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»Commander Perkins, ja?«
Das kantige Gesicht eines gut aussehenden Mannes war auf dem Schirm zu sehen. Es war ein angenehmer Anblick, eine schöne Abwechslung nach all den verhärmten Gesichtszügen, die sie normalerweise zu sehen bekam. Perkins war der Inbegriff des markigen Offiziers und hatte zudem auch noch strahlende blaue Augen. Ark gestattete sich, diesen Anblick einige Momente lang zu genießen.
Auch Captain Yin von der Achat war zugeschaltet. Die Korvette hatte ebenfalls ein Bergungsteam nach unten geschickt und ließ sich nun von dem aus der Krankenstation entlassenen Depotkommandanten auf den neuesten Stand bringen. Die strahlenden Augen des Commanders täuschten nicht darüber hinweg, dass er ein Opfer dieses Krieges war. Perkins’ rechter Arm fehlte, er war blass und saß unsicher auf seinem Sessel, das erkannte man auch über die Kameras. Man hatte ihn stabilisiert und die Wunde versorgt, und der Schock war abgeklungen. Sobald Frieden herrschte, würde er eine Prothese oder eine Gentherapie bekommen, die ihm einen neuen Arm wachsen lassen würde. Bis dahin würde er Phantomschmerzen und eine sehr unangenehme Erinnerung haben, für die es keine Prothese gab. Dass er dennoch wieder Dienst tat, konnte nur auf seine Beharrlichkeit zurückzuführen sein. Normalerweise würde ein verantwortungsbewusster Arzt jemanden in seinem Zustand in der Krankenstation lassen und ihn wenn nötig mit Medikamenten ruhigstellen. Doch die Verletzung war nun schon einige Tage alt. Perkins war gleich zu Beginn des Angriffs niedergestreckt worden. Jedenfalls war damit klar, dass er so handelte, wie er aussah. Markig. Ein Glücksfall.
»Captain Ark, ich freue mich. Captain Yin, auch Sie heiße ich willkommen. Entschuldigen Sie mein Aussehen und das meiner Einrichtung. Danke für Ihre Hilfe, sie kam im richtigen Moment. Wir haben erhebliche Schäden erlitten und arbeiten rund um die Uhr an der Wiederherstellung unserer Anlagen. Dass wir all das überlebt haben, ist ein kleines Wunder. Es war, das darf ich Ihnen versichern, sehr anstrengend.«
Ark schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln und hoffte, dass es auch so ankam.
»Commander, Sie sehen aus, als könnten Sie ein wenig Ruhe gebrauchen.«
Es kam an. Perkins Miene hellte sich auf.
»Das stimmt, und ich werde sie mir beizeiten gönnen.«
Ark nickte ihm zu. »Dann sollten wir darüber reden, wie sich das Depot für unsere Hilfe revanchieren kann. Es tut mir leid, dass ich Sie sofort damit überfallen muss, aber unsere Abreise war etwas … holprig.«
Perkins lächelte freudlos. »Heutzutage ist alles holprig. Die verlorene Schlacht … Ich konnte es gar nicht fassen. Bevor die Hyperrelais ausfielen, war das die letzte Meldung, die noch bei mir ankam. Welch eine Katastrophe. Und kurz danach tauchten die Korvetten auf.« Er hielt inne. »Captain, das kann kein Zufall sein. Ich möchte sagen, dass der Feind fest damit gerechnet hat, diese Schlacht zu gewinnen.«
»Und zu Recht. Wir scheiterten nicht an der gegnerischen Überlegenheit in Ausrüstung und Taktik, wir scheiterten an Verrat.«
Perkins nickte langsam. »Ich habe es befürchtet und es tut mir weh, das aus Ihrem Mund zu hören.« Er holte tief Luft. »Ich bin mir sicher, dass Sie beide eine Liste vorbereitet haben, deren Inhalt meine Magazine weitgehend leeren wird.« Und ehe jemand etwas sagen konnte, beeilte er sich hinzuzufügen: »Wozu sie ja auch gedacht sind. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Ihre Schiffe wiederherzustellen. Das ist das Mindeste, was ich nach allem, was geschehen ist, tun kann.«
Ark wischte mit der Hand über einen ihrer Schirme.
