Im Jahr 1983 übersteigen die Umsätze, die mit Videotheken und Videokassetten erzielt werden, erstmals jene des klassischen Kinogewerbes. Auf dessen Seite werden 850 Millionen D-Mark verbucht; auf der Seite der neuen Medienkultur ist es eine Milliarde. In jedem siebten deutschen Haushalt gebe es inzwischen einen Videorecorder, und schon im kommenden Jahr dürfte sich dieser Anteil verdoppeln: So wird das Publikum des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in einer Dokumentation des ZDF informiert. In langen Einstellungen fährt die Kamera durch urbane Straßen, in denen sich eine Videothek an die andere reiht.
Die Begeisterung, die zu Beginn des Jahrzehnts angesichts der Möglichkeiten des neuen Mediums noch allenthalben herrschte, ist jedoch inzwischen dem strengen Ton des Kulturpessimismus gewichen. «Mama, Papa, Zombie»: So heißt die Dokumentation, in der es um die Gefahren für Kinder und Jugendliche durch den Videokonsum geht. Sie beginnt mit einem Ausschnitt aus dem auf Videokassetten kursierenden Film «Mother’s Day», in dem sich zwei zuvor vergewaltigte junge Frauen ausgiebig an ihren beiden Peinigern rächen. Man sieht, wie die Frauen einem von beiden zunächst eine Flasche mit Abflussreiniger in den Mund stopfen und darin entleeren, um dem jungen Mann anschließend, während er noch seine Innereien ausspuckt, einen Fernseher auf den Kopf zu rammen, der daraufhin mitsamt des Kopfes in Flammen aufgeht. Der Film wird, wie in der nächsten Szene der ZDF-Dokumentation zu sehen ist, von drei Angestellten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften mit ernsten Mienen begutachtet. «Mother’s Day» ist zu diesem Zeitpunkt in den deutschen Videotheken noch frei erhältlich. Aber nicht mehr lange. Denn die drei von der Prüfstelle beschließen, das Video auf den Index zu setzen: Es darf also künftig nicht mehr beworben und nur noch an Kunden über achtzehn Jahren verliehen werden, die ausdrücklich danach verlangen.
Neben Pornos aller Art bilden Horrorfilme das erfolgreichste Genre der jungen Videokultur. In den Videotheken liegen sie zunächst ganz selbstverständlich neben dem Hollywood-, aber auch dem Kinder- und Jugendprogramm. Regelungen zum Jugendschutz gibt es nicht – weil niemand zuständig ist. Während die Kinoverleihe sich seit 1949 einer «Freiwilligen Selbstkontrolle» unterwerfen, der entsprechend sie ihre Filme mit unterschiedlichen Altersfreigaben versehen (ab sechs, ab zwölf, ab sechzehn oder ab achtzehn Jahren), dauert es bis zum Jahr 1985, bis diese Kennzeichnungspflicht auf «Videokassetten und andere Bildträger» übertragen wird. Nun müssen sich die Videotheken auch dazu verpflichten, Filme «ab achtzehn» nur noch in gesonderten, für Jugendliche unzugänglichen Räumen anzubieten.
Bis dahin besteht die einzige Möglichkeit, einen Film aus dem allgemein zugänglichen Sortiment zu verbannen, in der Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Das ist aber ein kompliziertes Verfahren: Erst muss ein Antrag durch ein Jugendamt oder eine besorgte Privatperson gestellt werden; dann müssen die Angestellten der Bundesprüfstelle den inkriminierten Film sichten und bewerten, was sich schon deswegen in die Länge zieht, weil die Behörde am Anfang der achtziger Jahre nur über drei Mitarbeiter und einen einzigen Videorecorder verfügt.
