Am 25. Juni 1984, um 13.15 Uhr, stirbt Michel Foucault im Hôpital de la Salpêtrière in Paris; zwei Wochen zuvor ist er in seiner Wohnung zusammengebrochen. Schon seit dem vorangegangenen Winter hat Foucault sich immer kranker und schwächer gefühlt, er leidet unter Erschöpfung, Fieber und trockenem Husten. Er sagt viele Verabredungen ab und kehrt doch regelmäßig wieder zurück in die Öffentlichkeit, bis Ende März hält er am Collège de France eine Vorlesung mit dem Titel «Der Mut zur Wahrheit». Zweimal teilt er dem Auditorium dabei mit, dass er sich krank fühlt; am 28. März beschließt er seine letzte Sitzung mit den Worten: «Il est trop tard. Alors, merci.» Es ist zu spät. Ich danke Ihnen.
Nach seinem Tod geben die Ärzte an der Salpêtrière eine Presseerklärung heraus, in der sie neurologische Komplikationen und eine Entzündung des Gehirns als Todesursache nennen. Durch die Gabe von Antibiotika sei kurzzeitig eine Besserung eingetreten, doch habe sich der Zustand dann wieder derart rapide verschlechtert, dass eine weitere Therapie nicht mehr möglich war. In den Nachrufen auf Foucault, die in den folgenden Tagen erscheinen, werden mal die Angaben dieses Kommuniqués übernommen, mal ist von einer seltenen Hirnkrankheit die Rede, oft wird aber auch gar nicht auf die Todesumstände eingegangen, oder sie werden als «ungeklärt» bezeichnet. Das «Time Magazine» spricht von Krebs. Schon zwei Tage nach dem Tod indes, am 27. Juni, veröffentlicht die Pariser Zeitung «Libération» eine anonyme Leserzuschrift: «Seit er gestorben ist, kursieren Gerüchte. Es heißt, dass Foucault an Aids gestorben ist.» An einer rätselhaften Immunschwächekrankheit mithin, die 1984 auch noch unter dem Namen «Krebs der Schwulen» firmiert.
Es ist in den Jahren und Jahrzehnten nach seinem Tod oft darüber spekuliert worden, ob Foucault von der Art seiner Erkrankung wusste; ob er sie absichtlich verschwiegen oder verdrängt hat oder ob er sich gar nach dem Tod sehnte, der 1984 und noch lange danach unweigerlich mit der Aids-Diagnose verbunden war. Sein Biograph Didier Eribon berichtet von einigen Bemerkungen, die der Kranke diesbezüglich in seinen letzten Monaten gemacht habe; gegenüber Vertrauten wie dem Religionshistoriker Georges Dumézil habe er die Vermutung geäußert, an Aids erkrankt zu sein. Der US-amerikanische Philosoph James Miller hat ihm in den neunziger Jahren in seinem Buch «Die Leidenschaft des Michel Foucault» sogar unterstellt, sich in seinen letzten Jahren absichtlich dem Todesrisiko ausgesetzt zu haben – wie auch die Männer, mit denen er in jener Zeit verkehrte.
Foucaults Lebensgefährte Daniel Defert, der ihn während der letzten Tage in der Salpêtrière begleitet hat, zeichnet ein anderes Bild. Foucault habe vielleicht eine Ahnung besessen, aber keine Gewissheit, denn es gab in dieser Zeit schlicht noch keine Tests, mit denen man sich auf Aids prüfen konnte. Schon im Dezember 1983, als Foucaults Zustand sich erstmals verschlechterte, habe er die behandelnden Ärzte danach gefragt, doch seien sie ihm ausgewichen: «Wenn es das wäre, hätte ich Sie untersucht!» Die gesamte Krankheit sei von Schweigen und Diskretion umgeben gewesen. Erst zwei Tage vor Foucaults Tod habe ein Assistenzarzt «ungeschickt Aids erwähnt», und hinterher entdeckte Defert auf einem von ihm unterschriebenen Aufnahmeschein durch Zufall die Bemerkung «Todesursache: Aids». Die zwei Tage aber, die ihm nach der Äußerung des Assistenzarztes mit dem sterbenden Foucault blieben, seien zu kurz gewesen, um noch mit diesem über die Konsequenzen der Diagnose zu reden. «Wenn die Krankheit länger gedauert hätte und offen zutage getreten wäre (doch die Ärzte hüteten sich, die volle Wahrheit zu sagen), hätten wir sicherlich darüber gesprochen, was man aus dieser Krankheit machen sollte. Aber wir haben nicht die Zeit dazu gehabt», so hat sich Defert sehr viel später, in dem 2014 (auf Deutsch 2015) erschienenen Gesprächsband «Ein politisches Leben», erinnert.