»Wir haben Listen, und jetzt haben Sie sie auch.«
Perkins schaute zur Seite, zweifellos auf einen anderen Schirm, und verbrachte einige Sekunden mit einem Scrollvorgang. Seine KI hatte sicher sofort das Angebot mit der Nachfrage verglichen. Seine Reaktion erfreute Ark bereits, ehe er auch nur ein Wort sagte, denn er nickte und lehnte sich zufrieden zurück.
»Ich kann Ihnen zu siebenundachtzig Prozent helfen«, sagte er dann auch sofort und schien mit dieser Quote recht zufrieden zu sein. »Wir haben noch nicht zu allen Magazinen Zugang, aber je weiter wir mit den Aufräum- und Bergungsarbeiten vorankommen, desto eher werden wir alles liefern können. Ich habe Standardraketen im Überfluss, aber kaum spezialisierte Munition, und Ersatzteile für fast alle Ihre Belange. Ich kann die gewünschten Quantitäten nicht garantieren, daher die siebenundachtzig Prozent. Aber Sie bekommen alles, was ich dahabe.« Perkins hielt inne und fuhr dann vorsichtiger fort. »Das ist besser, als wenn es dem Feind in die Hände fällt. Ich will ehrlich sein: Sobald Sie fort sind, werden die Kolonialen zurückkommen. Wenn meine Vorräte futsch sind, habe ich keinen Grund mehr, meine Leute in Gefahr zu bringen. Ich werde kapitulieren, das kündige ich schon einmal an. Die Kriegsgefangenenlager der Kolonialen sind kein Zuckerschlecken, aber vielleicht kann ich verhandeln und wir können hier interniert werden, auf unserem Territorium.«
»Ich habe gesehen, dass Sie zwei Schiffshüllen in Ihrem Manifest aufgeführt haben«, sagte Captain Yin. »Ich habe es mir gerade angeschaut. Unweit von hier in einem Asteroidenfeld, gut verborgen. Zwei Zerstörer.«
»Es sind drei«, korrigierte ihn Perkins. »Eine Korvette ist direkt an einem der größeren Schiffe befestigt. Es handelt sich um ausgeschlachtete Schiffe, die bereits vor einiger Zeit außer Dienst gestellt wurden. Sie sollten in Notlazarette umgebaut werden, dazu kam es aber nicht mehr. Unsere kolonialen Freunde haben nicht einmal Raketen auf sie abgefeuert. Die sind einfach nur groß und leer und stören. Warum?«
Yin sah Ark an, und diese verstand die Bedeutung des Blickes. Als sie während des Anflugs die energetisch toten Ruinen geortet hatten, war ihnen beiden die gleiche Idee gekommen.
»Ich kann mir vorstellen, dass uns die Hüllen noch helfen können, Commander«, sagte Ark. »Ich bitte um die Erlaubnis, ein Technikerteam an Bord schicken zu dürfen. Und ich bräuchte auch noch einige Ihrer Vorräte für … ein kleines Experiment.«
»Erlaubnis erteilt. Ah.« Plötzliches Verständnis machte sich auf dem Gesicht des Commanders breit. »Ich glaube, ich weiß, was Sie vorhaben. Solange uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt …«
»Wir werden tun, was wir können, um das zu vermeiden.«
»Es tut mir sehr leid, dass ich nicht mehr für Sie tun kann, Captain. Unsere Kapitulation ist unausweichlich, so sehr mich das auch schmerzt.«
»Ich mache Ihnen keine Vorwürfe«, sagte Ark. »Die Schlacht war eine Katastrophe, und die Flotte befindet sich in der Auflösung. Dass Sie so lange durchgehalten haben, um uns die Flucht und das weitere Überleben zu ermöglichen, ist heldenhaft genug. Man muss schon für etwas Sinnvolles kämpfen. Ich werde Ihr Verhalten in meinem Bericht sehr lobend erwähnen, Commander. Egal wie es ausgeht, wir sind in Gedanken bei Ihnen. Gleichzeitig hoffe ich auf Ihr Verständnis. Wir können nicht bleiben, es wäre ein Tod auf Raten. Die Flotte wird sich, so weit möglich, am Hauptquartier am Wega Terminus neu formieren. Wenn wir nur Kontakt hätten …«
Perkins schüttelte bekümmert den Kopf.