Die Videotheken werden in der öffentlichen Debatte nun als Keimzellen der Jugendverrohung gezeichnet, als Orte, an denen unschuldige Kinder mit süchtig machenden Drogen versorgt werden und mit Gewaltbildern, die sie selber gewalttätig werden lassen. Oder die sie in ihrer gesunden Entwicklung blockieren: Eine Videotheken-Mitarbeiterin erzählt in der ZDF-Dokumentation «Mama, Papa, Zombie» davon, wie eine Kollegin das Jugendamt alarmierte, weil eine Mutter ein indiziertes Zombievideo für ihre achtjährige Tochter auslieh. «Das Jugendamt ist dann zu der Familie hingegangen. Das achtjährige Mädchen hatte noch eine kleine dreijährige Schwester, die sehr schwer verhaltensgestört war, und die konnte nur die drei Worte sagen: Mama, Papa, Zombie.»
Die Dokumentation endet mit einem «Experiment» in einer Hamburger Grundschule. Eine Lehrerin fragt morgens die Kinder aus ihrer vierten Klasse, ob sie wüssten, was Zombiefilme seien; daraufhin zeigen viele sich gut informiert. Zombies seien Tote, die wieder zum Leben auferstanden sind, hört sie; und auch, dass Zombies andere Menschen beißen müssten, um weiterleben zu können, woraufhin sich die gebissenen Menschen ihrerseits in Zombies verwandelten. Am folgenden Abend stellt die Lehrerin den Eltern dieser Kinder dieselbe Frage, woraufhin sie nur ratloses Schweigen erntet: In der versammelten Runde hat noch niemand etwas von Zombies gehört. Um auf den Wissensstand ihrer Kinder zu kommen, müssen sich daraufhin alle gemeinsam den Film «Ein Zombie hing am Glockenseil» ansehen. Eine Erfahrung, die die Eltern schockiert und verwirrt zurücklässt: Eine Mutter bekundet, dass sie nach diesem Film nun bestimmt nicht mehr einschlafen kann; ein Vater hat immerhin noch die Hoffnung, dass es ihm nach ein bis zwei Flaschen Bier gelingen wird.
«Ein Zombie hing am Glockenseil» aus dem Jahr 1980, im Original «Paura nella città dei morti viventi» (wörtlich übersetzt: Angst in der Stadt der lebenden Toten), stammt von dem italienischen Regisseur Lucio Fulci. Der Film handelt – so weit sich die Handlung nachvollziehen lässt – von der Wiederauferstehung von Toten in einer Stadt, die auf den Ruinen einer uralten Hexenstadt errichtet wurde. Hier verwandeln sich Leichen in Zombies, nachdem ein Priester zu Beginn des Films auf einem Friedhof Selbstmord begangen hat, indem er sich mit Hilfe eines Glockenseils erhängte.
Die Geschichte könnte auch zu einem klassischen Gruselfilm gehören. Doch wo in diesem Genre der Schauder vor allem durch unbehagliche Stimmungen und unheilvolle Andeutungen erzeugt wird, geht es Fulci um visuelle Drastik und um die Überwältigung des Betrachters. In der bekanntesten Szene des Films wird ein junger Mann von dem Vater seiner Freundin getötet, weil dieser ihn für einen Zombie hält. Da sich die Beteiligten gerade zufällig in einer Autowerkstatt befinden, hält der zornige Vater sein Opfer auf einer Arbeitsbank fest, wo ihm dann ein elektrischer Bohrer durch das Gehirn getrieben wird. Gegen die verzweifelten Versuche des jungen Mannes, sich in letzter Sekunde noch aus seiner misslichen Lage zu befreien, wird das Bild des kreischend rotierenden Bohrers geschnitten, der sich frontal auf die Kamera zubewegt, bis er aus der Leinwand heraus- und in das Auge des Betrachters einzudringen scheint. Anschließend wird ausgiebig das Durchbohren der Schläfe samt Wiederaustritt des rotierenden Aufsatzes unter dem gegenüberliegenden Ohr gezeigt.