Nach Foucaults Tod entscheidet Defert sich dagegen, die von den Ärzten verschwiegene Diagnose öffentlich zu machen: «Ich konnte nicht etwas in die Welt setzen, indem ich seinen Namen benutzte, aber ich konnte auch nicht nichts tun.» Schließlich gründet er die Gruppe «AIDES», eine «Vereinigung zum Recht der Kranken auf die Wahrheit», eine «Gegenmacht zu den schlechten Praktiken im Krankenhaus». «Die Krankenschwestern in Astronautenanzügen, die roten Punkte auf den Blutproben von Aidskranken (…), eine allgemeine Furcht vor dem Patienten, eine Ablehnung des jeweiligen Lebensgefährten als Gesprächspartner (…), an Stelle einer allgemeinen Verbreitung der Vorsichtsmaßnahmen betrieb man eine Diskriminierung der Aidskranken.» Während Foucault noch in seinen letzten Schriften und Interviews die schöpferische, lebensstiftende Kraft der Sexualität hervorgehoben hat und ihr Vermögen, das eigene Dasein, die eigene Identität aus den Fesseln der gesellschaftlichen Norm zu befreien, kämpft sein Witwer Daniel Defert nun gegen die Diskriminierung der nicht normalen Sexualität im Angesicht des Todes. «Es ist dringend notwendig, unsere Form der Liebe bis zum Tod zu denken, was die Heteros seit langem institutionalisiert haben», schreibt er im September 1984 in einem offenen Brief, der der Gründung von AIDES vorausgeht: «Trennen wir unseren Tod ebenso wie unsere Sexualität von der Familie.»
Die ersten Fälle jener Krankheit, die später Aids (kurz für: Acquired Immune Deficiency Syndrome) genannt wird, verzeichnet man Anfang der achtziger Jahre in den USA, in New York und vor allem in Los Angeles und San Francisco, in der blühenden schwulen Club- und Ausgehkultur, in die auch Michel Foucault seit Mitte der siebziger Jahre immer wieder eingetaucht ist. Es sind sämtlich junge Männer, die unter einer schweren Störung ihrer Immunabwehr leiden; in deren Folge ziehen sie sich Pilzinfektionen und Lungenentzündungen zu, an denen sie schließlich sterben. Im Juli 1981 berichtet die «New York Times» erstmals über eine «seltene Krebsart» namens Kaposi-Sarkom, die ausschließlich Homosexuelle ereilt. Was deren Ursachen sind, ist ebenso rätselhaft wie die Tatsache, dass dieser Krebs sich nur in einer bestimmten Bevölkerungsgruppe ausbreitet, also – anders als Krebs üblicherweise – ansteckend zu sein scheint. Zu diesem Zeitpunkt sind in den USA 41 Fälle bekannt. Ein knappes Jahr später, im Mai 1982, berichtet die «New York Times» von 335 infizierten Patienten und 136 Todesfällen. Die Krankheit, die nunmehr «die Ausmaße einer Epidemie» angenommen habe, firmiert inzwischen unter dem Namen GRID, kurz für: «gay-related immunodeficiency», schwulenbezogene Immundefizienz.
Im Oktober 1982 feiert der DJ und Produzent Patrick Cowley im Club Galleria in San Francisco die Veröffentlichung seines dritten Albums, «Mind Warp». Zugegen ist die gesamte, große und glamouröse Schwulenszene, die sich vor allem im Viertel The Castro angesiedelt hat. Schon seit Mitte der Siebziger gehört Cowley zu den prägenden Protagonisten der Disco-Musik. Sein wesentliches Element ist der Synthesizer, wobei er diesen – anders als damals noch die meisten seiner Zeitgenossen – nicht zur Imitation analoger Instrumente gebraucht, sondern zur Erzeugung neuer, futuristischer Klänge. Er steigert das Tempo der Musik und verdichtet ihre Dynamik, seine Songs scheinen sich vom ersten Moment an auf dem höchsten Energielevel zu bewegen. Darum wird die von ihm erfundene Disco-Variante später «Hi-NRG» heißen (und hat damit nicht zuletzt auch diesem Buch seinen Titel gegeben).