»Das Hyperfunkrelaisnetz wurde umfassend sabotiert, ohne Zweifel als Teil des verräterischen Plans, der die Flotte ins Unglück gestürzt hat. Wir bekommen auch keine Meldungen mehr durch«, sagte Perkins. »Die Zerstreuungsrate ist ohne Relais zu hoch für wirklich große Entfernungen. Die gegnerischen Korvetten haben dann als Erstes die Satelliten vernichtet, bevor sie sich uns gewidmet haben.«
»Und wahrscheinlich irgendwo gut getarnt eigene ausgesetzt, auf die wir keinen Zugriff haben«, ergänzte Yin. Das war eine vorhersehbare Taktik, gegen die sie nichts in der Hand hatten.
»Wir werden also mehr oder weniger blind weiterfliegen und auf dem ganzen Weg sehr vorsichtig sein müssen«, schloss Ark. »Was waren die letzten Nachrichten, die Sie aus dem Zentrum erhalten haben, Perkins?«
Der Mann hatte nichts Hoffnungsvolles anzubieten.
»Klare Hinweise auf den Ausbruch von Feindseligkeiten im ganzen Gebiet der Republik. Entweder direkte Angriffe der Kolonialen oder vorbereitete Aufstände durch Infiltratoren und Kollaborateure, mindestens Anschläge von Schläfern und anderen Agenten. Ich kann mir da leider eine ganze Bandbreite an Aktionen vorstellen. Ich muss zu meiner Schande zugeben, dass auch wir zwei dieser Agenten hier im Depot hatten. Wir haben sie durch Zufall bei einem Sabotageversuch erwischt. Zu meinem großen Bedauern ist der Trakt, in dem die Strafzelle liegt, beim Angriff weitgehend zerstört worden. Ich glaube nicht, dass sie uns noch Auskunft geben können.«
Perkins war absolut kein Bedauern anzusehen, und etwas anderes hatte Ark auch nicht von ihm erwartet.
»Jedenfalls beneide ich Sie nicht um die Reise«, schloss er. »Es wird hoch hergehen in der Republik, selbst dann, wenn die Sicherheitsdienste und das Militär die Sache wieder unter Kontrolle bekommen. Sie müssen auf alles gefasst sein, Ark.«
»Das ist leichter gesagt als getan.«
»Aber mit einigermaßen wiederhergestellten Schiffen funktioniert es besser als ohne«, ergänzte Yin. »Für uns ist eine Frage am wichtigsten: Haben Sie eine neue Hyperspule für die Proxima
Perkins lächelte und nickte in Richtung seines zweiten Schirms. »Die Anforderung stand ganz oben und war rot unterlegt. Sie war nicht zu übersehen. Und ja, wir haben eine. Sobald wir so weit sind, werden wir sie hübsch einpacken und hochschicken. Das wird unsere erste Amtshandlung sein.«
»Dafür bin nicht nur ich Ihnen sehr dankbar«, sagte Ark, und ihr Lächeln resultierte aus echter Freude, nicht aus dem üblichen Sarkasmus, und das damit verbundene Gefühl war eine angenehme Abwechslung.
Sie tauschten noch einige Worte aus, um den Abschied hinauszuzögern. Ark hatte ein schlechtes Gewissen. Perkins unterdrückte in seinem Auftreten jede Hoffnung, doch noch gerettet zu werden. Das war ein schwieriges Gespräch, und beide versuchten, sich nicht gegenseitig zu verletzen.
Nach einigen weiteren Floskeln trennte der Commander die Verbindung. Für ihn gab es viel Arbeit und viel Verantwortung, verbunden mit der Perspektive auf baldige Kapitulation, ein Schicksal, das Ark für sich selbst hinauszögern wollte. Yin blieb in der Leitung. Das Lächeln, das er Perkins geschenkt hatte, verblasste dabei.
