Einer breiteren Fernsehöffentlichkeit wird dieser neue Stamm am 17. Dezember 1984 vorgestellt, mit einer Dokumentation im dritten Programm des NDR. Sie heißt «Computerfieber – Die neue Lust im deutschen Familienalltag» und beginnt in der Computerabteilung eines großen Warenhauses. Dort drängen sich dreizehn-, vierzehnjährige Jungen vor den Bildschirmen und spielen; einige programmieren auch. Er komponiere ein Musikstück, erläutert einer von ihnen dem Reporter. An seinem eigenen Computer könne er gerade nicht arbeiten, weil sein Vater einen «Betriebsstundenzähler» eingebaut habe und das erlaubte Kontingent in diesem Monat schon ausgeschöpft sei.
«Unter jugendlichen Computerfans gibt es vor allem Spieler und die sogenannten Computerfreaks», werden die Zuschauer in der folgenden Szene informiert. Diese zeigt drei Freaks, wie sie – so der Sprecher – «das Innenleben des Computers kennenlernen. Um gemeinsam zu programmieren und selbstgefertigte Programme, die sogenannte Software, zu verkaufen, haben sie einen kleinen Club gegründet.» Der Club trägt den Namen «Gröpaz – Größte Programmierer aller Zeiten» («das ist so ein Gag, auf den ist mein Vater gekommen»), und wie wir im weiteren Verlauf des Films erfahren, geht es seinen Mitgliedern nicht nur um den konstruktiven Umgang mit den neuen elektronischen Mitteln. Den größten Spaß haben sie vielmehr beim «Hacken», wie der Sprecher aus dem Off erläutert: «Sie setzen all ihre Mühe darin, mit ihrem Heimcomputer in fremde Datennetzwerke zu gelangen.» Ihre Fähigkeiten stellen die jungen Gröpaze dadurch unter Beweis, dass sie mit einem «Akustikkoppler» vor den Augen des staunenden, aber nicht weiter erschütterten Reporters in das gemeinsame Redaktionssystem der «Los Angeles Times» und der «Washington Post» eindringen. Warum tun sie das? «Das ist doch ein tolles Gefühl: Wenn ich mir vorstelle, dass ich aus meinem kleinen Zimmer mit meinem Plastikbomber irgend so einen Mülleimer in Amerika dazu kriege, dass der etwas tut. Es passiert ja was: Ich krieg den dazu, dass er Daten von seinen Magnetplatten runterholt und sie mir rüberschickt.»
Viele fragen sich Anfang der achtziger Jahre, wozu Computer eigentlich gut sind. Darauf wird in dieser Sendung zumindest eine halbe Antwort gegeben: Computer erlauben ihren Benutzern und Programmierern, sich mit anderen Computern zu vernetzen und so Distanzen und Räume zu überwinden. Die Faszination des Hackens, wie sie in der NDR-Dokumentation über das «Computerfieber» dargestellt wird, besteht einerseits darin, Sicherheitsschranken durch logisches Denken und Rätsellösen oder auch manchmal nur schlichtes Raten zu überlisten – sowie andererseits und vor allem darin, dass man beim Eindringen in einen anderen, weit entfernten Computer die physischen Beschränkungen der eigenen Existenz aufhebt: Man befindet sich an einem bestimmten Ort und kann doch gleichzeitig an einem ganz anderen Ort sein. Es geht also gewissermaßen um das Kommunizieren um seiner selbst willen.
Wer in Echtzeit Kontakt zu einem Menschen an einem anderen Ort aufnehmen möchte, dem steht Anfang der Achtziger sonst genau eine Möglichkeit zur Verfügung: das Festnetztelefon. Immerhin 70 Prozent aller westdeutschen Haushalte verfügen schon über ein solches Gerät (zehn Jahre zuvor ist es gerade ein Viertel gewesen), aber deswegen ist es noch lange nicht selbstverständlich, in jeder Lebenslage zum Hörer zu greifen, schon gar nicht für Kinder und Jugendliche. Neben vielen Telefonen – meistens sind es noch graue Geräte mit einer Wählscheibe, die im Flur oder Wohnzimmer installiert sind – findet man kleine Stoppuhren, sodass man am Ende des Gesprächs dessen Dauer und Tarif notieren kann (ähnlich dem «Betriebsstundenzähler», von dem der junge Programmierer in der «Computerfieber»-Dokumentation berichtet). In den meisten Familien gibt es Zeit- oder Kostenkontingente fürs Telefonieren; sind diese aufgebraucht, muss bis zum Ende des Monats verzichtet werden. Widersetzt sich der Nachwuchs, greifen die Eltern zu sanktionierenden Mitteln und verriegeln die Wählscheibe des Telefons mit einem kleinen Vorhängeschloss, das in die Aussparung für die Ziffer «0» eingeführt wird.