1977 hat Cowley für die Drag-Queen Sylvester eine der großen emanzipatorischen Hymnen des Jahrzehnts geschrieben, «You Make Me Feel (Mighty Real)», 1981 komponiert er mit «Menergy» den beliebtesten Dancefloor-Feger der schwulen Clubszene – und inspiriert damit viele Elektropopbands, die ihre Karrieren Anfang der achtziger Jahre beginnen, von New Order über die Pet Shop Boys bis zu Frankie Goes To Hollywood. Bei der Party zur Feier von «Mind Warp» tritt der große androgyne Sylvester in Drag-Fummel auf, ebenso wie Cowleys zweite Muse, der Disco-Sänger Paul Parker, ein kräftiger, testosteronverströmender Schnurrbartträger, der – bekleidet mit einer engen schwarzen Lederhose und einem schwarzen Tanktop – unmittelbar aus einem Pornogemälde des Zeichners Tom of Finland entsprungen sein könnte. «Right on Target» heißt der Dancefloor-Hit, den Cowley gerade für ihn geschrieben hat.
Beim Anblick von Paul Parker und Sylvester nebeneinander erhält man ein Bild davon, welche Vielfalt an sexuellen und ästhetischen Ausdrucksformen die schwule Kultur der späten Siebziger und frühen Achtziger umfasst. Vielleicht könnte man sagen: Hier versammelt sich eine Familie von Menschen, die gerade dadurch zu einer Familie wird, dass sie «das Verhältnis zwischen Geschlecht und Wahrheit» entkoppelt, wie es Foucault im selben Jahr, 1982, zum Inbegriff der wahren sexuellen Emanzipation erklärt: eine Familie, die zu den «zärtlichen Freuden» einer «sexuellen Identitätslosigkeit» gefunden hat.
Patrick Cowley sieht sich diese Freuden von einer Empore aus an, er sitzt im Rollstuhl und ist schon so schwach, dass er sich kaum noch bewegen kann. Seit Ende des vorangegangenen Jahres befindet er sich in Behandlung wegen der Immunschwäche, die nun um sich zu greifen beginnt. Der Produzent Marty Blecman, mit dem er das Plattenlabel Megatone betreibt, erinnert sich später an diese Szene: «Ihm liefen Tränen die Wangen hinunter, und er sagte: Those stupid queens, don’t they know?» Einen Monat später ist Patrick Cowley tot, und von den Menschen, die an diesem letzten Abend mit ihm in der Galleria gefeiert haben, wird kaum jemand das nächste Jahrzehnt überleben. Sylvester stirbt 1988 an Aids, Marty Blecman 1991.
In Deutschland ist die Krankheit zu diesem Zeitpunkt noch ein «Schreck von drüben»: So heißt jedenfalls der erste Artikel zum Thema, der im Mai 1982 im «Spiegel» veröffentlicht wird. «Eine Reihe geheimnisvoller, nicht selten tödlicher Krankheiten sucht Amerikas Homosexuelle heim», heißt es darin. Die Ursachen seien noch nicht bekannt, aber wohl in den «Bräuchen der Homosexuellen-Szene» zu suchen. Schuld könnte zum Beispiel «das unter Homosexuellen weitverbreitete Hasch-Rauchen» sein; oder dass Schwule «sich mit ‹Poppers› in Hochform bringen. Das sind nitrithaltige Drogen, in Beißkapseln eingearbeitet, von denen angenommen wird, daß sie aus einem Orgasmus einen Super-Orgasmus machen. Diese Glaubenssache wird womöglich teuer bezahlt, denn Nitritmißbrauch schädigt die Blutzellen – auch jene, die der Infektabwehr dienen.» Eine Rolle spielen könnten schließlich «entzündungshemmende Cortison-Salben», die von den prinzipiell promisken Schwulen dazu benutzt würden, «die allfälligen Schleimhautdefekte schneller zum Abheilen zu bringen». «Vielleicht ist das die Lustseuche des 20. Jahrhunderts, nur nicht so harmlos», zitiert der «Spiegel» den Bakteriologen Franz Fehrenbach vom Berliner Robert-Koch-Institut. Er fasst die Lage in einem «moralischen Merksatz» zusammen: «Für die Homosexuellen hat der Herr immer eine Peitsche bereit.»
