13
»Sie können doch nicht …«
»Ich kann.«
Vara hob die Waffe aus matt schimmerndem, schwarzem Metall, die so gefährlich war, wie sie wirkte. Der Aufsatz auf der Mündung, das wusste von Kampen ganz genau, reduzierte die Mündungsgeschwindigkeit. Man benutzte ihn für Kämpfe innerhalb von Raumschiffen, um Kollateralschäden niedrig zu halten. Vara war nicht allein und trug eine Kampfrüstung, wie sie für interne Schiffsauseinandersetzungen üblich war. Sie war ebenfalls schwarz und schimmernd und auf der Brust, den Schultern, den Ober- und Unterarmen sowie den Oberschenkeln und Schienbeinen mit modularen Panzerplatten versehen. Er hatte den Helm geöffnet, sah von Kampen an, und seine beiden Begleiter starrten auch nur. Es war Furcht einflößend. Ein Befehl von Vara, und diese Marionetten würden alles tun, was dieser Irre anordnete, einfach alles. Sie waren gehorsame Idioten, die sich keine Gedanken über Konsequenzen machten und deren Verständnis von Pflicht keinen Raum für moralische Abwägung ließ. In von Kampens Bauch ballte sich eine kalte, intensive Ablehnung zusammen, und doch wusste sie, dass ihr Protest völlig sinnlos war.
Mein Gott, sie verstand sogar, warum das so sein musste.
Das machte es für sie nicht leichter.
»Dort sind Patienten.«
»Deswegen komme ich vorher zu Ihnen, Doktor. Halten Sie ein Notfallteam bereit.«
»Er wird sich nicht wehren.«
»Tatsächlich?«
Vara ließ diese Frage in der Luft hängen. Sie war gleichzeitig ein Versprechen und eine Drohung. Von Kampen bildete sich ein, dass da sogar ein wenig Sehnsucht in seiner Stimme lag. Das würde passen. Endlich gab es jemanden, den er töten konnte. Sie würden einen Feind weniger haben, und Vara konnte seine Pflicht vorschieben, um seinen Durst nach Rache und Blutvergießen zu stillen. Möglicherweise tat sie ihm damit Unrecht, aber sie sonnte sich in diesem Abscheu, den sie empfand, denn er war alles, was sie noch hatte. Gegen Varas Plan wie auch gegen das Eintreten möglicher, blutiger Konsequenzen, hatte sie absolut nichts in der Hand.
Sie durfte nachher nur die Blutungen stillen.
Wenn das noch etwas nutzen würde.
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, sagte sie leise. Vara bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Er vollführte eine Winkbewegung, und die drei Soldaten marschierten auf den Raum zu, in dem die Zielperson lag.
Vara klopfte nicht an. Er hatte offensichtlich keine Zeit für falsche Höflichkeit. Die Tür glitt zischend auf. Der Raum beherbergte siebzehn Liegen mit siebzehn Verwundeten, die alle noch nicht wieder dienstfähig waren. Sie schreckten auf. Einige rissen die Augen weit auf, andere wirkten beinahe schuldbewusst. Sie zogen ihre Decken nach oben, als ob sie ihnen Schutz bieten würden. Siebzehn Augenpaare folgten den drei Schwerbewaffneten, die zielstrebig in den Raum marschierten, nach allen Seiten sicherten und dabei aufgrund ihrer mittlerweile geschlossenen Rüstungshelme abwägend, starr und unnahbar wirkten.
»Was …?«, fragte einer der Patienten. Er erhielt keine Antwort, aber die Taten sprachen für sich.
Von Kampen hielt sich zurück. Der Medoroboter, der sie begleitete – eine der brandneuen Einheiten aus dem Depot –, stand hinter ihr und hielt sich bereit einzugreifen, falls Vara die Geduld oder sein Ziel die Fassung verlieren sollte. Sie spürte die Anspannung. Sie erwartete das Schlimmste.
»Aufstehen!«
Die drei Soldaten waren an Hectors Liege angekommen. Der Mann sah Vara sehr gelassen an und nickte, als hätte er diesen Moment vorausgesehen. Er hob beide Hände. In seinem Krankenhemd und mit seinen Verbänden wirkte der Mann absolut nicht gefährlich.
»Wie haben Sie es herausgefunden?«
Er erhielt keine Antwort auf seine Frage, aber von Kampen musste anerkennen, dass sie so gut wie ein Geständnis war. Vara hatte recht gehabt. Sie gab es nur ungern zu, aber er hatte recht gehabt.
Dann knackte es.
Von Kampen sprang mit dem Injektor in der Hand nach vorne. Hector sank nach hinten. Auf seinem Gesicht prangte ein irres Lächeln, als sein ganzer Körper zu zittern begann. Das Knacken war aus seinem Mund gekommen. Er hatte etwas darin Verborgenes kräftig durchgebissen.
Auch davor hatte Vara gewarnt. Damit hatte er ein zweites Mal recht behalten.
»Halten Sie ihn fest!«
Vara trat vor und drückte Hector an den Schultern in die Matratze. Der Körper des Mannes zuckte unkontrolliert, dann trat weißer Schaum vor seinen Mund, und seine Augäpfel drehten sich im Kopf hoch. Der Injektor zischte. Es gab verschiedene Selbstmordgifte, und von Kampen hatte sich nur mit den gängigen befasst. Ihr Breitbandgegenmittel war daher möglicherweise nicht so wirksam wie ein direkt auf ein Gift abgestimmtes Medikament. Aber sie hatte jetzt wirklich keine Zeit für eine Laboranalyse.