Für den Film ist dies eine Schlüsselszene, denn es geht darin durchweg um die Zerstörung von Körpern und um das Quälen des Betrachters. Wenn der Priester, der sich zu Beginn erhängt, nach seiner Wiederauferstehung als Zombie auf Menschen trifft, bluten diese sogleich aus den Augen. Eine junge Frau, die es besonders unglücklich trifft, erbricht in einer sehr langen Einstellung ihre inneren Organe; ein Effekt, der bei vielen zeitgenössischen Zuschauern und Zuschauerinnen seinerseits Übelkeit auslöst. Auch das Personal des Films wurde nicht geschont: Bei dem Erbrochenen habe es sich um echte blutige Schafseingeweide gehandelt, die von der Schauspielerin vor jedem Schnitt von Neuem in den Mund gestopft und ausgespuckt werden mussten – so hat es der Maskenbildner und Spezialeffekt-Künstler des Films, Giannetto De Rossi, später einmal berichtet.
De Rossi hat mit Lucio Fulci bereits bei dessen vorangegangenem Film, «Zombi 2» aus dem Jahr 1979, zusammengearbeitet. Hier reüssiert er mit seinem beliebtesten Effekt, der für Zombiefilme stilprägend werden soll: dem beherzten Griff der Untoten nach den Gehirnen ihrer menschlichen Opfer. Die Untoten nähern sich unbemerkt von hinten oder kommen plötzlich hinter einer Ecke hervor; dann krallen sie sich den Schädel ihres Opfers und drücken ihn ein, um sich in der nächsten Einstellung das in bunten Farben blubbernde und quellende Hirn schmatzend in den Mund zu schieben. In «Ein Zombie hing am Glockenseil» wird dieser Vorgang gleich in fünf Szenen gezeigt. Dabei bleibt jedes Mal unklar, was zwischen den Einstellungen eigentlich aus dem eingedrückten Schädelknochen geworden ist. Er ist auf wundersame Weise verschwunden: wie ein Deckel, den man von einem Topf nimmt. Jedenfalls können sich die Zombies nun ohne weitere Hindernisse an der schmackhaften Hirnmasse erfreuen.
Zum wahrhaften Bestandteil der massenbegeisternden Popkultur werden die Zombies gegen Ende des Jahres 1983. Jetzt treten sie aus der Welt des Kinos und der Videotheken heraus und zeigen sich Millionen und Abermillionen von Fernsehzuschauern, die – noch einmal gegen jeden Trend zur Individualisierung zu einer großen, simultan das Gleiche erlebenden Gemeinschaft versammelt – gebannt vor den Geräten sitzen. Am 2. Dezember 1983 wird in den USA erstmals das Musikvideo «Thriller» mit Michael Jackson ausgestrahlt. In Deutschland erfolgt die Premiere ein paar Wochen später, am 23. Januar 1984 in der Musiksendung «Formel Eins». Allerdings wird die Show, die in den dritten Programmen der ARD üblicherweise im Vorabendprogramm um 18 Uhr läuft, an diesem Tag erst um 22 Uhr gezeigt, aus Gründen des Jugendschutzes: Man schätzt den Film als zu gruselig und schreckenerregend für jüngere Zuschauer ein.
Am Beginn des Videoclips sieht man Michael Jackson, wie er mit seiner Freundin im Auto auf einer nächtlichen Lichtung hält, um ihr einen Antrag zu machen; die Freundin – dargestellt von der Schauspielerin Ola Ray – ist überglücklich. Allerdings verwandelt sich Michael Jackson schon im nächsten Moment in einen Werwolf, oder besser gesagt: in eine Werkatze mit langen spitzen Ohren und noch längeren Krallen. Diese jagt nun das laut kreischende Mädchen durch den dunklen Wald.
Glücklicherweise erfahren wir in der nächsten Einstellung, dass das alles nur ein Film ist. In Wahrheit sitzen Michael Jackson und seine Freundin neben popcornknabbernden Menschen im Kino, wo sie sich den schrecklichen Werkatzen-Schocker ansehen. Michael Jackson ist begeistert, seine Freundin hingegen nicht. Sie verlässt das Kino, weil sie das alles nicht lustig findet; er folgt ihr und versucht sie zu besänftigen, indem er sie singend neckt: «Im Mondlicht siehst du etwas / das dein Herz fast zum Stillstehen bringt / Du versuchst zu schreien / aber der Schrecken schluckt das Geräusch, bevor es aus dir herauskommt / Du erstarrst / ’cause this is thriller / thriller night / and no one’s gonna save you / from the beast about to strike.»