Dabei ist, als dieser Artikel erscheint, eigentlich schon klar, dass sich die Krankheit nicht auf homosexuelle Männer beschränkt, sondern auch bei Empfängern von Bluttransfusionen und heterosexuellen Drogenabhängigen auftritt. Bei einer Konferenz im Juli 1982 einigen sich die beteiligten Mediziner und Medizinerinnen auf die bis heute gängige Beschreibung als Aids. Anfang 1983 kommt der «Schreck von drüben» auch in Deutschland näher, im Februar wird im «Deutschen Ärzteblatt» über die ersten Fälle in der Bundesrepublik berichtet; der Bundesgesundheitsminister Heiner Geißler sagt der «gefährlichen Krankheit» im Mai den Kampf an.
Im selben Monat widmet der «Spiegel» der «tödlichen Seuche» erstmals eine Titelgeschichte – und bestimmt damit weiter den Tonfall, in dem über Aids geredet wird. Auf dem Cover des Magazins sieht man in einer Art Schwarzlicht-Röntgen-Bestrahlung zwei nackte Männer, die sich gerade gegenseitig befriedigen. Das Genital des dem Betrachter zugewandten Mannes wird von einer kreisförmigen Abbildung verdeckt, die bedrohliche Zellklumpen oder vielleicht auch Viren unter einem Mikroskop zeigt. «Droht eine Pest?», heißt es im dazugehörigen Text des Redakteurs Hans Halter mit dem Titel «Eine Epidemie, die erst beginnt». «Wird Aids wie ein apokalyptischer Reiter auf schwarzem Ross über die Menschheit kommen? Ist eine moderne Seuche in Sicht, die sich zu Tod, Hunger und Krieg gesellen wird, wie einst im Mittelalter? Oder werden nur die homosexuellen Männer daran glauben müssen?»
Aids als «Schwulenpest»: Diese Formulierung des «Spiegel» wird bis Mitte der Achtziger zu einem geflügelten Wort. Dabei lässt die Begriffsschöpfung offen, ob Schwule vornehmlich als Opfer der Pest betrachtet werden oder nicht vielmehr als deren Überträger, also wie die Lieblingstiere der Punks, die Ratten, und andere unreine Geschöpfe, die es auszurotten gilt, um ein Übergreifen der Seuche auf «die Menschheit» zu verhindern.
Als kurz darauf, im Juni 1983, das Thema erstmals im Bundestag diskutiert wird, gibt die Parlamentarische Staatssekretärin Irmgard Karwatzki auf eine kleine Anfrage der SPD eine zweigeteilte Antwort. Einerseits betont sie die Bedeutung der medizinischen Ursachenforschung, der Prävention und Aufklärung; andererseits verweist sie auf Paragraph sieben des Bundesseuchengesetzes: Dieser gebe «der Bundesregierung die Möglichkeit, die Meldepflicht übertragbarer Krankheiten auszudehnen, soweit die epidemiologische Lage dies erfordert». Im Falle einer eskalierenden Krise ist es also denkbar, dass sich alle Mitglieder der Risikogruppe registrieren lassen müssen.
Diese bedrohliche Perspektive passt gut zu der «zwischen Bestrafungsphantasien und apokalyptischen Seuchenängsten» changierenden Berichterstattung des «Spiegel», wie es der Journalist Martin Reichert in seinem 2017 erschienenen Buch «Die Kapsel. Aids in der Bundesrepublik» formuliert. «Eine Minderheit, die sich gerade erst im Gefolge der Studenten- bzw. Bürgerrechtsbewegungen einigermaßen emanzipiert hatte, wurde ganz konkret von dieser neuen ‹Pest› bedroht und sollte jetzt für den künftigen Niedergang verantwortlich sein.» Am äußeren Rand des konservativen politischen Spektrums wird denn auch bald eine «Absonderung» der Schwulen gefordert; dafür plädiert der CSU-Bundestagsabgeordnete Erich Riedl. Der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair stellt im Februar 1987 in einem Fernsehinterview klar, dass Homosexualität nichts anderes als «krankhaftes Verhalten» ist, «contra naturam, nicht nur contra deum». Darum könne es in der aktuellen Lage «nicht um noch mehr Verständnis für Randgruppen gehen, sondern nur darum, sie auszudünnen (…). Diese Randgruppe muss ausgedünnt werden, weil sie naturwidrig ist.» Folgerichtig stellt der sozialpolitische Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, der damals sechsunddreißigjährige Abgeordnete Horst Seehofer, die Forderung auf, «Infizierte und Kranke» in «speziellen Heimen zu konzentrieren».
