Friedrich Schiller und die Aufklärung

Volker C. Dörr

In älteren Literaturgeschichten oder auch in schematischen Epocheneinteilungen wird Friedrich Schiller (1759–1805) meist nicht der Aufklärung zugerechnet, sondern zwei folgenden ‚Epochen‘: Sein Jugendwerk, beginnend mit seinem Erstlingsdrama „Die Räuber“ (1781), fällt (noch) in die Zeit des sogenannten ‚Sturm und Drang‘, während der spätere Schiller ein Autor der sogenannten ‚Weimarer Klassik‘ (die auch, meist in noch älteren Darstellungen, ‚Deutsche Klassik‘ genannt wird) gewesen sei. Daran ist einiges problematisch1: Wenn tatsächlich sinnvoll von einer Epoche des ‚Sturm und Drang‘ gesprochen werden kann, dann ist sie zum Zeitpunkt des Erscheinens der „Räuber“ eigentlich schon vorüber. Andererseits gilt es schon seit längerer Zeit als mehr denn zweifelhaft, ob der ‚Sturm und Drang‘ eine eigene Epoche ausmacht (die sich noch dazu radikal von der Aufklärung abgrenzte); viel sinnvoller ist es, ihn als radikalisierende Bewegung einiger Autoren innerhalb der Grenzen der Aufklärung zu deuten. Und auch Schillers Beiträge zur ‚klassischen‘ Literatur stehen zur philosophischen Bewegung der Aufklärung alles andere als im Widerspruch. Von seinen beiden wichtigen ästhetischen Konzepten lässt sich sogar zeigen, dass es sich um Unternehmungen der Aufklärung im engeren Sinne handelt: von seinem Projekt einer Ästhetischen Erziehung des Menschen2 und von seiner Tragödientheorie. Beide Konzepte Schillers sind durch und durch aufklärerisch: weil sie den zentralen Punkt der Aufklärung, die Beantwortung der Frage, wie die Welt dadurch verbessert werden kann, dass der (einzelne) Mensch verbessert wird, nie aus dem Blick verlieren.

Schiller, der gern Pfarrer geworden wäre, war ausgebildeter Mediziner. Dabei kann die Prägung seines Denkens durch seine Ausbildungsstätte, die „Karlsschule“, und vor allem seinen philosophischen Lehrer Jakob Friedrich Abel kaum überschätzt werden.3 In der kurzen Zeit, in der er im bürgerlichen Sinne einen Beruf ausgeübt hat, bevor er so schwer krank wurde, dass an eine regelmäßige Berufstätigkeit nicht mehr zu denken war, war er als Professor für Geschichte an der Universität Jena tätig. Seine dortige Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ hielt er geradezu vor Massen von Publikum, Ende Mai 1789, also kurz vor Beginn der Französischen Revolution. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Blick auf die Geschichte noch von einem aufklärerischen Optimismus geprägt, der aber die Französische Revolution nicht unbeschadet überstehen sollte: von dem Glauben daran, dass „die stille Hand der Natur schon seit dem Anfang der Welt die Kräfte des Menschen planvoll entwickelt“.4 Diese Konzeption ist insofern typisch aufklärerisch, als sie eine auf lange Sicht notwendigerweise zur Freiheit führende Selbstvervollkommnung der menschlichen Gattung voraussetzt, die Schiller sogar für – in Europa – weitgehend abgeschlossen hält. Dementsprechend scheint ihm, noch am Vorabend der Revolution, das „Zeitalter der Vernunft“ erreicht und „die europäische Staatengesellschaft […] in eine große Familie verwandelt“.5 Universalgeschichte in diesem Sinne ist dann die Vorgeschichte des (scheinbaren) Friedens; aber diese Vorgeschichte ist dem Menschen mit seinem beschränkten Verstand nur eingeschränkt zugänglich:

Es zieht sich […] eine lange Kette von Begebenheiten von dem gegenwärtigen Augenblicke bis zum Anfange des Menschengeschlechts hinauf, die wie Ursache und Wirkung in einander greifen. Ganz und vollzählich überschauen kann sie nur der unendliche Verstand; dem Menschen sind engere Grenzen gesetzt.6

Dass dieser Gedanke in seinen Konsequenzen mit einem zentralen Punkt aus Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“ zusammenstimmt, sieht man, wenn man einen Blick auf Schillers erstes historisches Drama wirft: „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ (1783). Dort geht es dem Dramatiker um alles andere als um historische Exaktheit, wie sich besonders am Schluss zeigt. Fiesko, der ursprünglich für eine Revolte gegen den Genueser Dogen Andreas Doria gewonnen worden ist, beansprucht plötzlich, im krassen Widerspruch zu den republikanischen Zielen seiner Mitverschwörer, die Herzogwürde für sich selbst. Und während das historische Vorbild Fiesco (1524/25–1547) Opfer des blinden Zufalls geworden ist – er ist nach einem Sturz ins Hafenbecken ertrunken –, setzt Schiller ein anderes Ende: Der Mitverschwörer Verrina ertränkt Fiesko, weil er dessen Tyrannei verhindern will, und liefert sich selbst dem Dogen aus. Warum verändert Schiller das historische Geschehen auf so entscheidende Weise?

In der „Vorrede“ zum „Fiesko“ weist Schiller auf einen entscheidenden Punkt hin, den er aus Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“ übernommen hat: Die „Natur des Dramas“ dulde den „Finger des Ohngefährs oder der unmittelbaren Vorsehung nicht“.7 Weder der Zufall noch die (göttliche) Vorsehung dürfen im Drama agieren – und zwar, weil sich das dramatische Geschehen dann nicht in sich zum Ganzen rundet; denn beides bricht ja von außen ein und hat keine Ursache im Drama selbst. Dass die Universalgeschichte ein solches Ganzes ist, das aber vom beschränkten menschlichen Verstand nicht zu überblicken ist – dieser Gedanke der Antrittsvorlesung taucht bereits hier, in der „Vorrede“ zum „Fiesko“ auf:

Höhere Geister sehen die zarten Spinneweben einer That durch die ganze Dehnung des Weltsystems laufen und vielleicht an die entlegensten Gränzen der Zukunft und Vergangenheit anhängen – wo der Mensch nichts, als das in freien Lüften schwebende Faktum sieht.