Was die meisten Erziehungsberechtigten nicht wissen: Man kann mit einem Wählscheibentelefon auch eine Verbindung herstellen, ohne die Wählscheibe zu benutzen, und zwar indem man die entsprechende Nummer rhythmisch in den Gabelumschalter schlägt. Sagen wir also, man will «6162» wählen. Dafür tippt man sechsmal auf den Umschalter, kurze Pause, einmal Tippen, kurze Pause, sechsmal Tippen, kurze Pause, schließlich zweimal Tippen. Wenn man sich nicht – was leicht passiert – vertippt hat oder die Pausen zwischen den Ziffern zu lang oder zu kurz waren, dann steht die Verbindung. Dieses Verfahren ist gewissermaßen die elementare Form des Hackens, ohne technische Hilfsmittel. Es bedarf dazu nur ein wenig des Fingerspitzengefühls (der Verfasser dieses Textes hat freilich lange gebraucht, um dieses zu entwickeln).
Tatsächlich gehört das Manipulieren von Telefonleitungen zum Zweck ihrer kostenlosen Benutzung schon zu den Urszenen der US-amerikanischen Hackerkultur Ende der sechziger Jahre. Damals hat der Luftwaffentechniker Don Draper entdeckt, dass man mit einer Spielzeugpfeife, die als Gimmick den Frühstücksflocken der Marke «Cap’n Crunch» beiliegt, einen Ton von genau 2600 Hertz erzeugt, wie er von der Telefongesellschaft AT als Signal zur Steuerung ihres Netzes eingesetzt wird. So kann die Pfeife also dazu verwendet werden, eine kostenfreie Leitung herzustellen. Draper begründet damit die Kulturtechnik des «Phreaking» – ein Kofferwort aus «Phone» und «Freaking» –, die dann im Verlauf der siebziger Jahre in das «Hacking» übergeht.
Von den linksradikalen Aktivisten Abbie Hoffman und Jerry Rubin werden Erkenntnisse und Techniken wie diese zum Kampf gegen das kapitalistische System eingesetzt. In ihrem 1971 gegründeten Magazin «Youth International Party Line (YIPL)» geben sie konkrete Anleitungen zur Manipulation und zum Umbau von Telefonanlagen, und Computerbastler tauschen sich hier über ihre aktuellen Programmierarbeiten oder die Möglichkeiten der Nutzung von Computern aus (Jerry Rubin wechselt im Laufe der folgenden Jahre die politische Seite, er wird uns in Kapitel zwanzig als «erster Yuppie» wiederbegegnen).
Da das Hacken in den USA eine längere Tradition hat, gibt es dort in den achtziger Jahren auch schon erste Gesetze gegen Computerkriminalität. 1983 wird der neunzehnjährige Physikstudent Ronald Mark Austin verhaftet, weil er sich von seinem Heimcomputer aus in diverse Rechner und Datennetzwerke gehackt hat, unter anderem in Dateien des Verteidigungsministeriums; 1985 verurteilt man ihn zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe. Bei seiner Vernehmung sagt Austin, er sei von dem Film «War Games» inspiriert gewesen, der in den USA im Mai 1983 angelaufen ist. Darin löst ein jugendlicher Computerfreak beinahe den Dritten Weltkrieg aus, nachdem er sich versehentlich nicht in die Datenbank eines Spieleherstellers, sondern in das Steuerungsprogramm des US-amerikanischen Nuklearwaffenarsenals gehackt hat. Auch in Deutschland ist der Film seit Oktober 1983 zu sehen. Im November berichtet die «taz» über den Fall von Ronald Mark Austin, auf einer Themendoppelseite mit dem Titel «Computer Guerilla».