Das geht dann selbst dem «Spiegel» zu weit. «Wollen wir den Aids-Staat?», heißt es in einem Kommentar im März 1987, und auch die «Bild»-Zeitung nennt den von der bayerischen Landesregierung zeitgleich vorgestellten «Maßnahmenkatalog» zur Eindämmung der Aids-Epidemie ein «Gesetz zum Fürchten». Dieser Katalog, der maßgeblich von dem CSU-Staatssekretär Peter Gauweiler entworfen worden ist, sieht eine weitreichende Kontrolle und Registrierung der Risikogruppen vor und eine Vielzahl von repressiven Maßnahmen. Noch einmal ein Zitat aus dem Spiegel: «Bewerber für den öffentlichen Dienst und Strafgefangene sollen zwangsuntersucht werden, Ausländer mit Test-Ergebnis HIV-positiv keine Aufenthaltsgenehmigung bekommen. Jeder ‹Ansteckungsverdächtige›, das kann einer mit 14 und einer mit 84 sein, soll nach Ermittlungen durch die Polizei oder aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung zwangsvorgeführt werden können.» – «Wir lassen niemand ungeschoren», so lässt sich Peter Gauweiler zitieren.
Mit dieser politischen Initiative hat die CSU keinen Erfolg. Auch die von ihrer Schwesterpartei CDU regierten Bundesländer stimmen im Bundesrat dagegen, dass der Maßnahmenkatalog deutschlandweit die Aids-Politik bestimmen soll. Dennoch lässt sich hier ein Eindruck davon gewinnen, wozu ein von Law-and-Order-Vertretern geführter Staat fähig sein könnte, wenn er sich von «Randgruppen» bedroht fühlt – einerseits. Andererseits führt gerade die homophobe Politik der bayerischen Landesregierung zu einer enormen politischen Mobilisierung, auch weit über die «Schwulenszene» hinaus. Am 4. April 1987 demonstrieren zehntausend Menschen auf dem Münchener Marienplatz gegen den Maßnahmenkatalog.
Geprägt wird die bundesdeutsche Aids-Politik seit 1985 glücklicherweise nicht von Kräften wie Gauweiler, Seehofer oder ihrem Ziehvater, dem bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, sondern von der Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth. Bis sie 1988 von Helmut Kohl auf das Amt der Bundestagspräsidentin weggelobt wird, hat sie «Enormes geleistet», wie Martin Reichert in seinem schon erwähnten Buch «Die Kapsel» konzediert: «Gegen den Willen ihrer Partei setzte sie die Propagierung der Kondomnutzung zu Präventionszwecken durch, sie initiierte die Gründung der Nationalen Aids-Stiftung, die später mit der Deutschen Aids-Stiftung fusionierte, deren Ehrenvorsitzende sie ist. Ihr ist es zu verdanken, dass in Deutschland eine höchst erfolgreiche Strategie der Prävention und Aufklärung angewandt wurde, die die Betroffenen in hohem Maß mit einbezog – und nicht das autoritäre Modell, das mit dem Namen Peter Gauweiler und seinem ‹Maßnahmenkatalog› verbunden ist.»
Als Süssmuth 1985 ihr Amt antritt, ist es Forschungsteams in Frankreich und den USA gerade gelungen, eine Virusinfektion als Ursache der Erkrankung nachzuweisen. Die von ihnen isolierten Viren nennen sie LAV (in Frankreich) und HTLV-III (in den USA). Später zeigt sich, dass beide identisch sind; 1986 setzt sich die Bezeichnung als HIV, Humanes Immundefizienz-Virus, durch. Es wird deutlich, dass das Virus vor allem durch Blut und Sperma übertragen wird. Das heißt einerseits, dass man sich tatsächlich durch bestimmte Sexualpraktiken gefährdet, bei denen Blut und Sperma miteinander in Berührung kommen, also beim Anal- und Oralverkehr; aber andererseits heißt es eben auch, dass man das Infektionsrisiko durch «sicheren Sex» erheblich verringern kann.