Die Forderung, das Historische im Drama zu einem in sich geschlossenen Ganzen zu machen, ergebe sich, so Schiller weiter, aus dem letztlich moralischen Auftrag des Dramas: „[D]er Künstler wählt für das kurze Gesicht der Menschheit, die er belehren will […].“8 Auch damit folgt Schiller Lessings „Hamburgischer Dramaturgie“, wo es über den „ewigen unendlichen Zusammenhang aller Dinge“ heißt:

In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem anderen sich völlig erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derentwegen wir die Befriedigung nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen Plane der Dinge suchen müssen […].9

Die Idee ist also, dass man nur alle Wirkfaktoren sehen muss um einzusehen, dass alles sich letztlich zum Guten fügt (oder dass wenigstens das Böse bestraft wird). Dem Menschen ist diese Erkenntnis im Blick auf die Welt unmöglich; die kleine Welt des Dramas soll daher so eingerichtet sein, dass man es dort sehen kann – und dann im Glauben bestärkt wird, dass es auch im großen Ganzen so ist.

Wenn Schiller sich im „Fiesko“ auf den Zusammenhang zwischen Moral und dem Charakter der Hauptfigur konzentriert, dann stellt er damit zudem sein Drama direkt in den Dienst einer moralischen Verbesserung des Menschen – und zwar in einem viel direkteren Sinne, als Lessing das vorgesehen hat. Will dieser den Menschen bessern, indem er vor allem dessen Mitleid optimiert, greift Schiller auf ein älteres Modell zurück: auf die Idee der abschreckenden Wirkung. Indem er zeigt, wie das moralische Vergehen bestraft wird, stiftet er also einerseits, wie Lessing, eine Verbindung zur Realität (womit er behauptet, dass das Laster, genau besehen, auch im wirklichen Leben bestraft wird); zum anderen will er die Furcht vor solchen Folgen dazu nutzen, den Zuschauer zu bessern. Damit setzt Schiller das Theater an die Funktionsstelle der bereits durch die Aufklärung geschwächten Religion. Wie Schiller in seiner Rede „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?“ (die später unter dem Titel „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ berühmt geworden ist) ausführt, soll das Theater seine „Gerichtsbarkeit bis in die verborgensten Winkel des Herzens fortsetzen]“10 und damit als „schrecklicher Richterstuhl“ für moralische Verfehlungen fungieren.11

Das einfache, frühaufklärerische und – im Blick auf die Realität des Theaters – verspätete12 Wirkungsmodell der Abschreckung durch Darstellung von Strafe hat Schiller dann bald aufgegeben, das Interesse an Psychologie nicht. Als Autor poetischer Werke ist Schiller immer auch Psychologe geblieben. Dabei ist er hauptsächlich als Dramenautor und Theoretiker sowie als Lyriker in Erscheinung getreten; ein großer Erzähler war er nicht. Sein einziger Roman, „Der Geisterseher“, erschien 1787–1789 in Fortsetzungen in seiner Zeitschrift „Thalia“ und war zwar ein großer Erfolg beim Publikum; vollendet hat Schiller ihn dennoch nicht. Hier bedient sich Schiller ausführlich des Inventars der Schauer- und der Geheimbundromane, bleibt dabei aber ein ganz der Aufklärung verpflichteter Autor: Geheimnisvolle Phänomene wie etwa Spukerscheinungen werden ausführlich (und gelegentlich etwas langatmig) auf rationale Weise erklärt: als technische Tricks. Das „Experiment mit dem Phantastischen“ bleibt „eingebunden in eine stabile Ordnung der Vernunft“.13 Damit treibt Schiller den scheinbaren Geheimnissen das Geheimnisvolle aus – ganz anders als später E. T. A. Hoffmann, bei dem Geistererscheinungen meist in dem Sinne phantastisch sind, dass in der Schwebe bleibt, ob es nicht doch eine rationale Erklärung gibt. Schiller leistet damit weiter dem zentralen Mythos der Aufklärung Vorschub, letztlich ließe sich alles mit rationalen Begründungen erklären. Skeptischer als im Blick auf die Theorie der Aufklärung war Schiller, vor allem, nachdem die Französische Revolution einen blutigen Verlauf genommen hatte, stets im Blick auf die Praxis: auf die soziale Realität seiner Zeit – und auf das Aufgeklärtsein seiner Zeitgenossen.

Mit seinem ersten Drama „Die Räuber“, das zugleich seinen Ruhm als Dramenautor begründet, schreibt Schiller sich verspätet in die Traditionslinie des ‚Sturm und Drang‘ ein und überbietet ihn zugleich in seinem aufklärungskritischen Anliegen. Wenn, als Aufhänger der Handlung, Franz, der zweitgeborene Sohn des Grafen von Moor, die Ungerechtigkeit beklagt, die in der kruden Tatsache begründet liegt, dass er bloß der Zweitgeborene und deswegen nicht der Erbe des väterlichen Besitzes ist, dann lässt sich dies als implizite aufklärerische Kritik an der Primogenitur, also dem Erstgeburtsrecht, deuten; dies situiert Schillers Text im Zentrum eines Zeitalters, das zunehmend auf eine Bewertung des Menschen nach seinen (Verstandes-)Leistungen setzt und das dem „Zufall der Geburt“, wie es in Lessings „Nathan der Weise“ heißt14, im Blick auf die Bestimmung des Lebenswegs ein immer geringeres Gewicht zugesteht. Primogenitur ist ein Grundprinzip des Adels, der sich ja vollständig über das Moment der Geburt organisiert und erhält, und steht damit im Widerspruch zu dem protestantischen leistungsethischen Prinzip, das die rasante Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert vorantreiben wird.15 Dass es gerechter und weniger willkürlich scheint, wenn jemand aufgrund seiner Leistung wichtigen Einfluss hat, ist auch ein Effekt des durch Aufklärungsdenken vorangetriebenen Umbaus der Gesellschaft, der sich um 1800 beschleunigt vollzieht: hin zu einer Gesellschaft, in deren Spitze man nicht mehr, im Rahmen einer gottgegebenen statischen Weltordnung, hineingeboren wird, sondern auf die man sich hinaufarbeitet.16 Dass ausgerechnet Franz Moor sich im Einklang mit solchen Positionen befindet, macht diese aber nicht eben stärker, sondern bedeutet ein erstes Moment der Kritik an Aufklärung und Säkularisierung.