Kurzzeitig ist die Stimmung wieder heiter, aber das ändert sich, als die beiden an einem nebelverhangenen Friedhof vorbeiflanieren. Wie es der Zufall so will, befreien sich im selben Moment die dort beerdigten Leichen aus ihren Gräbern. Sie schieben die Grabplatten beiseite oder buddeln sich zuckend aus dem Erdreich empor – ganz so, wie man es vier Jahre zuvor erstmals in Lucio Fulcis Film «Zombi 2» gesehen hat. Anders als dort haben die Zombies hier jedoch keinen Hunger auf Menschengehirne, sondern vielmehr Lust auf ein flottes Tänzchen. Nach einem kurzen Moment der Irritation setzt Michael Jackson sich an ihre Spitze und bringt die bis dahin noch zombiegerecht vor sich hin wankenden Gestalten dazu, mit ihm eine zackige Choreographie aufzuführen.
Als der knapp vierzehnminütige Film erstmals ausgestrahlt wird, ist die dazugehörige Musik schon ein Jahr alt. «Thriller», das Album, ist am 30. November 1982 erschienen und hat sich innerhalb eines Jahres zweiunddreißig Millionen Mal verkauft. Bis zum heutigen Tag sind es sechsundsechzig Millionen Exemplare geworden; damit ist «Thriller» in der – mittlerweile zu Ende gehenden – Geschichte der Schallplatten und anderen physischen Tonträger das meistverkaufte Album überhaupt.
Michael Jackson ist ein überaus charismatischer Sänger; mit seinem Falsett und den kleinen, hektisch hechelnden Atemstößen führt er den extemporierenden Soulstil von James Brown fort und verleiht ihm zugleich eine modernere, spitzere, weniger körperliche, aber dafür umso energetischere Anmutung; zugleich entfaltet er diesen Gesang vor einer musikalischen Kulisse, die kaum allgemeingültiger sein könnte. Auf «Thriller», produziert von dem Jazzmusiker Quincy Jones, verbindet er erstmals in massenbegeisternder Weise «schwarze» und «weiße» Stile und Traditionen. Man hört den Motown-Soul der späten sechziger und siebziger Jahre, mit dem er – als Mitglied der Geschwistergruppe The Jackson 5 – seine Karriere begann. Es gibt aber auch fest auftretende elektronische Beats wie im aktuellen Elektropop der frühen achtziger Jahre; wilde Synkopen wie aus dem Jazzfunk der späten Siebziger; und schließlich maskuline Gitarrenriffs mit lang dahingegniedelten Soli: In dem Stück «Beat It» – das als Single im Februar 1983 veröffentlicht wird – hat einer der prägenden weißen Gitarrenvirtuosen des Jahrzehnts, Eddie Van Halen, einen Gastauftritt.
Dieser eklektische, aber druckvoll und konsequent wirkende Stil spricht Publikumsgruppen an, die vorher klar voneinander getrennt waren: die schwarzen Soul-Hörer und -Hörerinnen ebenso wie das weiße Rockpublikum; ältere Hörer ebenso wie pubertierende Teenager, aber auch – und das ist neu in der Popgeschichte – Kinder vor dem Beginn der Pubertät. «‹Beat It›», so hat es Jackson später einmal in einem Interview gesagt, «war auf den Geschmack von Schulkindern zugeschnitten. Es hat mir immer Spaß gemacht, Stücke zu schreiben, die Kindern gefallen würden. Es bereitet mir Freude, für sie zu komponieren, und ich weiß, was sie mögen, weil sie ein sehr anspruchsvolles Publikum sind. Wenn ein Song ihnen gefällt, ist er ein Hit, egal, wo er in den Charts steht.» Auch der Auftritt der Zombies in «Thriller» ist auf dieses Publikum zugeschnitten. In der Version von Jackson und seinem Regisseur John Landis verlieren die Untoten jenen körperlich drastischen Charakter, den sie in den Zombiefilmen jener Zeit sonst besitzen, und werden – gerade weil sie am Ende des Videos so folgsam und harmlos zu tanzen beginnen – zu freundlichen Gruselfiguren.
