Wir feiern eine Party, als wäre es 1999: Prince und eine Zukunft der sexuellen Entfesselung

Der junge Sänger und Gitarrist Prince Rogers Nelson aus Minneapolis wird erstmals Ende 1982 bei einem größeren Publikum bekannt, und zwar, passend zur allgemeinen Stimmung der Zeit, mit einem ausgesprochen apokalyptischen Song. Dieser trägt den Titel «1999» und beschreibt den bevorstehenden Weltuntergang. «Als ich heute Morgen erwachte, wähnte ich mich am Tag des Jüngsten Gerichts», heißt es darin, «der Himmel war purpurn, und die Menschen versuchten, vor der Vernichtung zu fliehen.» Das Thema des Kalten Kriegs und der atomaren Bedrohung findet sich schon vorher in den Liedern von Nelson, der seit dem vier Jahre zuvor erschienenen Debüt «For You» unter seinem ersten Vornamen Prince musiziert. Beispielsweise hat er auf seinem Album «Controversy» von 1981 den US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan dazu aufgefordert, die Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion nicht abreißen zu lassen: «Ronnie, Talk To Russia» heißt das Lied. Seither scheint seine Hoffnung auf eine friedliche Koexistenz der Großmächte aber geschwunden zu sein. «Um uns herum ist überall Krieg», singt Prince in «1999», «jeder besitzt eine Bombe / wir können alle jeden Tag sterben.»

Diese Beschreibung wird nun keineswegs im Klageton vorgetragen, im Gegenteil, das Stück beginnt mit einer freudigen Fanfare und geht sogleich in einen euphorischen Beat über, die Stimmung

Wenn nun aber das Ende der Menschheit, wie wir sie kennen, unmittelbar bevorsteht, kann man die verbleibende Zeit ebenso gut mit Feiern und Tanzen verbringen und mit beglückendem Sex: «We’re runnin’ out of time / so tonight I’m gonna party like it’s 1999.» Wobei der Sex, den Prince und seine Begleitband The Revolution hier besingen, beglückend wird durch seine Entfesselung und die Überschreitung überkommener Rollenmodelle: Wenn das Ende der Geschichte gekommen ist, dann endet damit auch die Herrschaft der Tradition und der Geschichte über das sexuelle Verhalten und über das Verhältnis der Menschen zu ihrem Sex und ihren Körpern.

Prince hat schon auf früheren Alben damit begonnen, in einem hohen, für einen männlichen Rocksänger völlig untypischen Falsett zu singen. Auf dem Cover seiner zweiten Platte «Dirty Mind» von 1980 zeigt er sich nur mit einem Tanga und einem Trenchcoat bekleidet. In einem seiner ersten Stücke, «I Wanna Be Your Lover» von 1979, phantasiert er sich durch die verschiedenen Rollen, die er für einen begehrten Menschen gerne einnehmen möchte: «I wanna be your brother / I wanna be your mother and your sister, too.» In «1999» inszeniert Prince sich nun ganz als androgyne Figur.

Die ersten Zeilen des Lieds werden – auch das ist unüblich für einen Rocksänger – gar nicht von Prince selber interpretiert,

Kurze Zeit später wird Prince endgültig zum Superstar aufsteigen, neben Michael Jackson und Madonna ist er der erfolgreichste und prägendste Popmusiker der achtziger Jahre. In «1999» findet sich freilich schon viel von dem, was seine Inszenierung als Künstler ausmacht: vor allem die Laszivität und die Eleganz, mit der er seine Geschlechtlichkeit zum Schillern bringt. Die gesamte Kunst von Prince ist hochsexualisiert, doch handelt es sich zugleich um eine Sexualität, die sich allen einfachen Zuordnungen entzieht. Sie steht ebenso unzweifelhaft im Zentrum der künstlerischen Inszenierung, wie sie ebendort rätselhaft und ungreifbar bleibt. Prince «ist» nicht erotisch in dem Sinne, in dem dies die großen Rockmusiker der siebziger Jahre gewesen sind; die Erotik ist nicht die Grundlage seiner Ästhetik, sondern vielmehr ein Effekt seiner ständig wechselnden Inszenierungen. In ein und demselben Stück kann er männlich und weiblich erscheinen, viril und effeminiert,

 

An Prince, einer exemplarischen Figur seiner Zeit, lässt sich eine entscheidende Verschiebung ablesen, die sich zwischen den siebziger und den achtziger Jahren vollzieht. Die Siebziger waren das Jahrzehnt der sexuellen Entfesselung und Befreiung, sexuelle Rollenmodelle wurden grundlegend in Frage gestellt. Der Second Wave Feminism und die Neue Frauenbewegung stritten für die Emanzipation der Frauen: für das Recht der Frauen, über ihre eigenen Körper zu bestimmen; für ein anderes, gerechteres Verhältnis zwischen den Geschlechtern; gegen die Repression durch das Patriarchat. Schwule und Lesben stritten gegen eine homophobe Gesellschaft. Alle gemeinsam und wesentlich auch alle für sich eroberten Freiräume, in denen sie ihre Sexualität ohne Angst ausleben konnten.