Franz Moor will sich an der scheinbar gottgegebenen väterlichen Ordnung rächen und sich selbst als Herrscher einsetzen und setzt dazu einen perfiden Plan ins Werk: Mit Hilfe eines gefälschten Briefs macht er den Vater glauben, Franz’ Bruder Karl sei zum steckbrieflich gesuchten Räuber geworden; in einem Brief, den er im Namen des Vaters an Karl schreibt, fingiert er dessen unwiderrufliche Verstoßung – was diesen dazu veranlasst, das Angebot anzunehmen, Hauptmann einer Räuberbande zu werden.

In dieser Rolle versucht Karl, die von ihm und den Räubern ausgeübte Gewalt durch die „Wohltätigkeit des guten Herrschers“ gegenüber Unterprivilegierten auszugleichen17, was sich durchaus als Spur eines aufklärerischen Anschlusses an die Tradition des Fürstenspiegels deuten lässt: an diejenige Literatur also, mit der Fürsten die Tugenden gerechten Regierens nahegebracht werden sollten. Franz versucht in der Zwischenzeit den Vater zu töten, indem er ihm, psychologisch kalkuliert, mit der fingierten Nachricht vom Tode Karls einen Schock versetzt; doch der Vater lebt weiter: in einem Turm, in den ihn Franz hat werfen lassen. Er stirbt aber schließlich doch an einem Schock: als er seinen zum Räuber gewordenen Sohn Karl (der aus Liebessehnsucht inkognito nach Hause zurückgekommen ist) erkennt. Franz wird in der Folge von unerträglichen Alpträumen gequält und erdrosselt sich selbst (was allerdings physiologisch unmöglich ist). Karls Geliebte Amalia, die einsehen muss, dass ihr geliebter Karl zum Räuber geworden ist, wünscht sich den Tod von dessen Hand, während Karl, von den Räubern an seine Verpflichtung erinnert, erkennen muss, dass es für ihn kein Zurück gibt. Er tötet Amalia tatsächlich und liefert sich, mit den berühmten Schlussworten des Dramas, einem Tagelöhner aus: „Man hat tausend Louisdore geboten, wer den grossen Räuber lebendig liefert – dem Mann kann geholfen werden.“18

Die „moralisierende Überkonstruktion“ dieses Schlusses19 hat, auf den ersten Blick, vieles mit der Aufklärungstragödie gemein: Das moralische Fehlverhalten wird bestraft (oder es bestraft sich selbst) und damit unmissverständlich als falsch ausgewiesen. Allerdings verwendet das Drama seine Hauptenergie ganz offenbar nicht darauf, dem Publikum eine moralische Einsicht zu vermitteln. Die berühmten zeitgenössischen Berichte von der Mannheimer Erstaufführung vermerken auch keinen Erkenntnisfortschritt beim Publikum und keine heftigen Diskussionen, sondern vielmehr heftige Affekte – und das ist nicht unproblematisch: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum!“20

Franz Moor, der so kaltblütig auf seine eigenen Interessen bedacht ist, handelt alles andere als irrational, sondern durchaus vernünftig, aber im Sinne einer einseitig theoretischen, rein instrumentellen Vernunft: indem er genau das tut, was ihn seinen Zielen näher bringt. Was er nicht im Blick hat, sind die Interessen anderer – deren Vermittlung mit den eigenen Interessen das Ziel der praktischen Vernunft ist –, weil sie seinen eigenen entgegenstehen. Er verwirft „alle religiösen, moralischen und sozialen Begriffe als Fiktionen“21 und erweist sich damit als ebenso konsequenter wie radikaler Vertreter einer Kritik im Sinne Kants:

Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Helligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.22

Die Frage, die Franz Moor beantwortet, ist: Können wir eigentlich sicher sein, dass nach einer solchen kritischen Prüfung von Religion und Gesetzgebung, wie von Kant postuliert, eine Begründung der Moral aus Vernunftgründen übrig bleibt: die Überzeugung, das Gute müsse getan werden, weil es eben als das Gute erkannt ist? Franz Moor beantwortet die Frage praktisch negativ, indem er das nur theoretisch, zur Erreichung des Ziels, Richtige tut.

Die Intention der Anlage der Figur Franz ist ganz offenbar, dem Zuschauer sinnfällig vorzuführen, dass eine solche „Loslösung der Vernunft von der Moral“, eine Verabsolutierung der theoretischen bei gleichzeitiger Negation der praktischen Vernunft, nicht nur bestraft wird, sondern sogar eigentlich „menschenunmöglich“ ist23, dass Franz sich also zwangsläufig am Ende selbst richten muss. Dies sieht auf den ersten Blick nach einer prototypisch aufklärerischen Absicht aus; genau besehen ist es das in doppelter Hinsicht nicht: weil es in sich inkonsequent ist und zudem auf eine Weise umgesetzt wird, die der Intention massiv widerspricht.