«Anders als alle anderen Jugendhelden vor ihm», so hat es der Musiksoziologe Albert Goldman in seinem bis heute aufschlussreichen Essay «Analyzing the Magic» 1984 im «People Magazine» formuliert, «zieht Michael Jackson seine Wirkung nicht aus seinem Sex-Appeal; noch besteht seine wesentliche Anhängerschaft aus Teenagern, die mit pubertären Initiationsriten beschäftigt sind. Michael Jackson ist der erste Held einer neuen Jugendkultur, die im wesentlichen ‹Kiddie-Kultur› ist. Seine Welt ist diejenige der Jungen und Mädchen, die die Pubertät noch nicht erreicht haben. Niemals zuvor haben Kinder in diesem Alter einen so entscheidenden Einfluss auf die Popkultur ausgeübt. Niemals zuvor haben sie den primären Popmarkt gebildet.» Das letzte Album, das er vor «Thriller» im Frühjahr 1982 herausgebracht hat, trägt den Titel «E.T. the Extra-Terrestrial» und begleitet den gleichnamigen Kinderfilm von Steven Spielberg.
Der eigentliche Durchbruch zum globalen Superstar – der Beginn der «Michaelmania», wie es später heißen wird – gelingt Michael Jackson ein knappes halbes Jahr nach der Veröffentlichung des Albums «Thriller». Am 16. Mai 1983 strahlt der Sender NBC ein Galakonzert zum 25. Jubiläum der Plattenfirma Motown aus, mit allen großen Stars aus der Geschichte des prägenden Soul-Labels, von Stevie Wonder über Diana Ross und The Supremes bis zu Smokey Robinson und Marvin Gaye. Auch The Jackson 5 sind mit dabei, und schließlich bietet Michael Jackson allein auf der Bühne das Lied «Billie Jean» dar. Er trägt eine lange, schwarze, mit glitzernden weißen Pailletten besetzte Jacke und an der linken Hand einen weißen Handschuh, er singt – aber vor allem tanzt er: exaltiert, kontrolliert, gleichermaßen graziös wie von plötzlichen Energiestößen durchschüttelt. Er lässt die Beine schlenkern, als wollten sie ihm nicht gehorchen, reckt den rechten Arm in die Luft und greift sich mit der behandschuhten Hand ans Gemächt, und vor allem führt er erstmals jene Schrittchoreographie auf, die in den folgenden Jahren zu seinem Markenzeichen wird: Beim «Moonwalk» scheint er nach vorne zu schreiten und gleitet doch nach hinten; diese Bewegungsfolge hat er sich aus der gerade erblühenden Breakdancekultur der New Yorker Hip-Hop-Szene abgeschaut.
Der Auftritt ist eine Sensation, mit ihm wird Michael Jackson zu einer ikonischen Figur, zu einem Menschen «larger than life», der ebenso gut wie der Außerirdische «E.T.» aus dem Weltall auf die Erde heruntergekommen sein könnte. Trotz des stetig wiederholten, eigentlich eindeutigen Griffs in den Schritt ist seine Darbietung nicht sexuell aufgeladen, sondern wirkt sonderbar asexuell, verspielt und niedlich. Jacksons extraterrestrischer Glamour ergibt sich weniger aus seinen Kostümen und seiner Erscheinung als vielmehr aus seinen überirdisch-unmenschlich erscheinenden Bewegungsabläufen. Schier unüberschaubare Mengen von Michael-Jackson-Imitatoren betreten in den Jahren 1983 und 1984 die Szene, eine ganze Generation von Kindern und Teenagern eifert ihm nach.