«Safer Sex»: Dieser Begriff wird erstmals 1983 von den Autoren Richard Berkowitz und Michael Callen in ihrem Buch «How to Have Sex in an Epidemic» gebraucht. Noch bevor überhaupt abschließend geklärt ist, auf welche Weise sich das Virus tatsächlich verbreitet, geben die beiden schwulen Männern Ratschläge für «medizinisch sicheren Sex». Unter anderem empfehlen sie den Gebrauch von Kondomen, eines Verhütungsmittels, das Schwule bis dahin so gut wie gar nicht gebrauchen. Auch im heterosexuellen Geschlechtsverkehr spielt es seit den sechziger Jahren keine wesentliche Rolle mehr, nachdem Frauen sich mit der Antibabypille vor einer ungewollten Schwangerschaft schützen können und heterosexuelle Männer dadurch zu der Ansicht gelangt sind, dass Verhütung Frauensache ist.
Das ändert sich nun. «Kondome schützen»: So heißt es in einer Broschüre, die die 1983 in Westberlin gegründete Deutsche Aids-Hilfe im Juli 1985 verteilt. Darin klärt sie über die Krankheit und über die häufigsten Übertragungswege auf und empfiehlt unter dem Stichwort «Vorbeugung», sich auf solche Sexualpraktiken zu beschränken, «bei denen Körperflüssigkeiten des Partners nicht auf Schleimhäute von Mund, Augen, After und Vagina sowie in kleine Wunden (Fingernagelbett) gelangen. Dies lässt sich zum Beispiel durch die Verwendung von Kondomen in stabiler Ausführung erreichen.»
Die Broschüre wird viel gelesen. Noch erfolgreicher ist freilich ein Comic, der ebenfalls im Sommer 1985 von der Deutschen Aids-Hilfe herausgegeben wird. Er trägt den Titel «Safer Sex Comic 1 – Der Verhüter» und stammt von dem fünfundzwanzigjährigen Zeichner Ralf König, der seit Anfang der Achtziger mit humorvollen Comic-Geschichten aus der schwulen Szene reüssiert hat. Auf dem Cover des zwölfseitigen Heftchens sieht man einen erigierten Penis, auf dessen Eichel ein zusammengerolltes Kondom liegt wie eine Krone. «Wer das Pech hat, hetero zu sein, kennt das Problem schon seit Urzeiten», steht über dem ersten Bild, das einen grimmig guckenden Mann zeigt, der sich auf den Sex mit einer neben ihm liegenden Frau vorbereitet: «Sie verträgt die Pille nicht, die Spirale ist eh das Allerletzte, und der Schaum brennt. Was bleibt, ist der männliche Griff zum Pariser.» Auf diese eher trostlos wirkende Szene folgt ein Panel mit einer Gruppe schwuler nackter Männer, die es sich miteinander gutgehen lassen: «Wir Schwulen hatten damit naturgemäß keine Probleme, denn bei uns gab es nichts zu verhüten.» Aber die Zeiten haben sich bekanntlich geändert: «Das sorglose Rumbumsen gehört leider der Vergangenheit an.»
Man könne also entweder auf alles verzichten, was Spaß macht, oder den Kreis der Sexualpartner erheblich einschränken; für wen beides nicht in Frage komme, dem bleibe nur «das altbewährte Mittel unserer heterosexuellen Kollegen», das Kondom. «Das ist natürlich anfangs etwas ungewohnt», lautet schließlich der Kommentar über einem Bild mit zwei nackten Männern, die nun genauso verklemmt und unglücklich wirken wie das heterosexuelle Paar zu Beginn. «Ich werd noch wahnsinnig!!! Ich krieg dieses Ding da nicht drauf!!!», flucht einer von ihnen, während der andere traurig mit einem schlaff nach vorn herabhängenden Kondom in der Ecke sitzt. «Aber auch das wird sich legen, und schon bald wird das Anlegen des Gummis Routinesache», lesen wir im nächsten Panel mit zwei nun wieder recht fröhlich wirkenden Lederkerlen: «Keiner streift das Ding so geil auf wie du, Karl Heinz!!!»