Franz Moor wird ja nicht etwa durch Einsicht, also durch seine eigene Rationalität, auf den Pfad der Tugend zurückgeführt; vielmehr muss ein Moment des Irrationalen die Gewalt über ihn erlangen24: die Angst vor göttlicher Strafe im Jüngsten Gericht, die durch ein Gespräch mit dem Pastor Moser verstärkt wird. Damit aber fällt Schiller hinter sein später formuliertes Programm der Schaubühne als einer „moralischen Anstalt“, das offenkundig für die „Räuber“ schon Geltung haben sollte, zurück; denn dort wird gerade gefordert, dass das Theater diese Funktion von der absterbenden Religion übernehmen solle. Paradoxerweise also soll das Theater seine Macht hier beweisen, indem es die Macht desjenigen Systems vorführt, von dem es die Macht übernommen haben soll: der Religion. Das heißt, Schillers Drama vollzieht letztlich denselben inkonsequenten Rückfall nach wie sein ‚Held‘ Franz, der ja auch die verlorene Geltung der Religion behauptet, um dann am Ende sich selbst der Religion wieder zu überantworten.

In einem anderen Punkt folgt das Drama jedoch der Konsequenz seines Antagonisten Franz Moor – weil der seinem Autor folgt. Die Überlegungen, die Franz anstellt, um seinen Vater töten zu können, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, seine Pläne für einen „psychosomatisch ausgeklügelten Mord“25, entsprechen zum einen den Überlegungen Schillers in seiner (zweiten) medizinischen Dissertation „Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“26; zum anderen benutzt Schiller dann exakt dieselben Triebkräfte, um – freilich mit einer völlig anderen Absicht – sein Publikum zu beeinflussen. Dass Schiller diese psychische Beeinflussung im Dienst einer guten Sache, der aufklärerischen Moralphilosophie, vornimmt, ändert wenig daran, dass er sein Publikum damit letztlich zum Objekt seiner eigenen Absichten erniedrigt, indem er es als bloßen Reiz-Reaktions-Mechanismus begreift. Schiller erweist sich also einerseits als genauso „bewußter und konsequenter Materialist“ wie seine Figur Franz Moor.27 Indem er seine als höchst legitim vorausgesetzten Zwecke zur Rechtfertigung illegitimer Mittel heranzieht, gerät er andererseits in die Nähe des Marquis Posa im späteren Drama „Don Carlos“. Wie dieser auch versucht Schiller hier, aufklärerische Ziele auf tendenziell antiaufklärerischen Wegen zu erreichen.

Anders als den „Räubern“ liegt seinem Drama „Don Carlos“, wie dem späteren „Fiesko“-Drama (und einigen anderen auch), ein historischer Stoff zugrunde, und Schiller hat, wie immer bei seinen historischen Dramen, ausführliche Quellenstudien betrieben. Dabei aber geht es ihm letztlich, obwohl er später Professor für Geschichte geworden ist, nie um die historischen Fakten, mit denen er meist eben recht frei umgeht. Ein Hauptzug seines tatsächlichen Interesses am Historischen betrifft die Frage des Zusammenhangs von Psychologie und Politik. Besonderes Anliegen ist ihm dabei die Aufdeckung der Mechanismen, mit denen Macht den Menschen verändert.

In „Don Carlos“ geht es vordergründig um Machtkämpfe am spanischen Königshof im 16. Jahrhundert. Da gibt es die Prinzessin Eboli, die – einerseits aus enttäuschter Liebe zum Thronfolger Carlos, andererseits aus Furcht vor Entdeckung ihres Liebesverhältnisses mit dem König – diesen gegen seinen Sohn aufzubringen sucht. Zentraler, und vielschichtiger, aber ist die Figur des Marquis Posa. Er benutzt seine Freundschaft mit Carlos zu einem politischen Komplott gegen den König, mit dem Ziel, die Niederlande von der spanischen Herrschaft zu befreien.

Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei ein Gespräch zwischen dem König und dem Marquis Posa im dritten Akt des Dramas. Der König will ausgerechnet Posa als Spitzel gegen dessen Jugendfreund Carlos einsetzen. Posa wiederum konfrontiert den König mit aufklärerischen (und daher natürlich anachronistischen) Positionen: mit einer eindeutig von Jean-Jacques Rousseau und Montesquieu beeinflussten Kritik an höfischer Verstellung. Das von ihm als Gegenmodell entworfene Programm eines Verfassungsstaates, der auf Toleranz gegründet sein soll, gipfelt in der Aufforderung „Geben Sie/Gedankenfreiheit.“28

Gedankenfreiheit ist ein geradezu uraufklärerisches Ideal, das auch in Immanuel Kants berühmter „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ eine zentrale Rolle spielt. Und auch ein anderer Aspekt, der oft übersehen wird, ist in beiden Fällen – in Posas Forderung, wie in Kants theoretischer Schrift – wesentlich: dass der König (bei Kant ist es der preußische König Friedrich II.) die Gedankenfreiheit gibt und garantiert. Aufklärung ist nicht per se ein Unternehmen, das jede Autorität in Frage stellt. Obwohl Kants Schrift in einer berühmten Formulierung den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ fordert, was konkret bedeuten soll, dass er „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen […] bedien[t]“29, sind zwei Autoritäten davon ausgeschlossen, als unnötige Vormünder zurückgewiesen zu werden: explizit der König und implizit Gott.

Posas Satz ist nicht nur oft falsch zitiert (durch die hinzuerfundene Anrede „Sire“), sondern auch zur Phrase verkürzt worden. Angeblich habe es während des Dritten Reichs in deutschen Theatern an dieser Stelle heftigen Szenenapplaus gegeben – woraus dann geschlossen werden soll, die Deutschen seien in der Mehrzahl Regimegegner gewesen.30 Die Figur des Posa ist in der Rezeption zum Sprachrohr einer einfachen (und etwas billig daherkommenden) Aufklärungsmaxime verengt worden – analog zu der zuweilen begegnenden Fehleinschätzung, die Aufklärung habe in Person von Kant, gewissermaßen von einem Tag auf den anderen, den Glauben an Autoritäten abgeschafft.