Umso erstaunlicher ist es, dass die «Computerfieber»-Fernsehreportage die Frage nach der Rechtmäßigkeit des jugendlichen Treibens nicht einmal stellt. Ernsthafte Konsequenzen des Hackens und Programmierens kann man überhaupt nicht im Feld des Datenschutzes und der Eigentums- und Persönlichkeitsrechte erkennen – aber dafür in umso dramatischerer Weise im Zusammenleben von Erwachsenen und Jugendlichen sowie in den Verhältnissen zwischen Männern und Frauen. «Die neue Lust im deutschen Familienalltag» lautet schließlich der Untertitel der Reportage, und so werden die jungen Gröpaze nicht nur im Programmierzimmer beim Datenbankknacken gezeigt, sondern auch gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern porträtiert und befragt.
Einer der Computerfreaks, so zeigt sich, teilt das Fieber mit seinem Vater. Beide verbringen ihre Freizeit fast ausschließlich vor ihren Geräten – während die Mutter des Jungen und seine Schwester diesem Hobby nichts abgewinnen können. Bei einer Zusammenkunft am Wohnzimmertisch wird die Familie gefragt, wie sich der Medienwandel auf ihren Alltag ausgewirkt hat. Für den Vater hat sich auf den ersten Blick nicht viel geändert, abgesehen davon, dass er die Zeit, die er früher vor dem Fernseher verbracht hat, nun eben dem Programmieren widmet. «Filme sind für mich jedenfalls zweitrangiger geworden», sagt er. Für seine Ehefrau ist der Medienwandel stärker zu spüren. «Die Unterhaltung zwischen meinem Mann und mir und meinem Sohn und mir ist etwas abgeschwächt», sagt sie. «Immer wenn ich etwas sagen will, ist erst mal der Computer dran.» Nachfrage des Reporters: «Ist es denn so, dass der Computer so ein Gesprächsthema ist, dass Sie keinen Platz mehr haben?» Antwort der Ehefrau: «Ja.» Ihr Ehemann kann das nachvollziehen, findet die Entwicklung aber positiv, gerade auch für die Familienverhältnisse. Seit der Computer da ist, gebe es weniger Konflikte, sagt er: «Es ist friedlicher geworden, es ist eine gewisse Ruhe eingekehrt. Denn ich habe eine Sache, mit der ich mich befassen kann. Ich habe keinen Leerraum, ich brauche mich also auch nicht mit meiner Frau zu unterhalten. Sondern ich setze mich mit dem Computer auseinander und führe da einen mathematischen Dialog.»
Bleibt die Frage, warum sich augenscheinlich nur Männer für die neue Technologie interessieren. Der Vater dazu: «Beim Computer wird alles mit exakter Logik, mit mathematischer Genauigkeit bestimmt. Das ist eine Sache, die nicht auslegbar ist, sondern die wird genau ausgerechnet. Und ich habe das Empfinden, dass Frauen alles immer ein bisschen auslegbar haben wollen: Es könnte doch auch anders sein. Und so was lässt der Computer einfach nicht zu.»
Diese Ansicht teilt er mit dem Schriftsteller Peter Glaser, der im folgenden Jahr, 1985, in der Anthologie «Hackerbibel» einen autobiographischen Essay mit dem Titel «Das Basic-Gefühl. Vom Leben mit einem Mikrocomputer» veröffentlicht. Glaser, der seine Karriere als Autor von Punk- und New-Wave-inspirierter Prosa begonnen hat, schildert darin seinen Weg in die Szene der Programmierer und Freaks. Ein befreundeter Schriftsteller hat ihm zwei Jahre zuvor «das Fenster in die neue stofflose und sacht flimmernde Welt der Computer-Software» geöffnet. Glaser ist gleich überwältigt von der Schönheit der Zeichenketten: «Mein Freund ließ Programmzeilen über den Bildschirm laufen. ‹QQ=PEEK(PP):IFQQ= 86THENFU=79:ONSQR(QQ)GOT050025,3348,HELL,50026› stand da. Parlez-vous BASIC? Ich hatte das Gefühl, bald ein neuzeitlicher Analphabet zu sein, wenn ich mich nicht daranmachte, das zu lernen.» Gemeinsam beginnen die beiden zu programmieren und vergessen darüber alles andere, auch die Frau des Freundes. «Hatte ich bei meinen ersten Besuchen noch jedes Mal mit meinem Freund und seiner Frau im Wohnzimmer geplaudert, bevor wir uns an den Computer setzten, so steuerte ich zuletzt direkt von der Wohnungstür an das Bildschirmfenster. Die Frau meines Freundes nahm ich nur noch als einen Arm wahr, der belegte Brote und Kaffee neben den Monitor stellte. Die Scheidung war vor zwei Jahren, und vor eineinhalb Jahren hat mein Freund sich einen schnelleren Computer gekauft.»