«Wenn die Kinder Michael auf dem Fernsehschirm sehen, dann sind sie nicht einfach von ihm hypnotisiert», schreibt Albert Goldman in «Analyzing the Magic», «sondern sie machen sich daran, seinen komplexen Bewegungscode zu knacken; einen Code, der weit elaborierter ist als alles, was sich Elvis oder Mick Jagger jemals träumen ließen. Sie versuchen, alle seine ‹bops› und ‹bams› zu entschlüsseln, bis sie tatsächlich so weit sind, dass sie ‹den Michael Jackson machen› können: das heißt, bis sie selber zu kleinen Superstars mit weißen Handschuhen und roten Jacken geworden sind.» Das Publikum genießt die rätselhafte Magie und die Aura von Michael Jacksons Tänzen – und versucht zugleich, diese Aura zu entzaubern, indem es die technischen Bedingungen ihrer Herstellung zu rekonstruieren versucht. Dabei hilft eine Videokassette, die Anfang 1984 erscheint. Sie enthält den Videoclip zu «Thriller» und eine Dokumentation seiner Entstehung. «Making Michael Jackson’s Thriller» verkauft sich innerhalb eines Jahres knapp eine Million Mal.
Michael Jacksons Aufstieg zur ikonischen Popfigur der Achtziger hat also ebenso viel zu tun mit seinem musikalischen Talent wie mit seiner körperlichen, visuellen, tänzerischen Erfindungsgabe; letztlich wäre dieser Aufstieg nicht denkbar gewesen ohne die Entstehung des Musikfernsehens am Anfang des Jahrzehnts. Die Premiere von «Thriller» läuft auf dem US-amerikanischen Sender MTV (kurz für: «Music Television»), der erst seit etwas mehr als zwei Jahren auf Sendung ist. Rund um die Uhr werden hier Musikfilme gezeigt, in der ersten Zeit nach dem Start im August 1981 sind es vor allem Konzertaufnahmen und günstig hergestellte Werbeclips der großen Plattenfirmen. Auch wird das Repertoire zu Beginn von weißen Rockmusikern aus dem AOR- oder auch Adult-Oriented-Rock-Genre beherrscht: wie etwa REO Speedwagon, Survivor, Styx, Toto oder Van Halen. Freilich taugt deren visuelle Inszenierung zwar gut für die großen Konzertbühnen, auf denen man gern hingebungsvoll sich an ihren Instrumenten verausgabende Männer betrachtet, weniger aber für den kleinen Fernsehbildschirm, auf dem die weiße Gitarrenrockmacker-Ästhetik schnell öde wirkt – weswegen es erst Michael Jackson mit seiner Verbindung aus Gesang, Musik und in jeder Beziehung verblüffenden Choreographien gelingt, das Musikvideo zu einer eigenständigen, massenbegeisternden Kunstform zu erheben.
Um noch einmal Albert Goldman zu zitieren: «Rock ist eine Rhetorik für die Bühne, nicht für den Bildschirm. Auf der Bühne wirken Rocker rough ’n’ ready, roh und bereit. Auf dem Bildschirm wirken sie theatralisch, gestelzt, unnatürlich – wenn nicht gleich vollkommen bekloppt. Darum geben sich so viele Rockvideos als surrealistische Psychodramen aus oder reduzieren den Star gleich zu einem Clown. Ganz anders ist es mit Michael Jackson: Er ist die geschmeidigste und eleganteste Figur auf dem Bildschirm seit Fred Astaire. Er ist so schnell, dass er dir vor den Augen verschwimmt. Sein Aggregatzustand ist so elektro-ekstatisch, dass er von einer wild vibrierenden Aura umgeben scheint; auf die erstaunlichste Weise gelingt es ihm, seinen ganzen Körper zum Sprechen zu bringen.»