Dabei ist das Bild der aufklärerischen Rationalität, das der Marquis verkörpert, durchaus dialektisch. Posa nämlich nutzt seine Position als Vertrauter des Königs im Sinne seines Ziels aus, und das ist nicht schon dadurch gerechtfertigt, dass es sich bei diesem Ziel um eines der höchsten handelt: Freiheit. Statt seinen Freund Carlos einzuweihen, wie es das bürgerlich-aufklärerische Ideal empfindsamer Kommunikation gefordert hätte, behandelt er ihn wie einen schwer kalkulierbaren Faktor – und lässt ihn verhaften. Der Plan geht nicht auf, weil Carlos sich der intriganten Eboli anvertraut. Posa versucht noch, die Schuld allein auf sich zu nehmen, wird aber erschossen, und Carlos wird der Inquisition übergeben.

Dass nicht jeder hohe Zweck alle niedrigen Mittel heiligt, hat kaum jemand deutlicher formuliert als Schiller selbst: in einer ausführlichen Kritik zum eigenen Drama. Darin macht er deutlich, dass für Posa das Erreichen seines Ziels, „die Befreiung eines unterdrückten Volkes“, stets wichtiger ist „als die kleinen Angelegenheiten seines Freundes“ Carlos: „Fest und beharrlich geht der Marquis seinen großen kosmopolitischen Gang, und alles, was um ihn herum vorgeht, wird ihm nur durch die Verbindung wichtig, in der es mit diesem höhern Gegenstande steht.“31 Carlos ist weniger sein Freund als vielmehr sein Projekt, d.h. er instrumentalisiert ihn und benutzt ihn als „Werkzeug“ für seine Zwecke.32 Gezeigt werden solle damit am Beispiel Posas, „daß der uneigennützigste, reinste und edelste Mensch aus enthusiastischer Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso willkürlich mit den Individuen zu schalten, als nur immer der selbstsüchtigste Despot […]“.33 Schiller erklärt sich dies

aus dem Bedürfnis der beschränkten Vernunft, sich ihren Weg abzukürzen, ihr Geschäft zu vereinfachen und Individualitäten, die sie zerstreuen und verwirren, in Allgemeinheiten zu verwandeln; aus der allgemeinen Hinneigung unsers Gemütes zur Herrschbegierde oder dem Bestreben, alles wegzudrängen, was das Spiel unsrer Kräfte hindert.34

Damit aber benennt er eigentlich einen der zentralen Punkte (aufklärerischer) Aufklärungskritik: den Zug der Vernunft zum Absolutismus, zur Unterwerfung von allem und allen unter ihre als unbedingt vernünftig vorausgesetzten Zwecke. Dass sie dabei dazu neigt, verwirrende „Individualitäten […] in Allgemeinheiten zu verwandeln“, oder moderner gesprochen, die Realität einer massiven Komplexitätsreduktion zu unterziehen, indem sie sie zum Beleg allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erklärt, macht zum einen das Erfolgsprinzip der Rationalität aus – schließlich ist dies genau das Vorgehen mathematisch-technischer Naturwissenschaften. Zum anderen steckt darin auch der Kern dessen, was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenverfolgung in ihrem gleichnamigen Buch als „Dialektik der Aufklärung“ beschrieben haben: das Umschlagen des Freiheitsstrebens der Aufklärung in einen instrumentell-gesetzmäßigen Zwang. (Diese Gefahr ist den Denkern der Aufklärung selbst nicht ganz unbekannt gewesen.35)

An Posa lässt sich also ablesen, dass nicht nur „politische Aktivität […] die Transformation der Idee in das immer gleiche Gesetz der Macht [bewirkt]“36, sondern dass diese Transformation mindestens im Verdacht steht, in der Idee selbst bereits angelegt zu sein – ein in seiner radikalen Aufklärungskritik radikal aufklärerischer Gedanke. Schiller selbst beschreibt sein konkretes Anliegen als einen

Versuch, […] Wahrheiten, die jedem, der es gut mit seiner Gattung meint, die heiligsten sein müssen, und die bis jetzt nur das Eigentum der Wissenschaften waren, in das Gebiet der schönen Künste herüberzuziehen, mit Licht und Wärme zu beseelen und, als lebendig wirkende Motive in das Menschenherz gepflanzt, in einem kraftvollen Kampfe mit der Leidenschaft zu zeigen.37

Damit weist er sein Drama „Don Carlos“ selbst als Aufklärungsdrama aus, denn wissenschaftliche Wahrheiten auf dem „Gebiet der schönen Künste“ zu „beseelen“ und auf diese Weise „in das Menschenherz“ zu pflanzen – also: moralisch wirksam werden zu lassen –, ist das Hauptanliegen der Aufklärungsliteratur.

Der „kraftvolle Kampf“ der Leidenschaften mit den wissenschaftlichmoralischen Wahrheiten bleibt auch in der Folge ein zentraler Punkt von Schillers dramaturgischen Konzepten – wie sich besonders seinen theoretischen Schriften zur Tragödie ablesen lässt. Schillers erste dramentheoretische Schrift, die Rede „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“, hat nicht nur eine häufig zitierte Formel in die Welt gesetzt: unzählige Dinge sind seitdem, vor allem vom Feuilleton, als „moralische Anstalt“ bezeichnet worden; sie gibt auch, genau besehen, das Leitmotiv für alle späteren tragödientheoretischen Überlegungen Schillers vor. Denn eine „moralische Anstalt“ wird Schillers Theater, mindestens in der Theorie, immer bleiben – freilich nicht in dem Sinne, wie er noch Gottsched vorschwebte: dass die Tragödie tatsächlich eine konkrete Moral zeige (indem sie einen moralischen Satz illustriere), aber doch in dem Sinne, dass der Zusammenhang zwischen dem Handeln und den Prinzipien für das Handeln immer höchste Priorität behält. In diesem Sinne ist Schillers Tragödientheorie immer mindestens die Theorie einer ethischen Anstalt geblieben. Ihre Leitfrage, wie Freiheit unter den Bedingungen der Unfreiheit möglich ist, ist eine durch und durch aufklärerische. Dabei verabschiedet sich Schiller dann, zumindest vordergründig, von dem Modell einer entmündigenden Beeinflussung des Zuschauers, wie sie eines Franz Moor würdig gewesen ist.