In den Achtzigern ist dieser Kampf um Anerkennung keineswegs an sein siegreiches Ende gelangt (er ist es ja, wie wir wissen, bis in unsere Gegenwart nicht). Aber er wird von neuen Reflexionen, neuen Zweifeln und Zielen begleitet und ergänzt. Der wichtigste dieser Zweifel betrifft die Frage, ob das Endziel, die Utopie der emanzipatorischen Kämpfe, wirklich schon darin bestehen kann, allen von der Norm abweichenden sexuellen Identitäten einen eigenen und sicheren Platz in der Gesellschaft zu verschaffen – oder ob es nicht, einen Schritt weiter gedacht, eigentlich darum gehen müsste, die Gesellschaft im Ganzen zu verändern und das ihr zugrunde liegende Konzept der Identität an sich zu hinterfragen. Die Männer müssen ihr Verhalten, ihre Stellung gegenüber den Frauen, ihre Privilegien überdenken, gewiss; damit haben sie ja, wenigstens in gewissen gesellschaftlichen Kreisen, etwa mit der Erfindung des

Man müsse sich von der Vorstellung verabschieden, dass es so etwas wie ein «wahres Geschlecht» oder eine «wahre Sexualität» gebe: Dies fordert der französische Philosoph Michel Foucault schon 1980 in einem Text, den er als Einleitung zu den wiederveröffentlichten Lebenserinnerungen des Hermaphroditen Herculine Barbin schreibt. Zwar habe die sexuelle Revolution der siebziger Jahre zu einer toleranteren Gesellschaft geführt und zu einem generell toleranteren Verhalten gegenüber allen Arten des zwischenmenschlichen Zusammenseins und Begehrens, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen und dem Modell der monogamen Ehe zwischen Männern und Frauen. Doch halte sich «in der öffentlichen Meinung» noch immer «die diffuse Vorstellung, dass zwischen Geschlecht und Wahrheit ein komplexes, dunkles, aber wesenhaftes Verhältnis besteht», so Foucault. «Ein ‹passiver› Mann, eine ‹virile› Frau, gleichgeschlechtliche Liebe – man ist zwar bereit, darin keinen gravierenden Verstoß gegen die herrschende Ordnung zu erblicken, aber ist doch auch bereit, sie gleichsam für einen ‹Irrtum› zu halten. Einen Irrtum im traditionell philosophischen Sinne als etwas, das der Realität nicht angemessen ist. Die

Man solle sich von der Vorstellung verabschieden, dass es so etwas wie ein «wahres Geschlecht» oder eine «wahre Sexualität» gibt: Das fordert der französische Philosoph Michel Foucault. Alle Arten der Identität hält er für ein Unglück: «Es ist sehr langweilig, immer derselbe zu sein», sagt Foucault im letzten Interview vor seinem Tod am 25. Juni 1984.

Dagegen plädiert Foucault dafür, die Begriffe der Sexualität und der Wahrheit voneinander zu entkoppeln und damit auch das Verständnis des sexuellen Begehrens von den Zurichtungen und Beschränkungen der sexuellen «Identität». Jegliche Identität, schreibt er, sei für ihn ein «Unglück», das den Menschen von den «zärtlichen

 

Michel Foucault stirbt am 25. Juni 1984. Am selben Tag erscheint das Album, mit dem Prince sein Durchbruch als internationaler Pop-Superstar gelingt: «Purple Rain». In «Darling Nikki», dem vielleicht bemerkenswertesten Stück darauf, berichtet er von der Begegnung mit einer Frau, die ihn in die Wonnen des sadomasochistischen Sexes einführt. Er trifft Nikki in der Lobby eines Hotels, als sie gerade über einem Magazin masturbiert; sie bietet ihm an, ein bisschen Zeit mit ihr zu verschwenden, und nimmt ihn dann mit in ihr «castle», in ihre Burg, wo Prince seinen Augen nicht trauen kann: «She had so many devices / everything that money could buy / she said ‹sign your name on the dotted line› / the lights went out, and Nikki started to grind.»