Die Bedeutung der «Safer-Sex»-Comics – nach dem großen Erfolg des ersten Teils wird eine Reihe daraus – lässt sich kaum überschätzen. Sie führen nicht nur unter schwulen Männern dazu, dass sich der Gebrauch des Kondoms beim Sex als selbstverständliche Schutzmaßnahme etabliert. Sie werden ebenso viel gelesen von heterosexuellen Jugendlichen, die sich – wie der Verfasser dieser Zeilen, 1985 gerade sechzehn Jahre alt geworden – in dieser Zeit erstmals an das große Mysterium und Abenteuer Geschlechtsverkehr heranwagen. Auch unter den «Heten» hat die Epidemie zu einer tiefgreifenden Verunsicherung geführt, wenngleich die Fallzahlen jenseits der Risikogruppen jedenfalls in Westdeutschland minimal bleiben. Bei den Teenagern setzt sich in der zweiten Hälfte der Achtziger – anders als bei den Generationen zuvor, die im sexuell entfesselten Jahrzehnt der Siebziger sozialisiert wurden – das Bewusstsein durch, dass Sex etwas ist, das mit einem gesundheitlichen Risiko verbunden ist, mit Gefahr und der Verantwortung für sich selber und für den Sexpartner oder die Sexpartnerin. Wie man mit diesem Risiko und mit dieser Verantwortung umgeht: Dafür gibt es für die Hetero-Mehrheit aber keine vergleichbaren Anleitungen, und schon gar keine, die so lustig und liebevoll gezeichnet sind wie die Comics von Ralf König – in denen die Anpassung an die «geänderten Zeiten» so selbstverständlich und gleichermaßen optimistisch und lustvoll bebildert wird.
Eine ganze Generation von Heterojugendlichen verdankt ihre sexuelle Aufklärung in dieser Zeit also wesentlich den Schwulen. Wer sich dafür interessiert, wie das Überstreifen eines Kondoms nicht zur peinlichen Unterbrechung wird, sondern zu einem selbstverständlichen, lustigen und vielleicht sogar luststeigernden Element der erotischen Dramaturgie – der oder die liest die Comics von Ralf König. So geraten die sexuellen Praktiken der von einer Epidemie bedrohten «Randgruppe» in der zweiten Hälfte der Achtziger in das Zentrum der jugendlichen Selbstaufklärung, und das heißt auch, dass sich viele «Heten» von vornherein nicht mehr als natürlichen sexuellen Normalfall betrachten, sondern als Menschen mit einer Orientierung, die gleichberechtigt unter vielen steht – und die vielleicht sogar etwas langweiliger und komplizierter ist als das, was eine oder einen am (wie es in der Generation davor noch hieß) «anderen Ufer» erwartet.
Nicht nur von der Deutschen Aids-Hilfe und in Publikationen, die sich ausdrücklich an schwule Männer richten, wird nun zum Gebrauch von Kondomen geraten. Auch die «Bild»-Zeitung und Magazine wie «Quick» oder «Stern» fordern die Leser und Leserinnen dazu auf. Schon im Jahr 1985 freut sich das Management des Beate-Uhse-Konzerns über eine deutliche Steigerung des Umsatzes mit Kondomen. Der Marktführer bei der Produktion, die im niedersächsischen Zeven beheimatete MAPA Gummi- und Plastikwerke GmbH, meldet im selben Jahr eine Verdopplung. Im Jahr 1984, so die Statistik der «Deutschen Latex-Forschungs- und Entwicklungsgemeinschaft», werden in der Bundesrepublik 84 Millionen Kondome verkauft, drei Jahre später sind es bereits 149 Millionen. Während 1984 in einer Befragung nur 24 Prozent angeben, mit Kondomen bereits Erfahrungen gesammelt zu haben, sind es 1989 schon 75, weitere zehn Jahre später gar 93 Prozent.
Damit ist es auch unter Heterosexuellen nicht mehr selbstverständlich, dass die Schwangerschaftsverhütung allein in den Zuständigkeitsbereich der Frauen fällt. Und auch Männer dürfen sich nun dafür verantwortlich fühlen, dass Frauen sich beim Sex keine Krankheiten zuziehen. Ende der Achtziger ist das Kondom generell üblich geworden, und jedes Paar, das es bis auf weiteres ernst meint mit einer monogamen Beziehung, geht zur Bekräftigung dieses Commitments gemeinsam zu einem Aids-Test, um dann erst nach einem doppelten Negativ-Ergebnis auf die «Verhüterli» zu verzichten. Es ändert sich im Verlauf der Epidemie also nicht nur etwas am Verhältnis zwischen den Schwulen und der restlichen Gesellschaft, sondern auch an den Beziehungen zwischen heterosexuellen Männern und Frauen. Die Stigmatisierung von Aids als Krankheit der «anderen» führt dazu, dass sich eine ganze Generation sexuell erwachender Menschen in diesen «anderen» wiedererkennt.