In allen tragödientheoretischen Aufsätzen Schillers, die in den Jahren 1792–1794 in seiner Zeitschrift „Neue Thalia“ erschienen (sowie dem 1801 erschienenen, wohl früher entstandenen „Ueber das Erhabene“), geht es um die Frage der Wirkung des in der Tragödie dargestellten Leidens auf den Zuschauer. Aus der Beobachtung, dass der Zuschauer nicht nur, was für Lessing das entscheidende Moment gewesen ist, Mitleid mit den leidenden Protagonisten empfindet, sondern auch ein ästhetisches Vergnügen an der Darstellung des Leidens selbst hat, leitet er eine spezifische Leistung der Tragödie ab. Dabei soll nicht, wie bei Gottsched, die Tragödie zur bloßen Illustration eines moralischen Satzes degradiert werden; denn dieser Mechanismus erregt kein sinnliches Vergnügen beim Zuschauer – im Gegenteil, dieser fühlt sich bevormundet, in seiner Freiheit eingeschränkt.

Das Vergnügen an tragischen Gegenständen kann aber nicht, im Anschluss an Kants Bestimmung der Wahrnehmung des Schönen, als ‚interesseloses‘ „Wohlgefallen“38 an der Schönheit einer Tragödie bestimmt werden; denn Schiller stimmt mit Kant überein, dass der Eindruck der Schönheit eines Gegenstands von dessen innerer Zweckmäßigkeit erweckt wird: Wohlgefallen an der ‚in sich selbst vollendeten‘, zweckmäßigen Einrichtung des Schönen resultiert in einem ‚freien‘ Vergnügen des Betrachters. Menschliches Leiden aber ist zweckwidrig, weil es der Bestimmung des Menschen zu widersprechen scheint – es sei denn, es erfüllte einen höheren Zweck als denjenigen der bloßen Existenz des Menschen. Und das ist genau der archimedische Punkt der Argumentation Schillers, dem es ganz wesentlich darum geht, den Menschen nicht materialistisch als organischen Zusammenhang zu begreifen (dann eben wäre dessen [Selbst-]Erhaltung der höchste denkbare Zweck), sondern als Träger höherer Ideen – wie derjenigen der Freiheit.

Auf diese Weise wird das Vergnügen an einen höheren Zweck gekoppelt: einen moralischen. Im Anschluss an Kant stellt Schiller fest, dass sich die wirkliche Macht der Sittlichkeit erst dann beweist, wenn sie unter Druck gerät, dass also „das höchste Bewußtseyn unsrer moralischen Natur nur in einem gewaltsamen Zustand, im Kampfe, erhalten werden kann“.39 Indem die Tragödie den Sieg der Tugend gerade im Moment ihrer Bedrohung zeigt (und dies meist noch unter Aufopferung der körperlichen Unversehrtheit oder sogar des Lebens des Helden selbst), erregt sie beim Zuschauer ein Vergnügen an der darin sichtbar werdenden Macht der Moral. Das Vergnügen erwächst aus der Verdeutlichung eines moralischen Siegs und ist daher ein „Mittel zur Sittlichkeit“.40 Indem Schiller aber die Sittlichkeit des Zuschauers befördern will, erweist er sich als Fortsetzer aufklärerischer Tragödienprogramme. Zwar will er nicht einfach einen moralischen Gehalt versinnlichen (wie Gottsched) und er will auch nicht auf dem Weg über die Affekte eine moralische Wirkung erreichen (wie Lessing); aber um eine moralische Wirkung geht es ihm allemal.

Dass es Schiller vor allem darum geht, den Menschen als moralisch souveränen, also als freien, ins Zentrum seiner Überlegungen zur Tragödienwirkung zu setzen, lässt sich bereits daran ablesen, dass er dazu den Begriff des Erhabenen verwendet. Dieser hat in der Ästhetik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allgemein Konjunktur und dient dazu, den besonderen Reiz, den nicht im üblichen Sinne schöne, sondern vor allem beeindruckende Gegenstände erwecken, zu beschreiben. In Kants „Kritik der Urteilskraft“ wird Erhabenheit als Form einer souveränen Reaktion der subjektiven Vernunft auf überwältigende Sinneseindrücke beschrieben: Es entsteht zunächst eine „Unlust“, weil man sich sinnlich überwältigt fühlt; diese Unlust ermöglicht aber wiederum eine lustvolle Erfahrung: Gegenüber den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft, die z.B. das Zustandekommen der Eindrücke erklären kann, erweist sich die Natur zuletzt immer als beschränkt; im Bereich des Übersinnlichen, jenseits dessen, was sinnlich wahrgenommen wird, zeigt sich stets, „daß wir reine selbständige Vernunft haben“.41 „Erhaben“ heißt für Schiller dementsprechend „ein Objekt, bey dessen Vorstellung unsre sinnliche Natur ihre Schranken, unsre vernünftige Natur aber ihre Ueberlegenheit, ihre Freyheit von Schranken fühlt; gegen das wir also physisch den Kürzern ziehen, über welches wir uns aber moralisch d.i. durch Ideen erheben“.42