Nikki besitzt also viele Instrumente, die sich für sexuelle Rollenspiele gebrauchen lassen, für die lustvolle Unterwerfung und die Erzeugung von Schmerz. Bevor man sich auf ihre Spiele einlässt, muss man auf eine gepunktete Linie seine Unterschrift setzen: als Dokument des Einverständnisses darüber, dass alle Unterwerfung hier auf Freiwilligkeit gründet und dass man selber den

Als er am nächsten Morgen erwacht und feststellen muss, dass Nikki nicht mehr da ist, bricht er in ein endloses Schluchzen aus. Im Video des Songs wälzt er sich am Ende bäuchlings auf der Konzertbühne und wimmert und heult, er trommelt mit den Fäusten auf dem Boden herum wie ein Kind in der Trotzphase. Angesichts der Tatsache, dass seine Herrin ihn wortlos verlassen hat, ist er derart verzweifelt, dass er sich immer intensiver seiner leidenschaftlichen Lust am Leiden hingibt.

In dem letzten von ihm gegebenen Interview, das im August 1984 postum erscheint, spricht Michel Foucault über sadomasochistische Sexualpraktiken und die Verhältnisse zwischen Macht und Lust, die darin zur Erscheinung kommen. «Man kann sagen, dass SM die Erotisierung der Macht ist, die Erotisierung strategischer Beziehungen.» Doch anders als im Feld der gesellschaftlich institutionalisierten Macht seien die «strategischen Beziehungen zwischen den Individuen» hier nicht verfestigt, sondern im Gegenteil «fließend». «Es gibt Rollen, selbstverständlich, aber jeder weiß sehr wohl, dass diese Rollen umgekehrt werden können. Manchmal ist, wenn das Spiel beginnt, der eine der Herr, der andere der Sklave, und am Ende ist derjenige, der der Sklave war, zum Herrn geworden.» Dieser strategische, spielerische, grundsätzlich ambivalente Charakter des sadomasochistischen Sexes unterscheide ihn von allen anderen Formen der Sexualität – und auch von dem Verständnis des Sexuellen, wie es sich in den Emanzipationsbewegungen der späten sechziger und siebziger Jahre niedergeschlagen habe. Denn hier gehe es ja gerade nicht mehr darum, eine

Nun ist Prince’ «Darling Nikki» natürlich nicht der erste Rock- oder Popsong, in dem sadomasochistische Lust zu einem Thema wird. Das erste bedeutende Beispiel für dieses Genre liefert schon im Jahr 1967 die New Yorker Gruppe The Velvet Underground; ihr Song heißt «Venus in Furs» und ist von Leopold von Sacher-Masochs Novelle «Venus im Pelz» inspiriert. Der Sänger Lou Reed bekennt sich darin zu seinem Spaß am Erniedrigtwerden, wir erfahren, dass er gerne Stiefel aus gut gewichstem Leder küsst und sich von dominanten Frauen mit Lederriemen bestriegeln lässt. Auch in Reeds Solowerken der siebziger Jahre, etwa dem Songzyklus «Berlin» von 1973, spielt Sadomasochismus eine Rolle. Doch bleibt er mit seiner Leidenschaft in dieser Zeit weithin allein, und er ist auch weit davon entfernt, mit seiner Musik ein großes Publikum zu erreichen.

Es gibt einen weiteren wesentlichen Unterschied zur SM-Ästhetik von Prince: Bei The Velvet Underground und dem Solo-Künstler Lou Reed ist die Beschwörung «abseitiger» Sexualpraktiken immer auch mit einer Feier dieser Abseitigkeit verbunden; die Welt, von der Lou Reed erzählt, liegt im mysteriösen, sonderbaren, abweisenden, aber gerade darin stets erregenden Halbdunkel der Devianz. Die Welt, in der Prince sich bewegt, ist hingegen grell ausgeleuchtet, von Fanfaren beschallt und von dem Vertrauen darauf bewegt, im Überwinden überkommener sexueller Gegensätze und

In gewisser Hinsicht führt Prince damit das fort, was Lou Reeds zeitweiliger Wegbegleiter David Bowie Anfang der Siebziger begonnen hat: Wie Bowie wechselt Prince stetig die Identitäten; doch während Bowie diesen Wechsel zeitlich streckte (aus dem Folksänger von «Aladdin Sane» verwandelt er sich in das bisexuelle Alien Ziggy Stardust, aus diesem wiederum in den Thin White Duke und so weiter), verdichtet und beschleunigt ihn Prince erheblich. Die Verwandlungen, die sich bei Bowie über Jahre hinweg erstrecken, finden bei Prince in ein und demselben Moment statt. Er will alles auf einmal, das Spiel mit den Identitäten ist bei ihm nicht Gegenstand einer künstlerischen Entwicklung, sondern ein in jedem Augenblick sich neu justierendes Prisma.