Michael Jackson trägt also erheblich dazu bei, dass das Musikfernsehen zu einem eigenständigen Medium wird, das heißt: zu einem Medium, das sich nicht in der Bebilderung von Musik erschöpft, sondern in dem Musik, Bilder, Körper, Bewegungen sich zu einer neuartigen Sprache verbinden. In den Musikvideos der folgenden Jahre wird dieses Prinzip sich durchsetzen, nach «Beat It» und «Thriller» entsteht ein neuer Typus von Stars, deren Popularität sich wesentlich aus der optischen Inszenierung und der Verbindung von Tanz und Musik ergibt. Die erste und bedeutendste Künstlerin, die nach diesem Modell reüssiert und in der Mitte der achtziger Jahre zum zweiten globalen Popstar neben Michael Jackson aufsteigt, ist Madonna Louise Ciccone, die unter dem Namen Madonna auftritt.
Es gibt einen zweiten Medienwandel, der das Hören von Popmusik in den achtziger Jahren grundlegend verändert. Er vollzieht sich fast zeitgleich mit dem Aufstieg von MTV und hat vieles mit der entstehenden Videokultur gemein. Auf der Berliner Funkausstellung im August 1979 wird erstmals in Deutschland ein Gerät vorgestellt, das der japanische Elektronikkonzern Sony entwickelt hat: der Walkman TPS-L2. Diese leichte und tragbare Abspielvorrichtung ist gerade groß genug, dass man eine Kassette hineinschieben kann; die Musik, die sich auf dieser befindet, wird dann über einen ebenso kleinen und leichten Kopfhörer in das Gehör übertragen. Wer einen Walkman besitzt, ist nicht mehr darauf angewiesen, vor der heimischen Stereo- oder Hi-Fi-Anlage zu sitzen – die Musik wird aus ihrer bis dahin typischen Rezeptionssituation befreit, in ähnlicher Weise, wie das Betrachten von Filmen durch den Videorecorder von den zeitlichen Vorgaben des Kino- und Fernsehprogramms befreit wird. Man kann also die Musik aus dem Wohnzimmer oder dem Kinder- und Jugendzimmer mit hinaus in die weite Welt nehmen. Mit der richtigen Musik im Ohr kann man durch die Stadt flanieren, über eine Frühlingswiese laufen oder durch einen nächtlichen Wald. Mit dem Walkman wird das Musikhören mobilisiert, das heißt auch: Wer die Schritte und Choreographien von Michael Jackson einüben möchte, der kann sich an einen unbeobachteten Ort begeben und zum Walkman-Sound von «Beat It» oder «Thriller» die passenden Bewegungen ausführen.
Dass das Musikhören in öffentliche Räume einzieht, sorgt vielerorts für Befürchtungen. Der ADAC warnt vor der Benutzung des Walkmans im Straßenverkehr, weil die laute Musik die Warnsignale anderer Verkehrsteilnehmer übertöne. Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich auf Antrag eines Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion mit der Frage, «ob die zunehmende Benutzung des sogenannten Walkman – transportable Musikgeräte mit Kopfhörerübertragung – zu dauerhaften Hörschäden schon bei Jugendlichen führen» könne. In der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesgesundheitsministerium heißt es: «In einer Untersuchung zur Hörfähigkeit bei 4000 Jugendlichen im Alter von 16 bis 20 Jahren konnte das Bundesgesundsheitsamt bei etwa 2 v.H. Innenohrhörverluste feststellen. Die Untersucher kommen zu dem Schluß, daß durch Musikbelastung in Diskotheken, über Kopfhörer u.ä. bei etwa 3 v.H. der Großstadtjugend schon jetzt Hörverluste befürchtet werden müssen.» Psychologen sehen die Gesellschaft am Beginn einer neuen Einsiedlerei, mit der die letzten Reste zwischenmenschlicher Kommunikation absterben könnten.