Wie die Autoren der NDR-Reportage beschreibt auch Glaser die erste Zeit, «die jeder Computernewcomer durchlebt», als «Fieberphase. Sie dauert mindestens so lange wie eine infektiöse Gelbsucht und kann auch chronisch werden. Mediziner beschäftigen sich bereits mit speziellen rechnerbedingten Gebrechen, etwa der ‹Spielklaue›, einer krampfartigen Verformung der Hand infolge exzessiven Hebelns bei Videospielen, oder Schwindelanfällen, wenn nach stundenlangem Bildschirmbetrachten in einem unvorsichtigen Seitenblick die Umwelt wieder zu einem dreidimensionalen Raum auseinanderfährt.» Glaser verlässt seine Heimatstadt Düsseldorf, um in Hamburg einer Wohngemeinschaft von jungen Männern beizutreten, die «Stunden um Stunden» programmieren, «von einem wilden Pioniergeist beseelt, als gelte es, eine Linie an den Rand des Universums zu ziehen».
Wiederum sind die Männer ganz unter sich: «Frauen sind die Dritte Welt des mikroelektronischen Zeitalters. Sie sind immun gegen Computerbegeisterung. Sie mögen die Apparate nicht. In zehn Jahren wird es eine neue Frauenbefreiungsbewegung geben müssen, um den Anwendervorsprung und die ADV-Bewegungsfreiheit der Männer auszugleichen.» Was sind die Gründe dafür? Noch einmal Peter Glaser: «Abneigung gegen das ‹technische› Flair begründet noch nicht die umfassende Mattigkeit des Interesses, welches fast alle Frauen den Rechnern entgegengähnen. Ich habe den Eindruck, dass es mehr mit der seltsamen Erotik der Maschinen zu tun hat: der sklavischen Ergebenheit, mit der sie immer wieder das tun, was man ihnen sagt (und was nicht unbedingt mit dem übereinstimmen muss, was der Programmierer meint), der Willigkeit, sich bis in die innersten Geheimnisse erobern zu lassen, und den Allmachtsgefühlen, die der Computer durch eine Vielfalt an Simulationsmöglichkeiten, vom Nachtflug bis zur psychologischen Beratung, hervorrufen kann.»
Auch Peter Glaser weiß zunächst nicht so richtig, wozu das, was er da macht, eigentlich gut ist. Er formuliert es so: «Der Computer ist die Lösung. Was wir jetzt brauchen, ist das Problem.» Nach seinem Umzug gehört er zu den ersten Mitgliedern des Chaos Computer Clubs, der 1981 in den Räumen der Westberliner Tageszeitung «taz» gegründet wird, aber vor allem in Hamburg aktiv ist; 1984 wird Glaser zum Redakteur der neu gegündeten Clubzeitschrift «Datenschleuder». Ähnlich wie Abbie Hoffman, Jerry Rubin und die Autoren der «Youth International Party Line» verbinden auch die Mitglieder des Chaos Computer Clubs ihre Leidenschaft für das Programmieren mit einer politischen Agenda: Sie wollen die Möglichkeiten, die die neue Technologie bietet, zur vollständigen Befreiung der Kommunikationsverhältnisse nutzen.
«Der Chaos Computer Club ist eine galaktische Vereinigung ohne feste Strukturen», so beginnt das Manifest der Vereinigung, das in der ersten Ausgabe der «Datenschleuder» veröffentlicht wird. «Nach uns die Zukunft: vielfältig und abwechslungsreich durch Ausbildung und Praxis im richtigen Umgang mit Computern wird oft auch als ‹hacking› bezeichnet. Wir verwirklichen so weit wie möglich das ‹neue› Menschenrecht auf zumindest weltweiten freien, unbehinderten und nicht kontrollierbaren Informationsaustausch (Freiheit für die Daten) unter ausnahmslos allen Menschen und anderen intelligenten Lebewesen. Computer sind dabei eine nicht wieder abschaffbare Voraussetzung. Computer sind Spiel-, Werk- und Denk-Zeug: vor allem aber: ‹das wichtigste neue Medium›.»