Prince Rogers Nelson – hier auf seiner «Dirty-Mind»-Tour im Jahr 1981 – sieht im Stringtanga ebenso umwerfend aus wie im Rokoko-Purpurmantel, er ist männlich, effeminiert und queer zugleich. Nicht alle sind bereit für so viel Avantgardismus: Als Prince im Vorprogramm der Rolling Stones auftritt, wird er vom Publikum mit Bierflaschen und Essen beworfen.

So schlägt sich auch hier die neue Geschwindigkeit nieder, die das pulsierende Jahrzehnt der Achtziger charakterisiert. Beim breiten Publikum stößt diese Art des sexuellen Avantgardismus freilich zunächst nur auf geringes Verständnis. Das kann man etwa an den Reaktionen ablesen, die der junge Prince im Oktober 1981 bei einem Auftritt im Vorprogramm der Rolling Stones erntet. Mick Jagger, der Ende der sechziger Jahre ja selber gerne in Frauenkleidern aufgetreten ist, zählt zu den frühen Bewunderern des zu diesem Zeitpunkt noch mäßig bekannten dreiundzwanzigjährigen Künstlers; darum hat er ihn eingeladen, die Rolling-Stones-Show im Coliseum in Los Angeles zu eröffnen. Prince betritt mit einem durchsichtigen Oberteil, bis zum Oberschenkel reichenden Stiefeln und dem von «Dirty-Mind»-Cover bereits bekannten Tanga die Bühne. Die Rolling-Stones-Fans quittieren diesen Anblick, indem sie den Sänger und seine Band ausbuhen und mit Bierflaschen und Essen bewerfen. «Wie eine schwarze Wolke aus fliegendem Essen sah das aus», hat sich der damalige Bassist von The Revolution, Mark Brown, später erinnert. «Stell dir vor, 94000 Zuschauer

 

«Darling Nikki» wiederum ist auch deswegen von besonderem pophistorischem Interesse, weil dies die erste Single ist, die mit einem «Parental-Advisory»-Aufkleber versehen wird, also mit einem Warnhinweis für besorgte Eltern, die ihre Kinder vor dem Konsum von sittlich desorientierender Musik bewahren wollen. Den Impuls für diese Initiative gibt 1984 Tipper Gore, die Ehefrau des demokratischen Senators und späteren US-Vizepräsidenten Al Gore. Ihre seinerzeit elfjährige Tochter hat die Prince-Single gekauft und daheim vorgespielt. Zwar erregen die Passagen mit der Beschreibung des sadomasochistischen Sexes bei Tipper Gore keine besondere Aufmerksamkeit, vermutlich, weil sie gar nicht versteht, wovon Prince da eigentlich singt. Doch empört sie sich umso mehr über die Eingangsszene, in der das lyrische Ich in der Hotellobby auf die masturbierende Nikki trifft. Um die Jugend vor solchen Obszönitäten zu bewahren, gründet Tipper Gore das Parents Music Resource Center, PMRC, und veröffentlicht als Erstes eine Liste mit den fünfzehn moralverderbendsten Liedern der Gegenwart.

Unter diesen «Filthy 15» rangiert «Darling Nikki» auf Platz eins, danach folgen unter anderem die junge Madonna mit dem Stück «Dress You Up» und Cyndi Lauper mit der Masturbationshymne «She Bop» («I want to go south and get me some more / They say I better stop or I’ll go blind»), aber auch dem Okkultismus und der lyrischen Grobheit zugeneigte Heavy-, Black- und Schock-Metal-Gruppen wie Black Sabbath und Def Leppard. Die 1979 in Großbritannien gegründete Band Venom wird für das Lied «Possessed»