Ist der Walkman also die musiktechnologische Ausprägung dessen, was konservative Politiker Anfang der achtziger Jahre als grassierenden Individualismus beklagen? In jedem Fall wird das Musikhören damit nicht nur mobilisiert, sondern auch anderen, neuen Arten der Aneignung zugeführt. Mit individuell zusammengestellten Kassetten, den sogenannten Mixtapes, lassen sich besondere Kombinationen von Liedern auf besondere Orte oder Situationen abstimmen; so kann man der Wahrnehmung der Welt etwas hinzufügen, das von sonst niemandem gehört wird: einen Soundtrack für das eigene Leben.
Der japanische Kulturtheoretiker Shuhei Hosokawa beschreibt diesen «Walkman-Effekt» in einem gleichnamigen Essay, der auf Deutsch 1984 im Westberliner Merve Verlag erscheint. Für ihn ist der Walkman nichts anderes als das Instrument einer intensivierten Beziehung des Menschen zur Welt, mithin: einer «neuen Lebensart» und «Autonomie». «Die praktische Bedeutung des Walkman», schreibt Hosokawa, «besteht in der Distanz, die er zwischen der Wirklichkeit und dem Realen, der Stadt und dem Urbanen und insbesondere zwischen den Anderen und dem Ich entstehen lässt.» Diese Distanz sei nicht als Mangel zu verstehen, im Gegenteil: Erst sie erlaube es dem Individuum, sich die Welt in selbstbestimmter Art anzueignen. «Autonomie ist nicht immer ein Synonym für Isolation, Individualisierung, Trennung von der Realität; vielmehr ist sie, so paradox es auch erscheint, unerlässlich für den Prozess der Selbst-Vereinheitlichung.» Der Walkman sei das Symbol, die technische Verkörperung und Ermöglichung einer neuen Art der Autonomie, wie sie typisch sei für die kulturellen Veränderungen der Achtziger. In diesem Jahrzehnt sei Autonomie als «intersektionales» Phänomen kenntlich geworden: «Schnittpunkt von Singularitäten im Hinblick auf die Erschaffung eines Diskurses». Der Walkman ist «weder Ursache noch Wirkung dieser Autonomie, er ruft sie weder hervor, noch verwirklicht er sie. Er ist die Autonomie, oder vielmehr die Autonomie-des-laufenden-Ich.»
Der Walkman ist also gleichermaßen ein Instrument der Isolation, wie er die Schaffung von neuen Verbindungen ermöglicht: In ihm spiegelt sich die generelle Dialektik der achtziger Jahre aus Individualisierung und der Bildung neuer Gemeinschaften. Zu den erfolgreichsten Kinofilmen am Beginn des Jahrzehnts zählt die französische Teenie-Romanze «La Boum» mit der damals dreizehnjährigen Sophie Marceau in der Hauptrolle. In einer zentralen Szene des Films steht sie auf einer Party am Rand der Tanzfläche, als sich ein in sie verliebter Junge von hinten an sie heranschleicht und ihr den Kopfhörer seines Walkmans über die Ohren streift. Die flotten Beats, zu denen sich die Teenager dicht gedrängt auf der Tanzfläche bewegen, sind plötzlich gelöscht. Stattdessen hört man, was aus den Kopfhörern kommt: «Dreams», ein romantisches Liebeslied von Richard Sanderson, von dem das Mädchen derart überwältigt ist, dass es sich mit dem Walkmanbesitzer sogleich in einen romantischen Engtanz begibt. «Dreams are my reality / the only kind of real fantasy / Illusions are a common thing / I try to live in dreams», klingt es dazu aus den Kopfhörern. Und es bleibt die Hoffnung, dass sich Träume, Illusionen und Gefühle mit Hilfe von Musik zwischen verschiedenen Menschen synchronisieren lassen: «Tell me that it’s true / feelings that are cue.» So tanzen das Mädchen und der Junge eng umschlungen zu der Ballade, mit langsamen Bewegungen, wie in Zeitlupe, während die anderen Teenager auf der Tanzfläche zu einem für die Kinozuschauer nicht mehr hörbaren Beat so rätselhaft herumzucken wie sonst nur Zombies.