Die Mitglieder des – als CCC abgekürzten – Clubs sind denn auch die Ersten in Deutschland, die sich selber ausdrücklich als Hacker bezeichnen. Wobei sie großen Wert darauf legen, dass das Wort deutsch ausgesprochen wird: Man sagt also nicht «Häcker», sondern «Hacker». Wie die jungen Gröpaze aus dem «Computerfieber»-Film hacken auch sie sich am liebsten in fremde Datennetzwerke ein; dies allerdings mit der erklärten Absicht, auf diese Weise Sicherheitslücken aufzudecken, um einfache Computernutzer vor Schaden zu schützen.
Der meistbeachtete Coup in der Frühzeit der Clubgeschichte gelingt im November 1984, als zwei Gründungsmitglieder, Steffen Wernéry und Wau Holland, in das frisch gestartete BTX- oder auch «Bildschirmtext»-Angebot der Deutschen Bundespost eindringen. Wer einen kostspieligen BTX-Zugang mietet, kann seinen Fernseher über ein Modem mit gebührenpflichtigen Onlineseiten verbinden, um etwa Fahrpläne und Nachrichten abzurufen, «Teleshopping» bei Versandhäusern zu machen oder Banküberweisungen zu tätigen. Wernéry und Holland knacken das Passwort der Hamburger Sparkasse und erteilen in deren Namen den Auftrag, in kurzen Zeitabständen immer wieder ein kostenpflichtiges Angebot von ihrer eigenen CCC-Seite aufzurufen. Jedes Mal werden 9,97 D-Mark an den Club überwiesen; nach einer Nacht und einem Tag haben sie die Sparkasse um 135000 D-Mark erleichtert. Schließlich gehen Wernéry und Holland damit an die Presse, um darauf hinzuweisen, dass auch persönliche Daten – wie Bankverbindungen – nicht vor fremdem Zugriff geschützt sind, wenn man sie über die schlecht oder gar nicht gesicherten Kanäle des Bildschirmtextes weitergibt.
«Gib ein neues Passwort ein / Oft fliegst du raus, mal kommste rein / Schau genau beim Tippen zu / Wir hacken, hacken, hacken // Find vom Chef die Freundin raus / Probiere ihren Namen aus / Tast dich ran mit Ruh im Nu / Zum Hacken, Hacken, Hacken // Begreife endlich das System / Dann hast du es ganz bequem / Was du willst, das tu, ja tu / Du Hacker, Hacker, Hacker»: So lautet der Text jenes Liedes, das der CCC zur «Hacker-Hymne» erklärt hat. Aus dem Spaß am Hacken soll sich eine Form des politischen Widerstands entwickeln, der in subversiver Weise die herrschenden Verhältnisse zum Wanken bringt: «Gesellschaftsspiele, die tausendmal spannender sind als müde Latschedemos», wie es Wau Holland in einem programmatischen Text in der «taz» formuliert – und mit denen programmierbegabte Individuen gegen scheinbar übermächtige Akteure und Institutionen eine eigene Gegenmacht errichten können. Neben der Verteidigung der Privatsphäre wollen die Mitglieder des CCC den großen Konzernen und staatlichen Institutionen die alleinige Verfügung über die Computertechnik entziehen; und sie wollen die Geheimnisse lüften, mit denen die bereits etablierten Akteure der digitalen Kultur ihre Produkte umgeben.
«Der Zugang zu Computern und allem, was einem zeigen kann, wie diese Welt funktioniert, sollte unbegrenzt und vollständig sein.» So lautet der erste Satz der «Hacker-Ethik», die der US-amerikanische Autor Steven Levy 1984 in seinem Buch «Hackers: Heroes of the Computer Revolution» veröffentlicht hat; eine deutsche Übersetzung erscheint im folgenden Jahr in der «Hackerbibel». Weiter heißt es: «Alle Informationen müssen frei sein. Misstraue Autoritäten – fördere Dezentralisierung. Beurteile einen Hacker nach dem, was er tut, und nicht nach üblichen Kriterien wie Aussehen, Alter, Herkunft, Spezies, Geschlecht oder gesellschaftliche Stellung. Man kann mit einem Computer Kunst und Schönheit schaffen. Computer können dein Leben zum Besseren verändern.»