»Drei Korvetten bei Doros«, sagte er. »Wie Perkins schon meinte: Das heißt, dass sie ohne Zweifel kurz nach dem Ausbruch der Schlacht oder sogar schon vorher entsandt wurden. Drei Korvetten für ein weitgehend unverteidigtes Depot, das sich nur durch einen glücklichen Umstand als wehrhafter erwies, als man sich denken konnte. Da fragt man sich, was die Kolonialen noch so in der Hinterhand haben. Und wie viel von der Republik noch übrig sein wird, die wir auf dem Weg zur Proxima-Station durchfliegen werden.«
Ark nickte. »Es wäre wohl besser, wenn wir diese Art von Überlegungen erst mal für uns behalten. Die Moral an Bord der Proxima ist prekär genug. Darüber hinaus …« Unwillkürlich senkte sie die Stimme. »… haben wir mit großer Wahrscheinlichkeit einen Verräter an Bord. Yin, wie ist die Lage auf der Achat
»Ich habe keine Hinweise auf einen Maulwurf, aber da die Gänge meines Schiffes voller Geretteter stecken, kann ich natürlich für nichts garantieren. Ich halte die Augen auf, aber …« Er zuckte mit den Achseln und musste nichts weiter sagen. Wie sollten sie etwas erkennen, das den dafür ausgebildeten und erfahrenen Spezialisten in den letzten Jahren ganz offenbar so gründlich entgangen war? Die Katastrophe der großen Schlacht hatte eine Menge mit Verrat zu tun – und mit dem vollständigen Versagen der Abwehrdienste.
»Wir erstatten uns gegenseitig Bericht und hören uns an, was Vara bei mir an Bord herausfindet. Ich glaube nicht, dass die Verräter untereinander gut vernetzt sind. Wer hier an Bord kam, der kam durch Zufall. Wenn die Kolonialen schlau waren …«
»… und leider sind sie schlau«, warf Yin düster ein. »Arschlöcher, aber schlau.«
»… werden sie ihre Saboteure und Agenten maximal in Zellen organisiert haben, um die Aufdeckungsgefahr unter Kontrolle zu halten. Einen zu schnappen, wird uns kaum dabei helfen, Rückschlüsse auf seine Kameraden zu ziehen.«
»Mir bereitet der Gedanke, jemanden verhören zu müssen, auch keine Freude. Ich traue mir in einer solchen Situation selbst nicht. Es könnte sein, dass mir mehr als nur die Hand ausrutscht«, sagte Yin düster. Ark kommentierte das nicht. Sie verstand die tiefe Frustration ihres Kameraden, und sein Bedürfnis nach Rache für all die Demütigungen. Leider war Rachsucht kein guter Ratgeber, wenn man sich auf der Flucht befand. Und als etwas anderes konnte man ihre Reise trotz der Verschnaufpause kaum beschreiben.
»Schicken Sie auch Leute auf die alten Schiffshüllen und Wracks.«
»Das mache ich.«
»Mit etwas Glück reicht es, um uns aus dem Staub zu machen.«
»Es muss zeitlich passen.«
»Darauf achten wir.«
Als der Bildschirm dunkel wurde und Yin sich wieder seinen Aufgaben widmete, vermied Ark es, in Grübelei zu verfallen. Das würde zu nichts führen und war ebenso unproduktiv wie in endlosen Konferenzschaltungen Probleme so lange zu besprechen, bis sie einem wie Sand zwischen den Finger hindurchrannen und man nicht mehr wusste, wo man eigentlich noch zugreifen sollte.
Sie wollte nicht grübeln. Grübelei war ein Fluch, der intelligente Menschen davon abhielt, wirklich nachzudenken.
Wie gut, dass das Schicksal ähnlicher Ansicht war und ihr keine weitere Gelegenheit einräumte. Simeon wandte sich an sie, und in seiner Stimme lag exakt die unterdrückte Spannung, die ihre sofortige Aufmerksamkeit weckte.
»Captain, ich glaube, sie sind da.«
Das war keine korrekte Meldung, aber Ark wies den jungen Mann nicht zurecht. Der Kontext war klar. Die Ortungsangaben auf dem Kartentank waren es ebenfalls. Vor einigen Stunden war am Sprungpunkt Besuch angekommen. Drei Signale waren gut voneinander zu unterscheiden, und es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht ihre Verfolger waren. Noch war bezüglich ihres Kurses nichts zu erkennen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mit den drei noch im System herumkurvenden Korvetten verbünden würden, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, war extrem hoch.
Und die Zeit wurde mal wieder viel zu knapp.
In diesem Moment wünschte sich Zadiya Ark, Zeit fürs Grübeln zu haben. Das schien ihr die angenehmere Alternative zu sein.