»Der Roboter.«
Vara machte der Maschine Platz. Diese sicherte den Patienten. Kanülen fuhren in die Blutbahnen des Agenten, weitere Behandlungsschritte wurden eingeleitet. Kreislauf, Gehirntätigkeit, alles wurde gemessen. Sich ständig verändernde Werte tanzten über den Schirm. Hectors Stoffwechsel war in hellem Aufruhr. Er kämpfte mit sehr widersprüchlichen chemischen Botschaften: Leben und Sterben, Feuer und Wasser, heiß und kalt. Das war belastend, egal wie das Ringen enden würde.
»Ich gebe ihm eine zweite Injektion«, kündigte die Ärztin an. »Ich glaube, die erste Dosis war zu schwach.«
Der Injektor zischte erneut. Das Zittern und Zucken von Hectors Körper hatte nachgelassen. War der Kampf bereits entschieden? Der Mann stöhnte und sagte dann etwas Unverständliches. Von Kampen wollte es gar nicht wissen. Nachher würde man sie deswegen noch verhören. Sie hatte keine Lust, ausführlich mit Vara zu sprechen. Wenn das hier vorbei war, wollte sie ihn möglichst nie wiedersehen.
»Die Werte stabilisieren sich«, sagte sie mit vorsichtiger Hoffnung. Hector atmete schwer, aber regelmäßig. Schweiß stand auf seiner Stirn. Den Mund hatte der Medoroboter gesäubert, doch die Augäpfel rollten immer noch hin und her. Er war nicht ganz im Delirium, aber auch nicht ganz da. Sein Bewusstsein war ein Opfer der medikamentösen Auseinandersetzung in seinem System.
Dann zuckte er ein weiteres Mal zusammen. Der Medoroboter stieß ein Warnsignal aus. Der automatische Defibrillator sprang an und jagte einen wohldosierten Stromstoß durch Hector. Der Körper des Vergifteten erzitterte. Der Roboter massierte sein Herz und führte Sauerstoff zu. Es war eine perfekte Komposition aus lebensrettenden Maßnahmen, doch von Kampen hatte bereits das Gefühl, dass es nichts nutzen würde.
Eine Minute verstrich, dann eine weitere. Der Defibrillator knisterte ein zweites Mal. Der Roboter war unermüdlich und hatte den einprogrammierten Grenzwert seiner Bemühungen noch nicht erreicht. Aber es kam so, wie die Ärztin es befürchtet hatte.
Das Gift war zu stark.
Hector war nicht mehr zu retten.
Mit einer müden Handbewegung bedeutete sie dem Roboter, seine Bemühungen einzustellen. Die Maschine folgte der Anweisung. Für einen Moment herrschte erschrockene Stille im Raum. Patienten wie Soldaten starrten auf den nun ganz schlaff daliegenden Leichnam. Befragen würde ihn niemand mehr.
»Er hat ein Signal gesendet«, murmelte Vara. Er stellte sich neben von Kampen. »Wir haben ihn beobachtet. Dann haben wir es überprüft. Er hatte einen Sender in seinem Spind, den er per Fernauslöser aktivieren konnte. Hightech vom feinsten.«
»Konnten Sie ihn nicht ausschalten?«
»Nein. Erst durch seine Aktivierung wurde uns klar, wie er funktioniert. De facto war der ganze Spind der Sender. Eine ziemlich geniale Konstruktion und gut getarnt. Wenn wir nicht so genau aufgepasst hätten, wäre es uns entgangen.«
Von Kampen nickte zögerlich. Ein Agent also. Ein Verräter. Der bis zum letzten Opfer gegangen war. Für manche war er zweifellos ein Held, und sie selbst wusste nicht genau, was sie in Bezug auf den Toten empfinden sollte. Vor allem weil sie sich vorstellen konnte, wie die Konsequenzen dieses Funkspruches aussehen würden.
»Unser kleiner Trick hat also nichts genutzt«, sagte sie leise zu Vara. Der Offizier nickte nur und wirkte nun besorgt. Oder doch eher hilflos? Einen Spion enttarnen, das konnte er. Aber eine Raumschlacht, dafür waren andere zuständig, und er wurde zum Zuschauer.
Für jemanden wie ihn musste das eine besonders schwierige Situation sein.
»Wir benötigen eine Autopsie für die Akten«, sagte er. »Und das Behandlungsprotokoll des Medoroboters.«
»Er starb an Verrat«, sagte von Kampen. »Aber Sie bekommen natürlich alles, was Sie brauchen.«
»Ich danke Ihnen.«
»Glauben Sie, dass er der Einzige war?«
Vara senkte den Blick und deutete ein Kopfschütteln an. Der Ärztin war klar, was das hieß. Er hatte keine Hinweise und daher auch keine Gewissheit. Aber mindestens eine böse Ahnung.
»Wenn Sie den nächsten Verräter enttarnen, sagen Sie mir vorher Bescheid. Dann verabreiche ich ihm ein Beruhigungsmittel, damit er einschläft.«
Vara sah sie an.
Verdammt!
In seinem Blick lag ein Schuldbewusstsein, das fraglos berechtigt war.
Er wandte sich ab und verließ den Ort des Geschehens.
Aber ein solches Gefühl hatte von Kampen bei diesem Mann nicht erwartet. Sie musste noch daran denken, als sie und ihre Mitarbeiter sich damit beschäftigten, die Leiche fortzuschaffen.
Vielleicht
, so dachte sie,
vielleicht steckt irgendwo in diesem Mann doch noch ein Mensch. Oder zumindest verwertbare Reste von einem.