Die Härte, mit der jedenfalls Teile des politischen Konservatismus gegen die – wie man heute sagen würde – als «super spreader» verdächtigten Schwulen vorgehen wollen, tut ein Übriges für die Solidarisierung. Anderthalb bis zwei Jahrzehnte nach der «sexuellen Befreiung» wird Sex wieder zu einem politischen Feld; wobei es in dieser Neuauflage der Emanzipation eben nicht mehr nur um die Befreiung geht, sondern auch um den respekt- und verantwortungsvollen Umgang zwischen den Menschen, die miteinander Sex haben. So trägt die Aids-Epidemie auch dazu bei, dass die Verständigung über den Sex, das Reden darüber, offener und selbstverständlicher wird. Nicht zufällig werden die Schriften Michel Foucaults – vor allem sein Spätwerk über «Sexualität und Wahrheit» – erst Ende der Achtziger in Deutschland wirklich entdeckt; nicht zufällig beginnt nun auch eine politische Theorie wirksam zu werden, die im Sinne des späten Foucault das Sexuelle nicht als naturgegeben betrachtet, sondern als etwas Schöpferisches; als etwas, das erfunden – oder wie man dann sagt: «konstruiert» – ist und das es immer wieder neu zu erfinden, zu konstruieren und zu dekonstruieren gilt.
Aids als ein Motor für die sexuelle Befreiung: Ich bin mir im Klaren darüber, dass diese Feststellung auch frivol wirkt angesichts des unermesslichen Leidens, das die Krankheit in den achtziger und auch noch neunziger Jahren über schwule Männer gebracht hat; angesichts der Ängste, die positive Aids-Diagnosen erzeugen, die in dieser Zeit immer noch gleichbedeutend mit Todesurteilen sind; angesichts der Diskriminierung, die schwule Männer durch die Öffentlichkeit erfahren und viele auch durch ihre Familien, für die ein an Aids erkrankter oder gestorbener Sohn vor allem eine Schande bedeutet. Diese Erfahrung hat eine ganze Generation traumatisiert, das hat Martin Reichert in seinem schon mehrfach zitierten Buch «Die Kapsel» eindrucksvoll dargelegt.
Aids als ein Motor für die sexuelle Befreiung: Das heißt auch, dass sich hier ein weiteres Beispiel dafür findet, wie Emanzipation und Befreiung in den achtziger Jahren vielfach zusammenhängen mit Angst. Der Widerstand gegen eine als ungerecht empfundene Welt erwächst – anders als noch in den utopischen sechziger Jahren und wenigstens in Teilen der Siebziger – nicht aus dem positiven Willen zur Veränderung der Welt, aus einer Verfassung, die sich als innovativ und avantgardistisch begreift. Sondern aus der Angst vor einer kommenden oder schon eingetretenen Katastrophe, aus der Angst vor dem Atomkrieg und dem Super-GAU in Atomkraftwerken, aus der Angst vor dem Kollaps der Ökosysteme und eben aus der Angst vor der Aids-Epidemie, aus der Angst vor der staatlichen Repression, die auf diese Epidemie folgt und mit der neuerlichen Stigmatisierung einer Minderheit verbunden ist, die sich bereits für befreit gehalten hat.
Der Kampf gegen Aids ist ein Kampf gegen die Angst – und auch ein Kampf gegen die Scham. Darum, so schreibt der französische Philosoph Jean-Paul Aron kurz vor seinem Aids-Tod 1988 in einem Text für die Zeitung «Le Nouvel Observateur», habe ihn das Schweigen seines einstigen Weggefährten Foucault auch so verstört. «Foucault war ein Mensch der Sprache, des Wissens und der Wahrheit, keineswegs des Erlebens und des Empfindens. Auch er war homosexuell, schämte sich dessen, lebte es aber dennoch manchmal auf unvernünftige Weise aus. Sein Schweigen angesichts der Krankheit hat mich aufgebracht, weil es einem Schamgefühl entsprang, es war nicht das Schweigen eines Intellektuellen. Das widersprach so sehr all dem, was er verfochten hatte!»