Der letzte Satz verdient besondere Beachtung; denn dass in Computern überhaupt ein positives Potenzial stecken könnte, ist Mitte der Achtziger durchaus eine Minderheitenmeinung, insbesondere in Deutschland. Die euphorische Umarmung der neuen Technologie beschränkt sich auf die überschaubare Gruppe junger Männer zwischen dreizehn und fünfundzwanzig Jahren (wenngleich sich gelegentlich, wie wir durch den NDR wissen, auch die Väter der jungen Männer begeistern lassen). Jenseits dessen ist das Interesse gering, und über die Hälfte der Bevölkerung, so ergibt eine Umfrage aus dem Jahr 1984, hat einfach nur «Angst» vor der neuen Technologie. Man fürchtet sich vor zunehmender Entfremdung und Überwachung. 1984 ist ja auch das Jahr, für das der britische Autor George Orwell in seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1948 die Herrschaft des totalen «Big-Brother»-Staats prophezeit hatte; passend dazu fühlen die Zeitgenossen sich nun an allen Ecken und Enden kontrolliert und durchleuchtet, das Wort vom «gläsernen Bürger» macht die Runde.
Dieser generelle Vorbehalt gegen die neue Technik wird insbesondere auch in den Milieus der Gegen- und Alternativkultur gepflegt. Dort nimmt schon im Jahr zuvor eine breite Initiative gegen die sogenannte Volkszählung ihren Ausgang. Anlass ist das Vorhaben der Bundesregierung und ihrer Behörden, in sämtlichen Haushalten Personenfragebögen zu verteilen, auf denen Auskunft über Wohnsitz, Familienstand, Religionszugehörigkeit, Berufs- und Einkommensverhältnisse zu erteilen ist. Die Erhebung soll bei der Planung staatlicher Infrastruktur helfen, etwa bei der Einrichtung von Schulplätzen. Es ist bereits die vierte Volkszählung seit Gründung der Bundesrepublik, aber zum ersten Mal erhebt sich gegen solch ein Ansinnen breiter Protest – auch weil diese «Zwangsbefragung» zum Symbol einer neuen, autoritären Politik durch die konservative Bundesregierung unter Helmut Kohl geworden ist (dass die Erhebung schon von seinem Vorgänger Helmut Schmidt geplant wurde, geht in der öffentlichen Debatte unter). Dutzende von Bürgerinitiativen rufen zum Boykott der Volkszählung auf. Nach einer teilweise erfolgreichen Klage vor dem Bundesverfassungsgericht 1984 wird sie um drei Jahre verschoben und 1987 in stärker anonymisierter Form – und nunmehr ohne größeren gesellschaftlichen Widerstand – durchgeführt.
Blickt man heute auf diese Proteste zurück, scheinen die achtziger Jahre sehr weit entfernt: Mit welchem Pathos wird hier noch das Recht verteidigt, keine Auskunft geben zu müssen; und wie apokalyptisch sind auch hier wieder die Visionen der drohenden Szenarien. «Zählt nicht uns, sondern eure Tage!», heißt ein gern auf Demonstrationsplakaten hochgereckter Slogan aus jener Zeit. Ein populäres Plakatmotiv zeigt Menschen, die wie Schaufensterpuppen aussehen und mit den damals erstmals kursierenden Strichcodes für Scannerkassen bedruckt sind. So wie diese – im wahrsten Sinne des Wortes – technisch stigmatisierten Puppen wollen die Menschen damals auf keinen Fall werden.
Aber genau das ist seither natürlich mit den Menschen passiert. Inzwischen ist es längst selbstverständlich, dass man sich mit Strichcodes auf seinem Smartphone in jeder nur denkbaren Alltagssituation identifiziert und registrieren lässt. In unserer Gegenwart des hemmungslosen Daten-Exhibitionismus, nach dem Sieg der sozialen Netzwerke mit ihrer Zerstörung noch des letzten Restes von Privatsphäre wirkt eine Welt, in der Menschen selbst die unverfänglichsten Aspekte ihrer Existenz vor dem Kontrollblick eines «großen Bruders» verbergen wollen, ähnlich entrückt wie das Mittelalter vor der Erfindung des Buchdrucks.