Die Handlung der Tragödie nun soll keine materiellen Gegenstände, sondern Vorgänge, denen der Mensch sinnlich unterliegt, die er sich aber geistig unterwerfen kann, zeigen – und sie soll vor allem diesen Prozess vorstellen und zur Bewunderung, aber auch zur Nachahmung empfehlen. Damit sich der Effekt des „Pathetischerhabenen“, der für die Tragödie einschlägigen Spezifizierung des Erhabenen, einstellt, darf nicht bloß Leiden vorgestellt werden, das im Zuschauer ein moralisch positiv wirksames Mitleid erweckt (wie dies schon Lessing und wohl auch bereits Aristoteles vorsahen); gegenüber Lessing reduziert Schiller das Mitleid (wieder) auf ein reines Mit-Leiden, an dem er nicht wirklich interessiert ist. Die moralische Funktion, die das Mitleid bei Lessing hat, überträgt er dem Moment des Erhabenen. Daher geht es ihm um die „moralische Selbstständigkeit“ des Helden – und zwar „im Leiden“.43 Den Helden der Tragödie macht deswegen nicht etwa Unempfindlichkeit gegenüber dem Leiden aus, sondern „moralischer Widerstand gegen das Leiden“.44 Und der Zuschauer wird „durch die objektive Darstellung der erhabenen Freiheit des Helden dazu herausgefordert […], sich seine eigene subjektive Gemütsfreiheit spontan bewußt zu machen“.45

Konkret bedeutet das, dass dem Menschen zuweilen, wenn die „Naturkräfte“ übermächtig werden, nichts anderes übrigbleibt, als „eine Gewalt, die er der That nach erleiden muß, dem Begriff nach zu vernichten“, was wiederum letztlich bedeutet, sich einer solchen Gewalt aus moralischen Gründen „freywillig [zu] unterwerfen“.46 Da es der Bestimmung des Menschen einerseits widerspricht, etwas zu müssen – denn die Freiheit, sich zu weigern, unterscheidet ihn gerade vom Tier47 -, es andererseits aber Zwänge gibt, denen man sich schlechterdings nicht entziehen kann, zieht Schillers Tragödienpoetik den Schluss, dass in diesen Fällen die Freiheit letztlich darin besteht, zu wollen, was man muss.

Wenn man aber die Frage stellt, warum es eigentlich moralisch besser ist, sich einer überwältigenden physischen Gewalt „freywillig“ zu fügen als sich etwa mit körperlicher Gegengewalt zu wehren, dann ist man auf moralphilosophische Erwägungen verwiesen; diese Frage kann nicht innerhalb der Ästhetik beantwortet werden. Dass die Tragödie, wie alle anderen poetischen Gattungen auch, ihre Letztbegründung aus der Moralphilosophie erhält, ist aber ein Charakteristikum der Aufklärungsästhetik.

Hinter diese fällt Schillers Theorie aber in einem anderen Punkt sogar noch zurück: Wenn er offen davon spricht, dass es letztlich um „Resignation in die Nothwendigkeit“48 geht, dann verweist das direkt auf den Neostoizismus des Barockzeitalters zurück: Dessen Ziel war weniger die Souveränität der Vernunft als vielmehr die „Einübung von geistigen Überlebensstrategien“49 angesichts einer von übermenschlichem Leid (vor allem in Folge des Dreißigjährigen Kriegs) geprägten Welt. Wie Lessing auch will Schiller im Zuschauer durch die Darstellung auf der Bühne eine „Fertigkeit“ erwecken; aber nicht, indem das Mitleid des Zuschauers in eine Tugend transformiert wird, sondern in Form einer „Inokulation“, einer Impfung, wie der Mediziner Schiller mit einer medizinischen Metapher sagt.50 Der Zuschauer soll „einen resignativen Habitus ein[]üben“51, indem ihm die Unausweichlichkeit gewisser Zwänge als Anlass zum (bloß) moralischen Widerstand vorgestellt wird. Es werden „Techniken der Immunisierung gegen Schicksalsschläge“ vorgestellt und „Strategien des vernunftautonomen Widerstands“ eingeübt52, wobei wichtig ist, dass dieser „Widerstand“ sittlich-moralisch-ideell bleibt und sich nicht etwa tätlich äußert. Bei aller Betonung des Moments der Freiheit durch Schiller ist die Metapher der „Inokulation“ doch verdächtig: Zu Ende gedeutet reduziert sie den Zuschauer zum Impfling, zum Objekt einer souveränen Handlung anderer. Es droht also auch hier der Posasche Absolutismus der Vernunft.

Das ist aber nur die eine Seite des Dramatikers Schiller. Auf der anderen stehen die Dramen der folgenden, wenigen Lebensjahre, in denen es um ganz andere Probleme geht – nicht zuletzt immer wieder darum, dass eine instrumentelle Vernunft des Machterhalts den Menschen radikal reduziert. Damit folgen diese Dramen – „Wallenstein“, „Maria Stuart“, „Wilhelm Tell“ – einem ebenso aufklärungskritischen wie aufklärerischen Programm. Vor allem aber loten sie die Möglichkeiten der Gattung Tragödie aus, und damit verabschieden sie sich letztlich – indem sie einerseits implizit einer autonomen Bestimmung der Poesie zuarbeiten und andererseits ein realistischskeptisches Bild der Geschichte propagieren53 – vom optimistischen Programm der Aufklärung, das die Welt verbessern wollte, indem es sich anschickte, vor allem den einzelnen Menschen moralisch zu bessern.

 

 

   1 Vgl. dazu auch Michael Hofmann: Aufklärung. Tendenzen – Autoren – Texte,Stuttgart 1999, S. 46f.

   2 Vgl. zu Schillers Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“, die hier nicht betrachtet werden sollen, Hans-Jürgen Schings: Schiller und die Aufklärung, in:Friedrich Schiller, hg. von Hans Feger, Heidelberg 2006, S. 13–34; Rolf-Peter Janz:Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Schiller-Handbuch, hg. von Helmut Koopmann in Zusammenarbeit mit der Deutschen Schillergesellschaft Marbach, 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage, Stuttgart 2011, S. 649–666.

