 Johann Christoph Gottsched: Poetische Sendschreiben, in: Ders.: Ausgewählte Werke, hg. von Joachim Birke, Bd. 1: Gedichte und Gedichtübertragungen, Berlin 1968, S. 313.

   9 Roland Krebs: L’Idée de Théâtre National dans l’Allemagne des Lumières, Wiesbaden 1985. Marie-Hélène Quéval: Les paradoxes d’Eros ou l’amour dans l’œuvre de Johann Christoph Gottsched, Bern 1999.

  10 Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas, 10 Bde., Salzburg 1957–1974, Bd. 4, Teil 1: Von der Aufklärung zur Romantik, S. 471–500.

  11 Gaby Pailer: Cato und Cornelia. Das republikanische Rom als Aufklärungsmodell in den frühen Trauerspieladaptionen der Gottscheds, in: Ball [u.a.] (Hg.) [Anm. 1], S. 169–189. Horst Steinmetz: Nachwort, in: Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato, Stuttgart 1979, S. 132–143.

  12 Johann Christoph Gottsched: Sterbender Cato, Stuttgart 1979. Fortan im Text zitiert unter der Sigle ‚SC‘+Vers.

  13 Marie-Hélène Quéval: Convention et modernité. Johann Christoph Gottsched et Pierre Corneille, in: Pierre Corneille et l’Allemagne. L’oeuvre dramatique de Pierre Corneille dans le monde germanique (XVIIe–XIXe siècles), hg. von Jean-Marie Valentin, Paris 2007, S. 243–258.

  14 Cato: „Die Helden, welche sonst Gesetz und Rechte schützen,/Ersticken die Natur und schänden ihr Gebot.“ […]//Cäsar: „Ihr wollt dem Siege stets Gesetz und Regeln geben:/Ach laßt mich doch nur selbst nach Ruhm und Ehre streben.“ (SC 899–920)

  15 Johann Christoph Gottsched: Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra, Leipzig 1745.

  16 Marie-Hélène Quéval: Les Noces de Sang du Roi Henri IV ou de l’Idée de la tolérance religieuse, in: L’Allemagne, des Lumières à la Modernité. Mélanges offerts à Jean-Louis Bandet, hg. von Pierre Labaye, Rennes 1997, S. 39–51.

  17 „Wer seinen regellosen Trieben den Zügel schießen läßt, dem geht es wie dem jungen Phaethon. Er hat wilde Pferde zu regieren, aber wenig Verstand und Kräfte, sie zu bändigen und auf der rechten Bahn zu halten. Sie reißen ihn fort, und er muß folgen, wohin sie wollen, bis er sich in den Abgrund stürzet.“ (Gottsched [Anm. 2], S. 49.)

  18 „Die guten Poeten nun, so ihre Einbildungs-Kraft durch die Vernunft in den Schranken zu halten und die hohe Schreibart durch die Regeln der Wahrscheinlichkeit zu mäßigen gewußt, sind auch bei einer vernünftigen hohen Art des Ausdruckes geblieben. Die schwachen Geister aber, die ihrer Phantasie folgen mußten, wohin sie wollte, verstiegen sich gar zu hoch, so daß Horaz sie beschuldiget, sie hätten bisweilen solche Rätsel als die delphische Priesterin gemacht [. . .].“ (Ebd., S. 169.)

  19 „Die meisten Gemüter sind viel zu sinnlich gewöhnt, als daß sie einen Beweis, der aus bloßen Vernunftschlüssen besteht, sollten etwas gelten lassen, wenn ihre Leidenschaften demselben zwider sind. Allein Exempel machen einen stärkeren Eindruck ins Herz.“ (Johann Christoph Gottsched: Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: Ders.: Schriften zur Literatur [Anm. 2], S. 3–11, hier S. 6.)

  20 „Überhaupt sind die Musen nicht Göttinnen der Weisheit oder der Wissenschaften, sondern der Poesie, der Musik und der Geschichte, mit einem Worte, der freien Künste. Man muß also von ihnen nichts fordern, als was ihnen zugehört. Die Vernunftschlüsse gehören vor die Weise Pallas, der Feldbau vor die Feldgötter, als Sonn und Mond, Bacchus und Ceres, [vor] die Faunen und Nymphen, [vor] den Pan und Neptun, [vor] die Minerva und den Silvan usw.“ (Gottsched [Anm. 2], S. 111.)

  21 „Denn soviel ist gewiß, daß ein Dichter zum wenigsten denn, wenn er die Verse macht, die volle Stärke der Leidenschaft nicht empfinden kann. Diese würde ihm nichtZeit lassen, eine Zeile aufzusetzen, sondern ihn nötigen, alle seine Gedanken auf die Größe seines Verlustes oder Unglücks zu richten. Der Affekt muß schon ziemlich gestillet sein, wenn man die Feder zur Hand nehmen und seine Klagen, in einem ordentlichen Zusammenhange vorstellen will.“ (Ebd., S. 82.)