Es ist einer weiteren britischen Band vorbehalten, auf ein und demselben Langspielalbum beide Arten der Jugendverrohung und sittlichen Verderbnis miteinander zu kombinieren, also: gleichermaßen blasphemische Gedanken zu thematisieren wie die sadomasochistische Lust am Wechselspiel von Unterwerfung und Dominanz. Die Rede ist von Depeche Mode aus dem ostenglischen Basildon. Ihre Karriere haben die vier jungen Männer am Anfang des Jahrzehnts mit ebenso heiteren wie flotten Elektropop-Stücken begonnen. Doch wechseln sie schon auf ihrem dritten Album «Construction Time Again» von 1983 zu metallischen Klängen und groben Rhythmen, die so klingen, als wären sie mit Hämmern auf Ambosse gehauen. Manches davon erinnert an die Ästhetik der Einstürzenden Neubauten aus Westberlin, und tatsächlich haben Depeche Mode sich bei einem längeren Aufenthalt in der Mauerstadt von diesen inspirieren lassen. Für eine Weile teilen sich die beiden Bands sogar den Produzenten Gareth Jones. Doch wo die Neubauten sich als radikale Avantgardisten gerieren, streben Depeche Mode mit aller Energie einem Massenpublikum entgegen und in die Charts; im weiteren Verlauf der achtziger Jahre werden sie zur erfolgreichsten europäischen Popband aufsteigen.

Das Album, mit dem Depeche Mode der Durchbruch gelingt, erscheint wenige Monate nach Prince’ «Purple Rain», im September 1984. Die interessanteste Single-Auskopplung daraus trägt den Titel «Master and Servant», Herr und Knecht, und beginnt mit Geräuschen, die sich wie das Schnalzen einer Peitsche anhören, sowie mit einem Chor aus sonderbar entkörperlicht wirkenden Stimmen, weder männlich noch weiblich, sondern computerisiert

Wie Prince berichten Depeche Mode hier also von den Wonnen des Sadomasochismus und von der Freude am Spiel mit Unterwerfung und Dominanz; anders als Prince wollen sie darin aber auch einen Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse erkennen: «It’s a lot like life.» In dem dazugehörigen Video sieht man die Band in Lederbekleidung mit Ketten hantieren und sich auf dem Boden eines dunklen Raumes wälzen. Darüber werden Bilder von den Demonstrationen der Friedensbewegung Anfang der achtziger Jahre geblendet sowie von Politikern im Deutschen Bundestag. Man erkennt unter anderem Willy Brandt, Rainer Barzel und Hans-Dietrich Genscher. Eine Szene zeigt das gescheiterte konstruktive Misstrauensvotum gegen Brandt im Jahr 1972; die andere das erfolgreiche Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt, zehn Jahre später, das zur Kanzlerschaft Helmut Kohls führt.

«Domination’s the name of the game in bed or in life», singt Dave Gahan dazu: «They’re both just the same / Except in one you’re fulfilled at the end of the day.» Herrschaft ist der Name des Spiels, im Bett wie im Leben; aber nur aus einer der beiden Varianten des Spiels, jener im Bett, kann man am Ende Befriedigung ziehen. Wenn man, so ließe sich an dieser Stelle wiederum mit Michel Foucault anschließen, in der eigenen schöpferischen Praxis der Sexualität und der Erzeugung von neuen, bisher unbekannten Arten der Lust erst einmal erkannt hat, dass sich die Rollen von Herr und

Wie bei Foucault kommt bei Depeche Mode die Sexualität als schöpferische Kraft zur Erscheinung und als Medium der Erkenntnis; schöpferisch ist Sexualität immer dort, wo sie zur Auflösung überkommener Vorstellungen von Identität anregt und zur Kritik von Machtverhältnissen, die darauf gründen, dem Menschen einen unverrückbaren Platz in der Gesellschaft und in der Welt zuzuweisen. «Wenn wir zur Frage der Identität Stellung beziehen müssen», sagt Foucault in seinem letzten Interview, «so muss dies sein, insofern wir einmalige Wesen sind. Doch die Beziehungen, die wir zu uns selbst unterhalten, sind keine Identitätsbeziehungen; sie müssen eher Beziehungen der Differenzierung, der Schöpfung und der Innovation sein. Es ist sehr langweilig, immer derselbe zu sein.»

So wird hier freilich, unter dem Mantel des existenziellen Widerstands gegen eine von Normen besessene Gesellschaft, auch schon etwas anderes sichtbar, in dem spätere Generationen eine neue Art von Normierung, eine neue Art des Zwangs erkennen werden: der Imperativ zur stetigen Selbstneuerfindung und zur kreativen Gestaltung der eigenen Biographie. Für die neuen Formen des Kapitalismus, die sich in den achtziger Jahren durchsetzen, wird diese Zurichtung des Individuums zum unermüdlichen Innovator des eigenen Selbst von zentraler Bedeutung sein. Wer 1984 vielleicht noch glaubt, durch die Verflüssigung der Identität zum Herrn über die Verhältnisse werden zu können, wird darin bald schon auch eine neue Form der Knechtschaft erkennen.