   3 Vgl. dazu Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde., München 2000,Bd. 1, S. 141–150.

   4 Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, hg. von Julius Petersen und Gerhard Fricke; seit 1948: hg. von Julius Petersen und Hermann Schneider; seit 1961: hg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel; seit 1992: hg. von Norbert Oellers, Weimar 1943ff. [fortan zitiert unter der Sigle ‚SW‘+Band- und Seitenzahl], Bd. 17: Historische Schriften. Erster Teil, hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 359–376, hier S. 375.

   5 Ebd., S. 366f.

   6 Ebd., S. 370.

   7 Friedrich Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, in: SW, Bd. 4: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, hg. von Edith Nahler und Horst Nahler, Weimar 1983, S. 9 (Vorrede).

   8 Ebd.

   9 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Ders.: Werke, in Zusammenarbeit mit Karl Eibl hg. von Herbert G. Göpfert, 8 Bde., München 1970ff., Bd. 4: Dramaturgische Schriften, hg. von Karl Eibl, München 1973, S. 229–720, hier S. 374.

  10 Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?,in: SW, Bd. 20: Philosophische Schriften I, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 87–100, hier S. 91.

  11 Ebd., S. 93.

  12 Vgl. Hofmann [Anm. 1], S. 114.

  13 Alt [Anm. 3], Bd. 1, S. 579.

  14 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, in: Ders.: Werke [Anm. 9], Bd. 2:Trauerspiele. Nathan. Dramatische Fragmente, hg. von Gerd Hillen, München 1971,S. 205–347, hier S. 274 (III, 5).

  15 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in:Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, S. 17–206.

  16 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie,Frankfurt a. M. 1984.

  17 Hans Richard Brittnacher: Die Räuber, in: Schiller-Handbuch [Anm. 2],S. 344–372, hier S. 353.

  18 Friedrich Schiller: Die Räuber. Ein Schauspiel, in: SW, Bd. 3: Die Räuber, hg. von Herbert Stubenrauch, Weimar 1953, S. 1–137, hier S. 136 (V, 2).

  19 Klaus R. Scherpe: Die Räuber, in: Schillers Dramen. Neue Interpretationen, hg.von Walter Hinderer, Stuttgart 1979, S. 9–36, hier S. 15.

  20 Anton Pichler: Chronik des Großherzoglichen Hof- und Nationaltheaters in Mannheim, Mannheim 1879, S. 67f., zit. nach Norbert Oellers: Die Räuber, in: Erstlinge. Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Musil, Benn, Kafka. Kleist-Archiv Sembdner in Verbindung mit den Herausgebern der Brandenburger Kleist-Ausgabe, hg. von Günther Emig und Peter Staengle, Heilbronn 2004, S. 26–40, hier S. 32 (Heilbronner Kleist-Kolloquien 3).

  21 Harald Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant. Aufklärung und Idealismus, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56, 1982, S. 135–157, hier S. 139.

  22 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1993, S. 7, Fn.* (Vorrede zur ersten Auflage).

  23 Ebd., S. 143.

  24 Vgl. ebd.

  25 Dieter Borchmeyer: Kritik der Aufklärung im Geiste der Aufklärung: Friedrich Schiller, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, S. 361–376, hier S. 365.

  26 Vgl. Steinhagen [Anm. 21], S. 153.

  27 Ebd., S. 139.

  28 Friedrich Schiller: Dom Karlos (Erstausgabe 1787), in: SW, Bd. 6: Don Karlos, hg.von Paul Böckmann und Gerhard Kluge, Weimar 1973, S. 5–340, hier S. 191 (III, 10).

  29 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Kants Werke:Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, IX Bde., Berlin 1968, Bd.VIII: Abhandlungen nach 1781, Berlin 1968, S. 33–42, hier S. 35.

  30 Vgl. Georg Ruppelt: Schiller im nationalsozialistischen Deutschland. Der Versuch einer Gleichschaltung, Stuttgart 1979, S. 113–115.

  31 Friedrich Schiller: Briefe über Don Karlos, in: SW, Bd. 22: Vermischte Schriften,hg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 137–177, hier S. 151.

  32 Ebd., S. 154.

  33 Ebd., S. 170.

  34 Ebd., S. 172.

  35 Vgl. Borchmeyer [Anm. 25], S. 362.

  36 Alt [Anm. 2], Bd. 1, S. 464.

  37 Schiller [Anm. 31], S. 168.

  38 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, hg. von Karl Vorländer, Hamburg 1993,S. 40 (§ 2). Kant spricht genauer vom „Wohlgefallen […] ohne alles Interesse“.

  39 Friedrich Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen,in: SW, Bd. 20 [Anm. 10], S. 133–147, hier S. 130f.; vgl. dazu Helmut Koopmann:Kleinere Schriften nach der Begegnung mit Kant, in: Schiller-Handbuch [Anm. 2],S. 611–624, hier S. 611f.

  40 Schiller [Anm. 39], S. 135.

  41 Kant [Anm. 38], S. 103 (§27).

  42 Friedrich Schiller: Vom Erhabenen, in: SW, Bd. 20 [Anm. 10], S. 171–195, hier S. 171.

  43 Ebd., S. 195.

  44 Friedrich Schiller: Ueber das Pathetische, in: SW, Bd. 20 [Anm. 10], S. 196–221,hier S. 200.

  45 Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, Berlin 2004, S. 167.

  46 Friedrich Schiller: Ueber das Erhabene, in: SW, Bd. 21: Philosophische Schriften II, unter Mitwirkung von Helmut Koopmann hg. von Benno von Wiese, Weimar 1963, S. 38–54, hier S. 39.

  47 Ebd., S. 38.

  48 Ebd., S. 40.

  49 Alt [Anm. 2], Bd. 2, S. 96.

  50 Schiller [Anm. 46], S. 51.

  51 Carsten Zelle: Über das Erhabene (1801), in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Matthias Luserke-Jaqui unter Mitarbeit von Grit Dommes, Stuttgart/Weimar 2005, S. 479–490, hier S. 486.

  52 Alt [Anm. 2], Bd. 2, S. 96.

  53 Vgl. Norbert Oellers: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst, Stuttgart 2005, S. 382.