  22 „Alle diese und unzählige andere Bilder rühren mich im innersten der Seelen. Ich bewundere solche Helden. Ich verehre ihre Vollkommenheit. Ich fasse den edlen Vorsatz, sie nachzuahmen, und fühle einen heimlichen Ehrgeiz, nicht schlechter als sie befunden zu werden.“ (Gottsched [Anm. 19], S. 7.)

  23 Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik, Tübingen 2010.

  24 Eugen Wolff: Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben, Kiel/Leipzig 1895.Quéval [Anm. 9]. Martin Mulsow: Freigeister im Gottsched-Kreis. Wolffianismus, studentische Aktivitäten und Religionskritik in Leipzig 1740–1745, Göttingen 2007. Günter Gawlick: Johann Christoph Gottsched als Vermittler der französischen Aufklärung, in: Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit, hg. von Wolfgang Martens, Heidelberg 1990, S. 179–204.

  25 „Was soll man also von denen denken oder sagen, die uns auf gut miltonisch mitder Geisterwelt, dem Cherubim und Seraphim, den Teufeln aller Arten und den Feien und Hexen plagen? Die uns in allen diesen Dingen Geheimnisse der Religion vortragen, die über alle Vernunft und folglich über alle Wahrscheinlichkeit sind? Dieses, daß sie uns die Sphäre der Dichtkunst über den menschlichen Begriff hinaus erstrecken und sich alle Augenblick in die Gefahr begeben, wider die Wahrheit und Wahrscheinlichkeit zu verstoßen.“ (Gottsched [Anm. 2], S. 152f.) Die Kritik wurde 1751 in die 4. Auflage anstelle des Shaftesbury-Zitats eingefügt.

  26 Bernard Le Bouyer de Fontenelle: Auserlesene Schriften, Leipzig 1760.

  27 Peter Baylens Historisches und Critisches Wörterbuch. Ins Deutsche übersetzt, auch mit einer Vorrede und verschiedenen Anmerkungen versehen von Johann Christoph Gottscheden, nebst dem Leben des Herrn Bayle v. Desmaizeau, Leipzig 1742. Pierre Bayle: Herrn Peter Baylens, weyland Prof. Der Philosophie zu Rotterdam, verschiedene Gedanken bey Gelegenheit des Cometen, der im Christmonate 1680 erschienen: An einen Doctor der Sorbonne gerichtet, Hamburg 1741.

  28 Des Abt Terrassons Philosophie nach ihrem allgemeinen Einfluße auf alle Gegenstände des Geistes und der Sitten. Aus dem Französischen verdeutschet. Mit einer Vorrede von Johann Christoph Gottscheden, Leipzig 1756. (Übersetzt von Luise A. V. Gottsched und mit einem ihr eigenen Exkurs über die Religion versehen.)

  29 Claude Adrien Helvétius: Discurs über den Geist des Menschen. Übersetzt von Johann Christoph Gottsched, Leipzig 1760.

  30 „Dès que j’en fus informé après mon retour de Weissenfels, je lui dis, que j’étais tenté de l’entendre. Il n’en fut pas faché, comme vous le croirez facilement et pour donner un peu plus de brillant à son auditoire, il fit avertir; non en cérémonie mais en particulier, plusieurs de ses amis; et nommément le Recteur d’à présent Mr Richter et le Doien de la faculté philosophique, Mr Olearius, qu’ils lui feroient plaisir de venir à lamême heure, qu’il avoit indiquée pour ses leçons, dans ce vieux collège philosophique, où ces messieurs, comme moi-même, et 4 ou 5 centaines d’étudiants ne manquèrent point de se trouver à point nommé. […] après quoi l’heure étant finie chacun se retira comme il était venu, c’est à dire sans l’ombre d’une cérémonie. Voici l’histoire de cette harangue.“ (Brief von Manteuffel an Holtzendorff, 25.09.1739, in: Gottscheds Korrespondenten. Universitätsbibliothek Leipzig, MS 0342, Bd. V, S. 967b.)

  31 Johann Christoph Gottsched: Gedächtnisrede auf Martin Opitzen von Boberfeld, Leipzig 1739, in: Ders.: Schriften zur Literatur [Anm. 2], S. 212–238, hier S. 212.

  32 „Weil auch in der Tat ein Redner und Komödiant in diesem Stücke einerlei Pflicht haben, so können sich diese auch aus dem Traktate des Le Faucher ‚De l’action de l’orateur‘, so unter Conrarts Namen herausgekommen, auch ins Deutsche übersetzt worden, manche gute Regel nehmen.“ (Ebd. [Anm. 2], S. 175.)