In den Gegen- und Alternativkulturen der achtziger Jahre herrscht jedenfalls noch verbreiteter Widerstand gegen die Datenerfassung und die neuen Kontrollmöglichkeiten. Wobei dieser Widerstand derart fundamental ist, dass man sich, anders als die Mitglieder des Chaos Computer Clubs, mit den neuen Informations- und Computertechnologien überhaupt nicht befassen möchte – lieber hofft man, dass sie von alleine wieder verschwinden. Die Grünen fordern auf ihrer achten ordentlichen Bundesversammlung in Hagen im Februar 1986 einen «Einführungsstopp» für «neue IuK-Techniken», also Informations- und Kommunikationstechniken. Eine «spürbare Behinderung der Herrschenden bei der Computerisierung der Gesellschaft» könne dabei helfen, «Schaden abzuwenden», und «zur Entwicklung von kritischem Bewusstsein und politischer Handlungsbereitschaft in der Bevölkerung» beitragen.
Immerhin beauftragt man noch im selben Jahr einige Mitglieder des CCC, darunter auch Wau Holland und Steffen Wernéry, mit einer Studie über die Frage, ob und in welchem Umfang die Grünen bei der parlamentarischen Arbeit auf Computer zurückgreifen sollten. Doch klingt der Abschlussbericht der Studie – «Trau keinem Computer, den du nicht (er-)tragen kannst», veröffentlicht im Januar 1987 – einigermaßen ernüchtert angesichts der Verweigerungshaltung der Parteifunktionäre und -funktionärinnen. Was bleibt, ist nur eine Mahnung: «Eine fundamentalistische Ablehnung der Fernmelde-Techniken lässt sich nicht durchhalten und ist anachronistisch», schreiben die CCC-Gutachter in ihrem Vorwort. «Es gibt absolut keine Chance, Fernmelde-Techniken zu bremsen, zu verhindern oder gar zu verbieten.» Die Verweigerung der Grünen gegen alle und also auch alternative Formen der Computeranwendung trage «im Effekt dazu bei, dass der Computer nur mit den Interessen herrschender Kreise besetzt wird und als ‹Strukturverstärker› ausschließlich zentralistische Ideologie transportiert. Herrschaft hat schon immer darauf Wert gelegt, das historisch jeweils fortgeschrittenste Medium zu kontrollieren und einzuschränken.» Die Angst der Alternativszene vor dem Computer blockiere «den respektlosen Umgang mit einem zum Herrschaftsinstrument missbrauchten Medium», und die bisherige Politik der Grünen unterstütze «im Endeffekt diese Herrschaftspolitik».
Die Ausgangsfrage der Studie bleibt bis zum Schluss ungeklärt: «Wie kann man den Grünen im Bundestag dabei helfen, sich zu computerisieren?» Eine Antwort darauf gibt wiederum der Schriftsteller Peter Glaser, der sich in der gerade gegründeten Zeitschrift «Tempo» darüber Gedanken macht, wie ein Computer aussehen muss, dem auch Grüne vertrauen können: «Monitor, verschalt in Weichholz, mit indianischer Einlegearbeit aus Solarzellen, Tastatur in anthroposophisch verträglicher Knetmasse oder kuscheligen Hirtenteppich eingebettet. Und ein paar zusätzliche Tasten, um jedem eingetippten Hauptwort automatisch die weibliche Endung zuzufügen (‹Grüne/r›).» Glaser beschreibt, wie er an diesem Konstruktionsplan arbeitet und dabei dann bemerkt, dass «sich mehrere Grüne aus dem Bundestag auf dem Balkon meines Nachbarn Traugott versammelten, um nach Zukunftsperspektiven Ausschau zu halten. ‹Da›, rief einer und zeigte zu mir herüber, ‹Computer!› Ich warf mich über meine Tastatur. Lasst mir meine Leidenschaft! Verschont meine letzten Geheimnisse vor der fanatischen Debatte über die Verbesserung der Gesellschaft! Der Computer bleibt ein böses Instrument. Meines!»